Regionale Produkte – eine Erfolgsgeschichte

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Nahrungs- und Genussmittel wie Obst und Gemüse, Milchprodukte, Brot, Fleisch und Wein, die mit einem regionalen Label gekennzeichnet sind, werden in der Schweiz immer beliebter. Zu verdanken ist dieser Erfolg Tausenden von Landwirtinnen und Landwirten, Lebensmitteldetailhändlern, privaten Non-Profit-Organisationen, Zwischenhändlerinnen und -händlern, handwerklichen und industriellen Verarbeitern, Logistikunternehmen und nicht zuletzt den Konsumentinnen und Konsumenten. Anteil am Erfolg haben auch verschiedene Förderprogramme der Landwirtschafts- und Regionalpolitik, mit denen der Bund und die Kantone viele Projekte entlang der gesamten regionalen Wertschöpfungskette unterstützen. Der regionale Boom hat inzwischen auch touristische Angebote und Non-Food-Produkte erfasst. Er dürfte sich weiter verstärken, zumal sich die nachhaltige regionale Produktion mit den Zielen einer zukunftsfähigen Kreislaufwirtschaft deckt.
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Der Kopfsalat im Migros-Shop in Luzern ist taufrisch. Die Etikette verrät, dass er unmittelbar vor den Toren der Stadt geerntet worden ist. Das Blattgemüse ist eines von mittlerweile rund 18’500 zertifizierten regionalen Produkten, die schweizweit im Lebensmitteldetailhandel und auf den Märkten erhältlich sind. Das Segment boomt. Gemäss der Studie «Regionalprodukte 2022» der htp St. Gallen, eines Spin-offs der Universität St. Gallen, und dem Marktforschungsinstitut LINK in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) legten die Verkäufe in diesem Bereich zwischen 2015 und 2020 jährlich um 10 Prozent zu. Der damit erzielte Umsatz dürfte die Schwelle von 2,5 Milliarden Franken überschritten haben. «Regionale Produkte sind der wachstumsstärkste Sektor im Food-Bereich», erklärt Stephan Feige, Co-Autor der Studie und Leiter der Fachstelle für authentische Markenführung an der HWZ. Das rasante Wachstum widerspiegelt die erfolgreiche Marketingstrategie der Grossverteiler Migros und Coop. Doch es basiert ebenso auf dem Engagement von Tausenden von Bäuerinnen und Bauern, die in der Produktion für den notwendigen Nachschub sorgen. «Regionalprodukte sind längst keine Nische mehr. Vom Jura über die Alpen bis ins Tessin oder vom Bodensee bis zum Genfersee – überall gibt es Erfolgsgeschichten», sagt Gabi Dörig-Eschler, Geschäftsführerin des Vereins Schweizer Regionalprodukte (VSR). Dabei erzielen die rund 2800 Produzentinnen und Produzenten, die bei ihrem Sortiment auf die VSR-Kennzeichnung als Regionalprodukt «regio.garantie» setzen, einen Umsatz von 1,7 Milliarden Franken pro Jahr.

Ein blauschimmeliges Zufallsprodukt als Auslöser

Als Wegbereiter für regionale Produkte gilt das Siegel Appellation d’Origine Contrôlée (AOC) für die kontrollierte beziehungsweise seit 2011 Appellation d’Origine Protégée (AOP) für die geschützte Ursprungsbezeichnung. Dieses Siegel für die geografische Herkunft bestimmter Spezialitäten blickt auf eine lange Geschichte zurück. Bereits im 15. Jahrhundert erhielten in Frankreich die Bewohnerinnen und Bewohner von Roquefort ein königliches Monopol für die Herstellung des legendären Blauschimmel-Käses aus dem Zentralmassiv. 1925 wurde dieses Produkt per Dekret gesetzlich geschützt. Viele europäische Länder handeln inzwischen bei ihren berühmtes­ten regionalen Spezialitäten nach französischem Vorbild. Sie kennzeichnen sie entweder mit dem Qualitätszeichen AOC oder mit IGP (Indication géographique protégée/geschützte geografische Angabe).

1999 lancierte die Migros-Genossenschaft Luzern mit «Aus der Region. Für die Region» ein eigenes regionales Programm. Bald übernahmen andere Migros­Genossenschaften das Konzept. 2005 zogen Volg mit «Feins vom Dorf» und 2014 Coop mit «Miini Region» nach, worauf als nächste Detailhändler 2016 die Landi («Natürlich vom Hof»), im Sommer 2022 Aldi mit «Saveurs Suisses» und wenig später Lidl Schweiz mit «Typisch» auf den Zug aufsprangen. Bei den Regio­nalprodukten abseitszustehen, kann sich heute keine Händlerin, kein Händler mehr leisten.

Die Treiber der Entwicklung

Der Boom beruht auf mehreren Faktoren. Stephan Feige erklärt: «Regionalität liegt bei einem rasch wachsenden Teil der Bevölkerung im Trend. Ein Grund dafür ist die Suche nach Authentizität und Herkunft, auch als Reaktion gegen die Globalisierung.» Die Konsumentinnen und Konsumenten verknüpfen mit den regionalen Produkten Qualität und Identität, ausserdem ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Vor allem Frauen assoziieren laut der HWZ-Studie damit überdies Werte wie soziale Wertschöpfung, Fairness und Tierwohl. Ein weiteres Argument ist die Rückverfolgbarkeit der Produkte, die dank Transparenz und der Nähe zum Produzenten Ver­ trauen schafft. Die Metzgerei Meaty in Genf und Lausanne beispielsweise verkauft ausschliesslich Fleisch von Landwirtschaftsbetrieben aus der Umgebung. Die meist urbane Kundschaft kann sich via Website über die Tierhaltung bis ins letzte Detail informieren. Die Regionalität stösst auf grosse Zahlungsbereitschaft bei den Konsumenten und Konsumentinnen. Laut HWZ-Studie sind sie bereit, für Eier, die von Hennen aus der Region kommen, 45 Prozent mehr zu zah­len. Regionales Gemüse darf 30 Prozent, Hartkäse 20 Prozent teurer sein.

Die Erfolgsgeschichte der Regionalprodukte lässt sich nicht ohne die vielen weiteren Akteurinnen und Akteure entlang der gesamten Wertschöpfungskette erzählen. Entscheidenden Support leisten neben einigen Non-Profit-Organisationen verschiedene Förderprogramme des Bundes. Eine führende Rolle nimmt das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) ein. Es unterstützt Projekte zur Regionalen Entwicklung (PRE), an denen die Landwirtschaft massgeblich beteiligt ist. Ausserdem fördert es Qualität und Nachhaltigkeit im Rahmen einer eigens dafür entwickelten Verordnung (QuNaV). Das BLW unterstützt auch Projekte über den 1999 lancierten Nationalen Aktionsplan zum Erhalt und zur nachhaltigen Nutzung der pflanzengenetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (NAP-PGREL). Schliesslich fördert es den Erhalt tiergenetischer Ressourcen – ein Überlebensprogramm für zurzeit fünfundzwanzig alte Nutztierrassen. Auch beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) ist die Förderung regionaler Produkte ein Schwer­punktthema, und zwar in Zusammenarbeit mit den Kantonen im Rahmen der Neuen Regional­politik (NRP) und über das Tourismusförderprogramm Innotour. Schliesslich zielt der Bund auch mit dem Produktelabel der Pärkepolitik sowie einzelnen «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung» auf die Stärkung der Regionalprodukte ab. Weil regionale Wertschöpfung bei vielen dieser Programme im Zentrum steht, finanzieren die Kantone viele dieser Projekte subsidiär mit.

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Langzeitprojekt «regionale Dachmarke»

Die verschiedenen Förderprogramme mögen sich gelegentlich inhaltlich überlappen. Trotz­ dem hat jedes Instrumentarium seinen unverwechselbaren Charakter. Die QuNaV beispielsweise zielt auf bessere Produktions-­ und Qualitätsstandards ab. Entsprechende Projekte werden über alle Stufen der betreffenden Wertschöpfungskette unterstützt. Zu den Bedingungen gehört, dass sie Modellcharakter für die gesamte Branche haben, die Marktchancen für die Landwirtschaft und die nachgelagerten Branchen verbessern sowie die landwirtschaftliche Wertschöpfung in der Region erhöhen. Zahlreiche innovative Produkte aus der Land­ und Ernährungswirtschaft verdanken der Starthilfe aus dem QuNaV­-Topf ihre (Wieder­)Geburt, beispielsweise Bio­-Soja, Bio­-Weidemilch, Brennnessel-Produkte, Fleisch von Schweizer Hennen, Quinoa, Trüffel oder Wildbeeren. Daneben gibt es QuNaV­-Projekte, die auf Infrastrukturen oder die Verbreitung nachhaltiger Technologien ausgerichtet sind, etwa jene, Pilze bei Reb­- und Beerenkulturen mittels UV-­C­-Licht zu bekämpfen. Die NRP fokussiert vor allem auf vorwettbewerbliche Massnahmen, die Wertschöpfung in die Region bringen. Auffällig sind dabei Projekte zur Vernetzung von Akteurinnen und Akteuren, die meist im Rahmen einer Gesamtstrategie umgesetzt werden, etwa die «Förderung Regional­ produkte Berner Oberland» (Projektbeginn: 2017) oder die «Wertschöpfungskette natürli-Regio­nalprodukte» (2020 ZH/TG). Auch die Plattform «food & nutrition» ist aus einem NRP-Projekt ent­standen. Sie vernetzt im Kanton Freiburg alle Personen, die an der Produktion und Verarbeitung nachhaltiger Lebensmittel interessiert sind. Der Trägerverein soll auch die kreislauffähige Lebensmittelstrategie umsetzen, die der Kanton 2021 verabschiedet hat.

Fördergelder für Verarbeitung und Vermarktung

Bei den Förderprogrammen steht die Landwirtschaft im Zentrum, mitsamt den nachgela­gerten Bereichen. Besonders gross erscheint der Investitionsbedarf in der Verarbeitung. Dies ver­deutlichen Vorhaben wie der Bau des regionalen Schlachthofs in Klosters­-Serneus oder die neue Produktionsanlage für Rohziger der Glarner Milch AG. Letztere, ein 2017 abgeschlossenes 10-Millionen­Franken­-Projekt, umfasst unter anderem ein Käsereifungslager und eine Erlebniskäserei. Das Projekt wurde vom Bund im Rahmen eines PRE mit 2,17 Millionen Franken unterstützt.

Ein häufiges Thema bei vielen Projekten ist die Vermarktung. Dabei geht es sowohl um neue, digitale als auch um wiederbelebte, traditionelle Promotions­ und Vermarktungskanäle. Das Projekt «Konzept Hofladen Willisau» wurde 2022 als NRP-Projekt lanciert. «Alpomat – der kleinste Hofladen der Stadt Zürich» startete 2017 als QuNaV-Projekt. Regionale Distributionska­näle fördert auch die Post – digital und physisch: Über die Plattform «Local only» können Produ­zentinnen und Produzenten ihre regionalen Produkte online verkaufen. Die Post übernimmt die Logistik – ohne Extrafahrt, indem sie die bestellte Ware zusammen mit der normalen Briefpost der Bevölkerung an die Haustüre bringt.

Mit Holz wäre fast alles möglich

Viel regionales Potenzial schlummert in der Wertschöpfungskette Holz. In den vergangenen Jahren haben verschiedene Kantone eigene Förderprogramme gestartet, angestossen unter ande­rem von der NRP und vom Aktionsplan Holz des Bundes. Dieser unterstützt seit 2009 Projekte, die sich mit dem Rohstoff Holz und seiner Verwertung auseinandersetzen. Ein aktuelles Ergebnis dieser Bemühungen ist die Interessengemeinschaft Truberwald, gegründet von Waldbesitzern, Landwirten, Forstwarten, Zimmerleuten und Schreinern. Sie realisierten 2022 mit der Turnhalle in Trub BE ein Vorzeigeprojekt. Der Bau ist ausschliesslich aus Holz aus dem Truber Wald gefertigt. «Jede Leiste, jede Rostlatte, selbst die Akustikdecke – alles ist aus regionalem Holz», verrät Samuel Zaugg, Forstwart und Mitgründer der IG Truberwald. Diese wirkte bei der Beschaffung als Dreh- und Angel­punkt. Die Erfahrungen aus dem Turnhallenbau fliessen nun in das eigentliche Geschäftsmodell der IG ein, interessierten Bauherren alle logistischen und organisatorischen Informationen rund ums Bauen mit regionalem oder eigenem Holz zu vermitteln. Die eigentliche Herausforderung liege darin, die Konsumentinnen und Konsumenten so weit zu bringen, dass sie konsequent nach Schweizer Holz verlangten, betont Zaugg, denn «heute ist mit Holz auf dem Bau fast alles möglich».

Lange Zeit lag auch das Potenzial der regionalen Zusammenarbeit zwischen der Landwirt­schaft und dem Tourismus brach. Mittlerweile ist aber einiges in Bewegung geraten. «Genuss aus Stadt und Land» ist ein strategisch ausgelegtes PRE, mit dem seit 2017 im Grossraum Basel neue Formen der regionalen Produktion und der Kooperation zwischen Landwirtschaft, Gastronomie, Hotellerie und Detaillisten entwickelt werden sollen. In der Region Biel/Seeland verbindet ein 2020 lanciertes NRP-Projekt mit Murten Tourismus als Kooperationspartner «touristische Erleb­nisse mit regionaler Kulinarik». Die Bemühungen der Region Jura, mit Mitteln der Agrar-­, Regio­nal­- und Tourismuspolitik regionale Wertschöpfungsketten aufzubauen, haben das BLW und das SECO Ende 2022 mit der erstmaligen Vergabe des «Cercle Régional» ausgezeichnet.

Nicht zu vergessen ist zudem die seit rund zehn Jahren laufende Partnerschaft zwischen dem Netzwerk Schweizer Pärke und Coop. Die Mischung aus sanftem Tourismus, Natur und extensiver Landwirtschaft kommt bei Konsumentinnen und Konsumenten gut an. Coop verkauft in den jewei­ligen Verkaufsregionen von Jahr zu Jahr mehr regionale Park-Spezialitäten.

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Blick in die Zukunft

Soll sich der Boom der Regionalprodukte fortsetzen, bedarf es weiterer Anstrengungen auf sämtlichen Stufen der Wertschöpfungskette. «Klar ist ausserdem, dass es für Kundinnen und Kunden künftig noch einfacher werden muss, regionale Produkte im Laden einzukaufen», ist Stephan Feige überzeugt. Beträchtlichen Spielraum sieht er vor allem für kleine, spezialisierte Händlerinnen und Händler.

Über die Produkt­ und Angebotspalette hinaus gewinnen grundsätzlich die Kriterien der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit, der Kreislaufwirtschaft und der Biodiversität immer mehr Gewicht. «Konsumenten achten nicht einfach bloss auf die regionale Herkunft; Tierwohl, Artenvielfalt und die Umwelt liegen ihnen ebenso sehr am Herzen», so Feige. Diesen Aspekten soll künftig auch in den Förderprogrammen noch mehr Gewicht beigemessen werden. So wer­ den etwa Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft verstärkt in die nächste Programmperiode, NRP24+, einfliessen. Die Stärkung kurzer Versorgungswege für ein resilientes Ernährungssystem bleibt ein wichtiges Element in der künftigen Ausrichtung der Agrarpolitik. Nachhaltige regionale Ernäh­rungssysteme, von der Produktion bis zum Konsum, können die langfristige Ernährungssicherheit der Schweiz nachhaltig voranbringen. Die Regionen können dabei als «Zukunftslabors» für ein nachhaltiges Ernährungssystem der Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Was ist wirklich regional?

Die «Region» ist weder politisch noch geografisch ein klar definierter Begriff. Entsprechend versuchen die Detailhändler, mit eigenen Labeln und nach eigenen Kriterien ihre jeweiligen Regionalprodukte in diesem Markt zu positionieren. Dagegen bemühen sich verschiedene Organisationen, mittels einheitlicher Richtlinien Licht in den regionalen Label-Dschungel zu bringen und den Konsumentinnen und Konsumenten die Orientierung zu erleichtern.

Pirmin Schilliger Luzern

Die Schweizerische Vereinigung AOP-IGP (Appellation d’Origine Protégée/Indication Géographique Protégée) vertritt die Interessen aller Branchenorganisationen, die unter diesen Siegeln regionale Produkte vermarkten. Der Unterschied zwischen ihnen: Bei AOP-Spezialitäten muss vom Rohstoff über die Verarbeitung bis hin zum Endprodukt alles aus der definierten Ursprungsregion sein; bei IGP-Spezialitäten genügt es hingegen, wenn sie in der Ursprungsregion entweder erzeugt, verarbeitet oder veredelt worden sind. Die offizielle Liste der Schweiz umfasst aktuell 25 AOP- Produkte und 16-IGP-Spezialitäten, darunter viele Käsesorten, Wurstspezialitäten und einige Obstbranntweine, aber auch Walliser Roggenbrot oder die Zuger Kirschtorte. Die Schweiz ist im Rahmen des bilateralen Agrarabkommens mit der EU dem europaweiten AOP-IGP-System angeschlossen. Die von beiden Seiten anerkannte Liste mit einigen hundert geschützten Produkten wird regelmässig aktualisiert. Die jüngsten registrierten Produkte für das AOP-Gütesiegel sind die Schweinefleischwurst «Boutefas» und der Beinschinken «Jambon de la Borne» aus dem Kanton Waadt und dem Kanton Freiburg und das Walnussöl «Huile de Noix vaudoise». Verantwortlich für die Zulassung in der Schweiz ist das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), das das Register auch mit der EU koordiniert.

ProSpecieRara als Pionierin

Zu den eigentlichen regionalen Pionieren in der Schweiz gehört die Stiftung ProSpecieRara (PSR), die gerade ihr 40-Jahr-Jubiläum fei- ern kann. Hauptsächlich ihr Verdienst ist es, dass hierzulande – vom Appenzeller Spitzhaubenhuhn bis zur Stiefelgeiss – 38 seltene Nutztierrassen und rund 4800 Nutz- und Zierpflanzensorten vor dem Aussterben gerettet werden konnten. PSR arbeitet mit vielen Landwirtinnen und Landwirten, mit dem BLW, der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Wädenswil (ZHAW), gemeinnützigen Organisationen und dem Detailhandel zusammen. Ausserdem agiert PSR als Schnittstelle zur SAVE Foundation, die sich im europäischen Rahmen für den Erhalt der Biodiversität engagiert.

Ein kommerziell erfolgreiches Nutzungsbeispiel alter «tiergenetischer Ressourcen» ist die Wertschöpfungskette «Pro-Montagna Bio- Gitzifleisch». Daran beteiligt sind Bündner Bergbauern, der Schweizer Ziegenzuchtverband, die Metzgerei Zanetti in Poschiavo GR und Coop. Ein anderes Projekt von PSR mit Coop als Partnerin nennt sich «Simmentaler Original». Als Resultat der Kooperation mit PSR finden sich in den Regalen von Coop zudem mehr als hundert traditionelle, vom Aussterben bedrohte Kulturpflanzensorten, etwa die «halblange Turga», eine Sorte der in Mitteleuropa weit verbreiteten Pastinaken. Über die Plattform stadttomaten können Hobbygärtnerinnen und -gärtner bei Coop ausserdem seltene Tomaten-, Peperoni- und Salatsamen beziehen und auf dem eigenen Balkon zum Spriessen bringen.

Koordinationsbemühungen

Die wichtigsten Mitglieder des 2015 gegründeten Vereins Schweizer Regionalprodukte (VSR) sind die vier Vermarktungsorganisationen alpinavera (mit Regionalprodukten aus den Kantonen GR, UR, GL und TI), Culinarium (Ostschweiz), Das Beste der Region (Zentral- und Nordwestschweiz, JU, BE, SO) und regio.garantie Romandie (Westschweiz und Berner Jura). Als Dachorganisation repräsentiert der VSR über 18 500 regionale Produkte aus der ganzen Schweiz, die mit «regio.garantie» gekennzeichnet sind. Der VSR konzentriert sich auf einheitliche Qualitätsstandards nach klaren Richtlinien und sorgt für einen sauberen Vollzug. Demgemäss müssen unter anderem mindestens zwei Drittel der Wertschöpfung sowie die Produktions- und Verarbeitungsschritte, die die Eigenschaften des Produkts bestimmen, in der jeweiligen Region stattfinden.

Trotz aller Koordinationsbemühungen des VSR existieren weiterhin verschiedene Labels, die Regionalität kennzeichnen: Die Migros tut dies mit einer eigenen regionalen Etikette, auf der zusätzlich oft auch der Name der Produzentin oder des Produzenten steht. Coop hingegen markiert in der Regel lediglich die Regale mit dem Regionen-Label. Trotzdem heisst es auch bei Coop: «Alle regionalen landwirtschaftlichen Zutaten und jedes Produkt müssen bis zum Ursprungsort rückverfolgbar sein.»

Gemäss der Studie «Regionalprodukte 2022» der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) möchten die Konsumentinnen und Konsumenten in jedem Fall wissen, aus welcher Region die Rohstoffe kommen, wo sie verarbeitet werden und welchen Weg sie zurückgelegt haben. «Bei den heutigen Labels ist das alles jedoch längst nicht immer klar», stellt Stephan Feige, Co-Autor der Studie, fest. In der Praxis legen die Detailhändler wichtige Kriterien – wie etwa den regionalen Perimeter – meist nach eigenem Gutdünken fest. Sie hoffen auf das Vertrauen ihrer Kundinnen und Kunden, und dies nicht zu Unrecht. «Wenn auf der Verpackung ‹regional› steht, wird das in der Regel auch geglaubt», meint Feige. Zudem möchte sich kaum jemand vor den Regalen durch mehrseitige schriftliche Label-Richtlinien kämpfen müssen.

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Klärungsbedarf

Fazit: Der gemeinsame Nenner der regionalen Marken beschränkt sich darauf, dass sich zum Verkauf angebotene Ware einer bestimmten Region zuordnen lässt. Nach welchen genaueren Vorschriften und Kriterien dies erfolgt, ist aber von Label zu Label unterschiedlich. Die Definition der Region selbst bleibt dehnbar: So formuliert das Coop-«Miini-Region»-Reglement umständlich: «Eine Region ist ein geografisch bestimmter Raum mittlerer Grössenordnung, das heisst zwischen lokaler beziehungsweise kommunaler und nationaler Ebene, der als zusammengehörig angesehen wird, sich also anhand bestimmter Merkmale von anderen abgrenzen lässt.» Coop-Sprecher Caspar Frey versucht klarzustellen, dass Coop in Bezug auf Wertschöpfung sowie die Produktions- und Verarbeitungsschritte den VSR-Vorgaben folgt. Dies gilt auch für die Migros, obwohl diese Bestimmungen laut Mediensprecherin Carmen Hefti «die Verfügbarkeit der regionalen Produkte in der Alltagspraxis zuweilen arg limitieren». Feige erklärt: «Es gibt den Begriff ‹regional›, gleichbedeutend mit ‹ist von hier› – da will der Konsument zum Produzenten gleich um die Ecke. Daneben gibt es aber auch regionale Produkte wie die Waadtländer Saucisson oder die Basler Läckerli, die nicht nur vor Ort, sondern in der ganzen übrigen Schweiz als berühmte regionale Spezialitäten wahrgenommen werden.» Eine einheitliche Definition von Regionalität unter einem einzigen Label würde solchen Unterschieden und dem Charakter der einzelnen Produkte wohl kaum gerecht, gibt Feige weiter zu bedenken. Wenig sinnvoll wäre es also, für verarbeitete Produkte wie Wein, Hartkäse, Gebäck oder eine weit über ihre Ursprungsregion hinaus bekannte Rauchwurst die gleichen regionalen Kriterien anzuwenden wie für frisches Gemüse oder Eier aus der näheren Umgebung.

Kein Wunder, ist es bis heute nicht gelungen, dieses Definitionsdilemma aus der Welt zu schaffen, obwohl es die Konsumentinnen und Konsumenten ziemlich verunsichert. «Alle müssen bereit sein, ein einheitliches nationales Regelwerk zu pflegen», betont VSR- Geschäftsführerin Gabi Dörig-Eschler. «Und», schiebt sie nach, «die Glaubwürdigkeit unseres Regelwerks ist das eigentliche Fundament des Erfolgs.»

Regionalprodukte – stark in der Nische, mit Potenzial für weiteres Wachstum

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Was steckt hinter dem Erfolg der Regionalprodukte? Und wie steht es um deren Zukunftsaussichten? Diese und weitere Fragen diskutierten eine Expertin und zwei Experten am Round Table von «regioS»: Eliane Kern, Verantwortliche für Kommunikation und Events von «Feld zu Tisch», einer B2B-Vermarktungsplattform für Regionalprodukte im Raum Basel, Peter Stadelmann, Verantwortlicher für die Regionalprodukte der UNESCO-Biosphäre Entlebuch, und Urs Bolliger, Geschäftsführer und Leiter Märkte von «Culinarium», dem Trägerverein der Marke «regio garantie» in der Ostschweiz.

Steile Zuwachsraten in den letzten zehn Jahren belegen die eindrückliche Erfolgsgeschichte der Regionalprodukte. Welchen Anteil haben die Fördergefässe des Bundes wie die Neue Regionalpolitik (NRP), die Projekte Regionale Entwicklung (PRE) der Landwirtschaftspolitik oder die Tourismusförderung von Innotour?

Urs Bolliger: Die dem Verein Schweizer Regionalprodukte (VSR) angeschlossenen Marken, also auch wir von «Culinarium» in der Ostschweiz, profitieren vor allem vom Absatzförderungsprogramm des Bundesamtes für Landwirtschaft (BLW), das seit 2001 läuft. In den entsprechenden Projekten handelt es sich schwerpunktmässig um Marketing- und Kommunikationsmassnahmen, wobei jeweils zwischen 30 und 50 Prozent der eingesetzten Mittel vom Bund stammen.

Eliane Kern: Auch beim Aufbau von «Feld zu Tisch» ist die Unterstützung durch das BLW über das Projekt zur Regionalen Entwicklung (PRE) «Genuss aus Stadt und Land» massgebend.

Peter Stadelmann: Als Biosphäre-Reservat Entlebuch sind wir primär Teil der Pärkepolitik, für die das Bundesamt für Umwelt (BAFU) zuständig ist. Dieses unterstützt die Pärke zwar nicht bei der Produktentwicklung. Trotzdem profitieren auch wir von Bundeshilfen, und zwar über die erwähnten Fördergefässe des BLW. Besonders wichtig ist die PRE-Unterstützung beim Aufbau der «Biosphäre Markt AG» als Vermarktungsplattform für die Region. Ohne die staatliche Hilfe wäre es kaum möglich gewesen, diese Organisation auf die Beine zu stellen und auf dem Markt zu positionieren.

Peter Stadelmann © regiosuisse

Welches ist Ihre eigene, bislang grösste regionale Erfolgsgeschichte?

Eliane Kern: Wir konnten in den letzten zwei Jahren in der Region Basel ein Netzwerk aufbauen, unter anderem mit einem Format, das wir «Speed Dating» für den regionalen Direkthandel nennen. Mit diesem Format kommen Produzentinnen und Produzenten mit Abnehmerinnen und Abnehmern zusammen und lernen sich kennen, sodass die gewünschten Handelsbeziehungen beinahe automatisch entstehen. Da treffen sich etwa die Betreiber eines Lokalladens in Basel, die mit regionalen Produkten handeln, mit einer Tempeh-Produzentin in Liestal BL oder einem Produzenten von Kichererbsen in Wenslingen BL, um nur zwei Beispiele von vielen direkten Geschäftsbeziehungen zu erwähnen. Auch die runden Tische, die wir regelmässig veranstalten, um unsere Ideen und Werkzeuge weiterzuentwickeln, stossen auf grosses Interesse. Wir erfahren dabei im Gespräch mit Produzentinnen und Abnehmern von ihren unmittelbaren Bedürfnissen, etwa in Bezug auf die technischen Anforderungen, und wir können dann umso zielgerichteter handeln.

Peter Stadelmann: Aus Sicht der Biosphäre Entlebuch ist der Aufbau der Markt AG der wichtigste Meilenstein der letzten Jahre. Die Organisation ist für die Regionalproduzenten zum entscheidenden Türöffner geworden, um mit den Grossverteilern ins Geschäft zu kommen. Eine zentrale Stelle ist das A und O, um in diesem Bereich Absatz zu generieren. Die Grossverteiler möchten schliesslich nicht mit jedem Käser und jedem Metzger individuell verhandeln müssen. Die Schwelle zur Zusammenarbeit wird deutlich niedriger, wenn es dafür eine Ansprechperson für die gesamte Region gibt. Neben dieser eher organisatorischen fallen mir verschiedene weitere Erfolgsgeschichten mit einzelnen Produkten ein. Ich denke zum Beispiel an Urdinkel, mit dessen Anbau wir vor vierzehn Jahren auf Initiative eines Verarbeiters begonnen haben. Mittlerweile blüht diese Kultur in der Region, nicht zuletzt, weil alle Abnehmer – also der Müller, Bäcker, Teigwarenhersteller – und die Endverbraucherinnen und -verbraucher bereit sind, den Mehrpreis zu bezahlen, den es aufgrund der höheren Produktionskosten in unserer Höhenlage einfach braucht.

Urs Bolliger: Zentral und entscheidend für unsere Erfolgsgeschichte ist die Zusammenarbeit mit der Migros, die schon vor Jahren das Programm «Aus der Region, für die Region» lanciert hat. Wir arbeiten mit der Migros Ostschweiz seit 2003 zusammen, und ähnlich ist die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern unserer Dachorganisation im Verein Schweizer Regionalprodukte (VSR) mit den weiteren Migros-Genossenschaften in der ganzen Schweiz. Dass die Migros mit uns zusammen Regionalität definiert hat und dass die Richtlinien von allen Beteiligten respektiert werden, erachte ich als einen sehr grossen Meilenstein. Wenn man sich die Umsatzstatistiken anschaut, dann ist definitiv die Migros mit dem Programm «Aus der Region, für die Region» der eigentliche Absatztreiber.

Urs Bolliger © regiosuisse

Trotz allen Erfolgsgeschichten mussten Sie auch Lehrgeld zahlen. Wo zum Beispiel?

Urs Bolliger: Schwieriger als mit dem Detailhandel ist die Zusammenarbeit mit der Gastronomie. Die Gastronomie wurde von der ganzen Corona-Geschichte richtiggehend durchgeschüttelt. Zudem steht sie schon lange unter heftigem Preisdruck, sodass wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie wir mit einem vernünftigen Aufwand zusammenarbeiten könnten. Es finden sich zwar einzelne Gastrobetriebe, die länger schon intensiv mit Regionalprodukten arbeiten. Leider aber gibt es eine grosse Anzahl Betriebe, die über die Speisekarte den Anschein zu erwecken versuchen, ein bisschen auf regionale Produkte zu setzen. Sieht man genauer hin, sind die meisten Angebote auf dem Teller alles andere als regional.

Eliane Kern: Auch in der Region Basel beschäftigt uns die Frage, wie wir mit der Gastronomie besser zusammenarbeiten könnten. Viel Lehrgeld mussten wir ausserdem bei der Entwicklung der Software für unsere B2B-Plattform zahlen. Wir haben uns dies einfacher vorgestellt und gehofft, auf eine bereits bestehende Lösung zurückgreifen zu können. Mittlerweile sind wir in der Rolle, dass wir auf nationaler Ebene eine Eigenentwicklung anstossen, also eine Open-Source-Lösung, die von ähnlichen Projektträgern ebenfalls genutzt werden kann. Zu schaffen machen uns auch die Nachhaltigkeit und die vergleichsweise hohen Kosten der kleinteiligen Lebensmittellogistik.

Herr Stadelmann, wo liegen die Stolpersteine im Entlebuch?

Peter Stadelmann: Damit der Aufbau der Markt AG nicht zum Stolperstein wurde, brauchte es viele Gespräche, und wir benötigten sehr viel Feingefühl. Wir mussten zum Beispiel die Käsereien, die bisher sehr selbständig agiert und ihre eigene kleine Marke aufgebaut hatten, für unser Anliegen gewinnen. Für die einzelne Käserei bedeutete dies, dass sie einen grossen Teil der Marktverantwortung an die neue Organisation, die Markt AG, abgeben musste, die fortan die Koordination und den Verkauf übernahm. Diese Veränderung ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, bei dem nicht alles reibungslos funktioniert. Unser einheitlicher Auftritt heisst für den einzelnen Betrieb, dass er seine eigene Unternehmensmarke zurückstellen muss. Ausserdem muss er in der Vermarktung plötzlich mit Betrieben zusammenarbeiten, die er bislang vor allem als Konkurrenten wahrgenommen hat.

Läuft es mit der Gastronomie im Entlebuch besser als etwa in der Ostschweiz oder in Basel?

Peter Stadelmann: Nein, die Gastronomie ist auch hier im Entlebuch ein hartes Brot. Der Preiskampf ist heftig, und die vielen Kleinproduzenten in unserer Region können die Nachfrage etwa bei Grossbanketten nicht immer abdecken. Ausserdem ist die Bereitschaft der Gastronomen wie auch der Gäste gering, sich beim Essen nicht nur auf Steaks und Schnitzel einzulassen, sondern auf die Verwertung des ganzen Tieres. Es braucht generell ein Umdenken, damit auch mal ein regionales Nichtedelstück auf der Menükarte landet.


Eliane Kern: Die Preissensitivität ist in der Gastrobranche tatsächlich ausschlaggebend dafür, wo die Lebensmittel letztlich eingekauft werden. Hinzu kommen Kriterien wie Praktikabilität und Effizienz des Marktplatzes. Wie sind die Lieferzyklen? Wie lange dauert es von der Bestellung bis zur Anlieferung? Wie ist die Verfügbarkeit des Angebotes? Wie zuverlässig und effizient funktioniert die Lieferkette? Wir können auf unserem B2B-Marktplatz zwar einiges gewährleisten, müssen aber einräumen, dass gewisse Herausforderungen von einem grösseren Handelsbetrieb einfacher zu bewältigen sind als von einer kleinteiligen Logistik.

Eliane Kern © regiosuisse

Gibt es für diese Fälle überhaupt vernünftige Lösungsansätze?

Urs Bolliger: Man muss die Relationen im Auge behalten. Regionalprodukte werden in den Medien zwar gehypt, aber Gäste, die im Restaurant explizit danach fragen, bleiben eine Minderheit. Wir sprechen von einem Marktanteil zwischen 5 und 10 Prozent, den die Regionalprodukte über alle Verkaufskanäle hinweg insgesamt besetzen. Ein ähnliches Phänomen habe ich schon mehrere Male erlebt beim «Bio». Wenn man den Durchschnittskonsumenten fragt: «Was denkt ihr, wie hoch ist mittlerweile der Anteil Bio am Verkauf?», lautet die Antwort: «Sicher 50 Prozent.» Tatsächlich liegt der Marktanteil von Bio-Produkten zwischen 15 und 18 Prozent. Die Wahrnehmung des Konsumenten entspricht nicht seinem tatsächlichen Konsumverhalten. Das fällt mir besonders auf, wenn ich mit Metzgereien rede, die auch ein Catering betreiben. Beim Catering scheint es zwar erwünscht, Regionalprodukte im Angebot zu haben. Aber kaum jemand ist bereit, Regionalität explizit einzufordern. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir mit Regionalität eine Nische besetzen. Der Lösungsansatz müsste sein, dass wir uns auf diese Nische fokussieren und dort versuchen, erfolgreich zu arbeiten mit zuverlässig funktionierenden Konzepten. Wir können aber nicht erwarten, dass die Bäume in den Himmel wachsen.

Regionalprodukte haben also nur geringe Chancen auf dem Massenmarkt?

Urs Bolliger: Die gute Zusammenarbeit mit der Migros zeigt, dass wir im Detailhandel durchaus mit Klasse und Masse punkten können. Wir sprechen hier von rund 1 Milliarde Franken, die die Migros mittlerweile jährlich über den Kanal «Aus der Region, für die Region» umsetzt. Darüber hinaus arbeiten wir mit weiteren Detailhändlern zusammen. Jüngstes Beispiel ist Aldi Suisse mit der Marke «Saveur Suisse». Aktuell sind wir mit weiteren Detailhändlern im Gespräch, und es zeichnen sich weitere Absatzmöglichkeiten in anderen Bereichen ab. So haben die SBB die Bewirtschaftung ihrer rund 4000 Automaten in diesem Jahr neu ausgeschrieben mit der Bedingung, dass mindestens 10 Prozent der Artikel Regionalprodukte sein müssen. Das hat dazu geführt, dass uns ein grosser Automatenbetreiber kontaktiert hat, der nun von den SBB für die nächsten Jahre den Zuschlag erhalten hat. Es gibt also weitere Absatzkanäle, über die noch mehr echte Regionalität zum Konsumenten fliessen kann.

Frau Kern, wie beurteilen Sie die Möglichkeiten, in einen breiteren Markt vorstossen zu können?

Eliane Kern: Wir suchen derzeit sehr gezielt den Kontakt mit der Gemeinschaftsgastronomie. Ob uns die gewünschte Absatzerhöhung in diesem Segment gelingen wird, hängt jedoch vom Ausbau unserer Produktionsinfrastruktur ab. Gefragt sind in diesem Fall vorgerüstete Produkte mit einem höheren Convenience-Grad. Wir gehen bei der Umsetzung schrittweise vor und versuchen mittels Marktanalysen herauszufinden, was wirklich funktionieren kann.

Wie kommt die Biosphäre Entlebuch in diesen breiteren Markt?

Peter Stadelmann: Hätten wir das Rezept, mit Regionalprodukten den Massenmarkt zu erobern, würde ich es nicht verraten. Letztlich ist unsere Arbeit ein stetes Strampeln mit kleinen Projekten. Der Kanton Luzern als bisher tierintensiver Kanton startet neuerdings eine Bio-Kampagne und eine Offensive für Spezialkulturen. Hier suchen wir aktuell die Zusammenarbeit, allerdings im Bewusstsein, dass wir uns auch in diesem Bereich in einem Verdrängungskampf befinden. Aus meiner Sicht ist es entscheidend, dass man die speziellen Produkte, die eine Region zu bieten hat, auf dem Markt an richtiger Stelle zu platzieren versucht. Wir im Entlebuch sind ein Grasland, Bergzone 1 und höher – da unterliegen wir bezüglich Vielfalt und Produktivität starken Einschränkungen. Umso wichtiger scheint mir das Denken in Richtung von noch mehr Qualität statt Quantität. Wir müssen uns mit unseren Regionalprodukten so abheben, dass wir in jeder Beziehung einzigartig sind.

Konsumentinnen und Konsumenten stellen sich unter «regional» kurze Wege, Nachhaltigkeit, gesunde Produkte und oft auch «Bio» vor. Können die Produzentinnen und Produzenten diese Erwartungen erfüllen?

Urs Bolliger: Laut Umfragen erwarten die Konsumentinnen und Konsumenten vom Regionalprodukt nicht zwingend auch «Bio». Jedoch ist es eine Tatsache, dass der Konsument manchmal zu viele positive Argumente in die Regionalprodukte hineininterpretiert. Grundsätzlich geniessen Regionalprodukte ein sehr hohes Vertrauen, was uns zu höchster Sorgfalt verpflichtet. Massgebend für die Qualitätskriterien aller «regio.garantie»-Produkte ist der sogenannte ökologische Leistungsnachweis (ÖLN), wie er in den Richtlinien für die Regionalmarken im Detail festgehalten ist.

Eliane Kern: Wir stellen fest, dass gewisse regionale Produkte national herumspediert werden. Das muss nicht unbedingt heissen, dass diese Produkte weniger nachhaltig sind, denn in einer CO2-Bilanz fallen andere Kriterien wie Kühllager viel stärker ins Gewicht als die gefahrenen Kilometer. Trotzdem arbeiten wir daran, uns bezüglich Nachhaltigkeit in sämtlichen Bereichen zu verbessern. Das ist und bleibt eine grosse Herausforderung, die einen Systemwechsel erfordert, der nicht einfach so über Nacht passieren wird.

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Mit den Strategischen Entwicklungsprogrammen (STEP) für die Nationalstrassen und die Bahn und den entsprechenden Finanzierungsfonds sorgt die Verkehrspolitik für die grundlegende Infrastruktur, fördert aber auch die Entwicklung nachhaltiger Verkehrs- und Mobilitätslösungen. Letztere unterstützen aber auch eine Reihe von Förderprogrammen wie das Programm Agglomerationsverkehr (PAV), die Neue Regionalpolitik (NRP), Interreg, die Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo), Innotour oder die Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO). regioS skizziert nachfolgend die Herausforderungen bei der Entwicklung zukunftsträchtiger Verkehrs- und Mobilitätslösungen und zeigt das Spektrum von Förderinstrumenten auf, das vor allem regionalen Akteurinnen und Akteure zur Verfügung steht.

Ein leistungsfähiges und leicht zugängliches Verkehrssystem ist in der global vernetzten Gesellschaft unbestritten ein entscheidender Standortvorteil und ein Wettbewerbsfaktor. Ohne effiziente Verkehrserschliessung verlieren Regionen schnell den Anschluss an die Zentren. Mit dem politischen Bekenntnis zur dezentralen Besiedlung gemäss Raumplanungsgesetz (RPG) geniesst die Erschliessung der Regionen einen besonderen politischen und sozialen Stellenwert, der über alle gesellschaftlichen und kulturellen Gräben hinweg zum Zusammenhalt des Landes beiträgt. Laut dem «Sachplan Verkehr», der Mobilitätsstrategie des Bundesrats, sollen sich alle Regionen «angemessen weiterentwickeln».

Eine chancengleiche Mobilität ist in der Schweiz nicht einfach ein Lippenbekenntnis, sondern ein nationales Anliegen – ob in den Kernstädten, Agglomerationen, ländlichen Räumen des Mittellandes oder in den Berggebieten. «Nicht zufällig verfügt die Schweiz heute über eines der dichtesten Verkehrsnetze der Welt mit etwa 83 300 Kilometern Strassen und Eisenbahnlinien von 5200 Kilometern», sagt Nicole A. Mathys, Chefin der Sektion Grundlagen des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). Landesweit finden sich kaum Orte, die nicht auch durch den öffentlichen Verkehr (ÖV) erschlossen sind. Selbst nach Juf GR, der höchstgelegenen Siedlung Europas mit rund dreissig Einwohnerinnen und Einwohnern, fährt täglich das Postauto mindestens im Zweistundentakt.

Von diesen umfassenden Angeboten macht die Schweizer Bevölkerung regen Gebrauch: Acht von zehn beschäftigten Personen pendeln zur Arbeit, wobei sie im Schnitt insgesamt rund eine Stunde pro Arbeitstag unterwegs sind. Noch wichtiger ist der Freizeitverkehr, der laut dem «Mikrozensus Mobilität und Verkehr» (MZMV) für annähernd die Hälfte (44 %) aller zurückgelegten Tagesdistanzen verantwortlich ist. Ob beruflich oder zum Freizeitvergnügen – Mobilität ist für die moderne Gesellschaft in jedem Fall selbstverständlich. Doch die Strassen, Schienen, Wege und Transportmittel von heute sind nicht einfach so aus dem Boden gesprossen, sondern über Jahrzehnte entstanden. Sie sind das Resultat unzähliger Bemühungen im Spannungsfeld von Raum, Technik, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik.

Die Aufgabe ist äusserst komplex

Den Verkehr und die Mobilität weiterzuentwickeln und in zukunftsfähige Bahnen zu lenken, ist eine komplexe Aufgabe. Die «Verkehrsperspektiven 2050» (VP 2050) des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) basieren auf mindestens sieben entscheidenden Trends, rund drei Dutzend wesentlichen Einflussfaktoren und über hundert sogenannten Stellgrössen. «Logischerweise sind in die Gestaltung von Verkehrs- und Mobilitätslösungen viele Akteurinnen und Akteure des Bundes, der Kantone, Regionen und Gemeinden eingebunden», so Nicole A. Mathys. Dies erfordert Fachwissen in unterschiedlichen Bereichen wie Verkehr, Raumentwicklung, Umwelt, Wohnungswesen und Energie. Auf nationaler Ebene ist das UVEK für den Verkehr zuständig. In der Pflicht stehen aber auch die Kantone und Gemeinden, vor allem beim Bau und Unterhalt von Kantons- und Gemeindestrassen, beim öffentlichen Nah- und Regionalverkehr sowie beim Ausbau des Langsamverkehrs. Alle diese Beteiligten sind gefordert, bei der Entwicklung einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Mobilität sämtliche Interessen von Gesellschaft und Wirtschaft mit Rücksicht auf die Siedlungsentwicklung und die Umwelt möglichst harmonisch aufeinander abzustimmen.

In welche Richtung sich Mobilität und Verkehr bis zum Jahr 2050 in der Schweiz bewegen könnten, skizzieren die VP 2050 mittels verschiedener Szenarien (siehe Kasten). Klar scheint: Der Verkehr insgesamt wird weiter zunehmen, jedoch langsamer als die Bevölkerung. Bereits heute sind die Auslastungsgrenzen verschiedenenorts erreicht. Gemäss dem «Sachplan Verkehr» müssen daher die Transportkapazitäten für Personen und Waren künftig effizienter genutzt und punktuell ausgebaut werden. Darüber hinaus sind über sämtliche Verkehrssysteme hinweg energetische Verbesserungen erforderlich, um die Treibhausgasemissionen im Kampf gegen den Klimawandel bis 2050 auf netto null zu senken. Dies kann nur mittels eines Transformationsprozesses gelingen. «Die Mobilitätsangebote der Zukunft müssen nachhaltiger, transparenter, flexibler, vernetzter, komfortabler, bedienerfreundlicher und eben CO2-neutral werden», betont Nicole A. Mathys. Ausserdem muss der motorisierte Individualverkehr (MIV) reduziert und der öffentliche Verkehr (ÖV) weiter ausgebaut werden.

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Mehr und bessere Mobilität – mit weniger Verkehr

Fördermöglichkeiten im Bereich nachhaltige Mobilität gibt es in der Schweiz viele, wie der Querschnitt durch die Förderprogramme belegt. Im Mittelpunkt stehen auf regionaler Ebene nicht grosse Infrastrukturvorhaben wie der A1 Rosenbergtunnel in St.Gallen, der Ausbau der Jurasüdfuss-Strecke der Bahn oder die Beschaffung neuer Transportmittel; dafür ist primär der Bund im Rahmen der Verkehrspolitik zuständig. Die regionalen Förderbemühungen unterstützen vor allem neue Mobilitätslösungen und Dienstleistungsangebote zur Optimierung der bestehenden Systeme. Sie betreffen den Berufs- oder Pendler- genauso wie den Freizeit- und Tourismusverkehr. «Es sind Initiativen zur Verkehrsreduktion und zu Verhaltensänderungen notwendig, und zwar zugunsten von mehr Velo- und Fusswegen sowie des Umstiegs auf den ÖV», erklärt Nicole A. Mathys. Hinzu kommen raumplanerische Massnahmen, die die Aufenthaltsqualität und Attraktivität der Siedlungsgebiete erhöhen und so der Bevölkerung ermöglichen, ihre Lebensbedürfnisse grösstenteils im nächsten Umfeld abzudecken. Die mit zunehmendem Wohlstand trotz allem weiterwachsenden Mobilitätsbedürfnisse sollen nicht nur effizienter und besser, sondern auch sauberer und umweltschonender gedeckt werden.

Die grösste planerische Herausforderung ist, die Interessen aller Beteiligten aufeinander abzustimmen und mit vereinten Kräften auf eine kohärente Entwicklung hinzuarbeiten. Ergänzend zur übergeordneten Verkehrsplanung des Bundes über den «Sachplan Verkehr», die Entwicklungsinstrumente STEP-Nationalstrassen, STEP-Bahn und die Agglomerationsprogramme, finanziert über den Bahninfrastrukturfonds (BIF) und den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) verfügen alle Kantone über ihre eigenen Mobilitätsstrategien, Richtpläne und Planungsinstrumente. Luzern beispielsweise stützt sich in der Umsetzung auf das Bauprogramm für die Kantonsstrassen, den ÖV-Bericht sowie die kantonale Veloplanung. Alle diese Instrumente sollen nun in einem neuen «Programm Gesamtmobilität» zusammengeführt werden, damit der Kanton mit den Regionen und Gemeinden koordiniert handeln kann. «Über alle erwähnten Gremien und Ebenen hinweg zeichnet sich ein inhaltlicher Konsens zu einer zukunftsfähigen Mobilitätsplanung ab, der da lautet: ‹Verkehr vermeiden, Verkehr verlagern, Verkehr verträglich abwickeln und vernetzen›», stellt Nicole A. Mathys fest.

Unterschiedliche Prioritäten

In der Umsetzung werden je nach Region und Art des Verkehrs andere Prioritäten gesetzt: In Städten und Agglomerationen bleiben Massnahmen zur Bekämpfung von Verkehrsspitzen und Stauzeiten ein zentrales Anliegen. In vielen Gemeinden des Mittellandes, ob Niederbipp BE, Obergösgen SO oder Winznau SO, sind hingegen der Pendlerverkehr und die Siedlungsplanung die grössten Herausforderungen. Die drei Ortschaften stehen laut einer Analyse von Pricehubble, einem auf Immobiliendaten spezialisierten Unternehmen, für eine vielerorts in der Schweiz zu beobachtende Entwicklung: Obwohl mitten auf dem Land gelegen, werden sie dank relativ «günstiger Häuser» und der Pendlernähe zu Zürich (maximal eine Stunde Fahrzeit) mehr und mehr zu Pendlergemeinden. Noch günstiger lässt es sich in Basel arbeiten und im Jura wohnen, etwa in Haute-Sorne, Moutier oder Develier. Eine ähnliche Mobilitäts- und Siedlungsdynamik hat auch die Einzugsgebiete gewisser inneralpiner Zentren wie Visp oder St. Moritz erfasst. In der Hauptsaison sehen sich die grossen alpinen Tourismusdestinationen zudem mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Agglomerationen und Städte: mit Stau und überfüllten Parkplätzen. In den peripheren Berggebieten und abgelegenen Seitentälern wiederum ist die Herausforderung nochmals ganz anders: Sie kämpfen gegen die Abwanderung und um den Erhalt des ÖV-Anschlusses.

Nicht absehbar ist zum heutigen Zeitpunkt, welche künftigen politischen Weichenstellungen die Transformation der Mobilität in Richtung Nachhaltigkeit weiter beschleunigen werden. Der grösste Hebel ist zweifellos der Strassenverkehr, auf den derzeit rund ein Drittel des gesamten Energieverbrauchs entfällt. Der Motorisierungsgrad der Schweiz ist mit rund 550 Autos auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner hoch, die Energieeffizienz ausgesprochen schlecht. Hauptsächlich dafür verantwortlich sind die vielen PS-starken Fahrzeuge, in denen meistens nur eine Person sitzt. Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Neuwagen in der Schweiz gehören heute zu den höchsten in Europa. «Wir kommen nicht darum herum, den Strassenverkehr energieeffizienter und klimaschonender zu machen», ist Nicole A. Mathys überzeugt. Der Bund möchte mit der «Roadmap Elektromobilität» in einer ersten Etappe erreichen, dass bis 2025 rund die Hälfte der neu zugelassenen Autos mit Elektro- oder Hybridantrieb ausgerüstet sind. Ein weiteres, weitgehend unausgeschöpftes Potenzial ist das datenbasierte Verkehrsmanagement für eine effizientere Nutzung der Verkehrsmittel und -infrastrukturen. 

«Im Bereich des motorisierten Individualverkehrs (MIV), auf den derzeit 70 % der externen Kosten des Verkehrs oder jährlich rund 14 Milliarden Franken entfallen, liegt noch viel Optimierungspotenzial», gibt Nicole A. Mathys zu bedenken. Mit der angestrebten Elektrifizierung der Schweizer Fahrzeugflotte ist allerdings bestenfalls ein Teil des Problems gelöst. Schliesslich stehen auch Elektrofahrzeuge im Stau, benötigen Strassenraum und Strom, der längst nicht immer sauber produziert ist.

Innovative Mobilitätslösungen fördern

Die zentralen Instrumente der Mobilitätsinfrastruktur sind die Strategischen Entwicklungsprogramme Nationalstrassen (STEP-NS) und Bahn (STEP Bahn). Die Finanzierung erfolgt über den der Bahninfrastrukturfonds (BIF) mit einem Volumen von 19,3 Milliarden Franken für die beiden Ausbauschritte bis 2025 beziehungsweise 2035 sowie der Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) mit einem Volumen für die Nationalstrassen (STEP-NS) von 11,6 Milliarden Franken bis 2030 und für den Agglomerationsverkehr von bisher 7,18 Milliarden Franken (seit 2008) beziehungsweis rund 1,6 Milliarden Franken für die vierte Generation ab 2024. Diese Instrumente tragen auch wesentlich zur Erschliessung der Regionen bei. Sie unterstützen aber auch die Akteurinnen und Akteure dabei, den Prozess hin zu einer nachhaltigen Mobilität zu beschleunigen und die dazu erforderlichen innovativen Lösungen zu entwickeln.

Ergänzend zu den infrastrukturorientierten Instrumenten der Verkehrspolitik kommen Förderinstrumente und Programme, die diesen Prozess auf regionaler Ebene verfeinern und unterstützen. Diese regionalen, nachfolgend skizzierten Fördergefässe sind das eigentliche Thema dieser «regioS»-Ausgabe.

Programm Agglomerationsverkehr (PAV)

Über das PAV beteiligt sich der Bund an der Finanzierung von Verkehrsprojekten zur Verbesserung des Agglomerationsverkehrs. Die Schwerpunkte der Förderung liegen auf dem Kapazitätsausbau des ÖV, der Elektrifizierung der Verkehrsträger, der besseren Vernetzung über Verkehrsdrehscheiben sowie einer sicheren und attraktiven Fuss- und Veloverkehrsinfrastruktur. Bei MIV-Projekten spielen Verkehrs- und Quartierberuhigungsmassnahmen, Begegnungszonen und gezielte Zentrumsentlastungen eine entscheidende Rolle. Der Förderperimeter umfasst beitragsberechtigte Gemeinden, die in einer Trägerschaft organisiert sind, inklusive der inneralpinen Agglomerationsräume Chur, Davos, St. Moritz, Altdorf, Glarus, Oberwallis (Brig-Visp-Naters), Zentralwallis (Sitten) und Rhoneknie (Martigny) und Chablais (Monthey-Aigle-Bex) sowie der Interreg-Programmgebiete in den Grenzregionen.

Das PAV ist das finanzielle Schwergewicht unter den Förderprogrammen. In der Vernehmlassung zur vierten Programmperiode hat sich der Bund für die Finanzierung von 1,6 Milliarden Franken (37 % Mitfinanzierung) ausgesprochen. Kantone, Städte und Gemeinden steuern zusammen weitere 2,7 Milliarden Franken (63 %) bei. Das PAV entfaltet seine Wirkung primär in der urbanen Schweiz. Bei Mobilitätslösungen im Pendler- oder Freizeitverkehr strahlt das Programm jedoch weit in die ländlichen Räume und Berggebiete sowie ins grenznahe Ausland aus. Die PAV-Projekte verdeutlichen, dass sich die Wirkung von Verkehrsmassnahmen in der kleinräumigen Schweiz selten räumlich eingrenzen lässt.

➜ Projektbeispiele (der aktuellen Programmperiode):

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Neue Regionalpolitik (NRP)

Die NRP unter der Leitung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und in Zusammenarbeit mit den Kantonen unterstützt innerhalb ihres Förderrahmens Verkehrs- und Mobilitätsprojekte, die konkret zur Wettbewerbsfähigkeit der Regionen – etwa im Tourismus – beitragen. An den NRP-Projekten beteiligen sich der Bund und die Kantone je zur Hälfte. Viele Mobilitätsprojekte werden im Rahmen einer Verkehrserschliessungspolitik angestossen, die Teil der jeweiligen regionalen Entwicklungsstrategie ist.

➜ Projektbeispiele:

Interreg-Programme

Ähnliche Ziele wie die NRP verfolgt Interreg, an dem die Schweiz via NRP in grenzüberschreitenden Räumen teilnimmt. Verkehrs- und Mobilitätsprojekte bilden dabei einen klaren Förderschwerpunkt, dies besonders in den immer stärker kooperierenden vier Grenzregionen Nordwestschweiz / Deutschland / Frankreich, Genf / Westschweiz / Frankreich, Bodenseeraum / Deutschland / Österreich und Tessin / Graubünden / Wallis / Italien.

➜ Projektbeispiele:

Attila Kartal in der Werkstatt von Rent a Bike in Willisau LU. Dienstleistungen stärken das Velo als Verkehrsmittel sowohl im Alltag als auch in der Freizeit. © regiosuisse

Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo)

Mit den MoVo fördern acht Bundesstellen unter der Leitung des ARE neue Ansätze und Methoden zur nachhaltigen Raumentwicklung. Dazu gehören auch neue Mobilitätslösungen. In der laufenden, vierten Programmperiode (2020–2024) unterstützt der Bund insgesamt 31 Vorhaben mit rund 3,9 Millionen Franken. Davon befassen sich acht Projekte explizit mit Mobilität. Sie zielen hauptsächlich darauf ab, «kurze Wege, Bewegung und Begegnung» zu fördern.

➜ Aktuelle oder kürzlich abgeschlossene Projektbeispiele:

Innotour

Der Bund unterstützt die aktuelle Programmperiode 2020–2023 zur Förderung von Innovation, Zusammenarbeit und Wissensaufbau im Tourismus (Innotour) mit 30 Millionen Franken. Schwerpunkte des vom SECO koordinierten Programms liegen nebst neuen touristischen Dienstleistungen auf der Beherbergung, Verpflegung und der Gästebetreuung sowie dem Transport und Verkehr. Schliesslich entlasten nachhaltige touristische Mobilitätslösungen das Gesamtverkehrssystem Schweiz, in dem der Freizeitverkehr bekanntlich eine dominante Rolle spielt.

➜ Projektbeispiele:

Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO)

Die KOMO ist beim Bundesamt für Energie angesiedelt. Sie unterstützt jährlich bis zu einem Dutzend Projekte für zukunftsfähige Mobilitätslösungen. Die finanziellen Mittel stammen aus dem Programm «EnergieSchweiz». KOMO-Projekte werden von den Bundesämtern ARE, Astra, BAV, BAFU und BAG mitfinanziert. Im Mittelpunkt der Förderung stehen Lösungen für umwelt-, ressourcenschonende und gesunde Fortbewegungsarten. Das Spektrum der Projekte reicht von der App für ein einfacheres Parkplatzmanagement bis hin zu Massnahmen zur Förderung des ÖV und des Langsamverkehrs.

➜ Aktuelle Projektbeispiele:

Weitere Projekte finden Sie in der regiosuisse-Datenbank: regiosuisse.ch/projektdatenbank

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Verkehrsperspektiven 2050

Die «Verkehrsperspektiven 2050» skizzieren vier mögliche Entwicklungsszenarien, wobei das Basisszenario im Zentrum der künftigen Planung steht. Demzufolge wird der Personenverkehr in der Schweiz über sämtliche Verkehrskategorien hinweg bis 2050 um 11 Prozent (gemessen in Personenkilometern) wachsen. Der Hauptgrund dafür: Auch die Bevölkerung wird im selben Zeitraum weiterwachsen, und zwar um über 20 Prozent auf 10,4 Millionen Menschen. Deutlich höhere Steigerungsraten erwartet das UVEK im Freizeitverkehr, der bereits heute für 44 Prozent aller Tagesdistanzen verantwortlich ist. Beim Einkaufsverkehr wird mit einem Plus von 15 Prozent gerechnet, derweilen der Arbeitsverkehr gegenüber heute um 13 Prozent schrumpfen soll. Treiber dieser Entwicklung sind die demografische Alterung beziehungsweise der sinkende Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung und vor allem weniger Pendlerverkehr dank mehr Homeoffice.

Veränderungen zeichnen sich auch beim Modalsplit ab: Die fortschreitende Urbanisierung und der weitere Ausbau des ÖV werden dazu führen, dass die Leute in den Städten künftig weniger mit dem eigenen Auto fahren. Bereits heute verfügt in den grössten Städten rund die Hälfte der Haushalte über kein eigenes Motorfahrzeug, während ein solches in ländlichen und peripheren Gebieten auch in Zukunft unentbehrlich scheint. Zwar dürfte der motorisierte Individualverkehr (MIV) bis 2050 laut VP 2050 um 5 Prozent zurückgehen, aber immer noch 68 Prozent des gesamten Personenverkehrs ausmachen. Der ÖV könnte unter dem Strich seinen Anteil bis 2050 um 3 auf 24 Prozent steigern. Deutliche Fortschritte, wenn auch auf tiefem Niveau, dürfte es beim Veloverkehr geben: Das Velo könnte seinen Anteil von 2 auf 4 Prozent verdoppeln.

Beim Güterverkehr rechnet das UVEK mit einem weiterhin starken Wachstum von 31 Prozent auf 36  Milliarden Tonnenkilometer. Die Schiene dürfte dabei bis 2050 im Modalsplit 2 Prozentpunkte zulegen und neu einen Anteil von 39 Prozent am gesamten Güterverkehr stellen. Der überwiegende Teil aller Tonnenkilometer dürfte aber auch im Jahr 2050 auf die Strassen fallen.

Mobilitätsverhalten der Schweizer Bevölkerung 2021

2021 entfielen rund 43 Prozent des inländischen Verkehrsaufkommens auf die Freizeitmobilität. Zweitwichtigster Mobilitätszweck war 2021 der Arbeitsverkehr, gefolgt vom Einkaufsverkehr. Insgesamt wurden im Inland pro Person und Tag 30,0 km zurückgelegt, 6,8 km weniger als sechs Jahre zuvor. Aufgrund der Pandemie war die Bevölkerung zum ersten Mal seit Jahrzehnten weniger mobil. Das E-Bike war das einzige Verkehrsmittel, das trotz Pandemie stärker genutzt wurde.

Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheiden sich in ihrem Mobilitätsverhalten zum Teil erheblich. Besonders mobil waren mit einer mittleren Tagesdistanz von 40,2 km pro Person junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren. Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gemeinden legten 2021 ein Viertel mehr Kilometer zurück als die Städterinnen und Städter.

Aus Sicht der Bevölkerung sind Verbesserungen im öffentlichen Verkehr und die Reduktion der Umweltauswirkungen des Verkehrs wichtiger als Verbesserungen im Velo-, Strassen- oder Fussverkehr.

Literatur

BSF/ARE (2023): Verkehrsverhalten der Bevölkerung 2021. Wichtigste Ergebnisse des Mikrozensus Mobilität und Verkehr. Neuchâtel.

Müller-Jentsch Daniel, Avenir Suisse (2020): Zentrumstäler: Die Haupttäler als Entwicklungsachsen des Berggebiets.

Wüest Partner (2021): Berggebiete: Sozioökonomische Analyse, eine empirische Grundlagenstudie im Auftrag des SECO.

Nachhaltige Freizeitmobilität braucht Infrastrukturen und Services

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Die Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität ist ein zentrales Ziel der nationalen Verkehrspolitik. Wie kann auch der Ausflugs- und Freizeitverkehr, der für viele ländliche Regionen und Berggebiete eine wesentliche Basis für die Wirtschaft darstellt, dieses Ziel erfüllen. Diese Frage diskutierten Emilie Moreau, bei Jura Tourisme verantwortlich für die Angebotsentwicklung und Mitglied der Geschäftsleitung, Vincent Kaufmann, Professor für Mobilitätsanalyse an der EPFL in Lausanne und wissenschaftlicher Direktor des «Forum Vies Mobiles» in Paris, sowie Stefan Maissen, Gründer und Geschäftsführer der Rent-a-bike AG.

regioS: Fast die Hälfte der heutigen Verkehrsleistung dient Aktivitäten in der Freizeit. Was muss sich ändern, damit der Freizeitverkehr, speziell auch der Ausflugs- und Ferienverkehr, nachhaltiger wird?

Vincent Kaufmann: Wir müssen verschiedene Arten von Freizeitmobilität auseinanderhalten. Der Tourismus in den Städten mit dem Besuch von Grossveranstaltungen, Ausstellungen und Sehenswürdigkeiten unterscheidet sich sehr stark vom Tourismus in den ländlichen Naherholungsregionen und in den alpinen Feriendestinationen. Wir müssen also genau unterscheiden, welche Freizeitaktivitäten damit abgedeckt werden. Zudem sind die unterschiedlichen Bedürfnisse der Erholungsuchenden zu beachten. Derzeit wächst die ältere Bevölkerung anteilsmässig sehr stark. Die Altersgruppe dieser über Sechzigjährigen verfügt über viel Freizeit und hat spezifische Bedürfnisse in Bezug auf Raum, Mobilität und Komfort. Hinzu kommt, dass neue Verkehrs- und Mobilitätslösungen in jedem Fall nachhaltig und CO2-neutral sein sollten – dies auch in ländlichen Gebieten, wo der Leidensdruck noch geringer ist und die Wirksamkeit nachhaltiger Massnahmen weniger offensichtlich scheint als in den urbanen Gebieten. Dort ist heute jedermann klar, dass wir um neue und kreative Mobilitätsangebote und -lösungen nicht herumkommen.

Welche Strategien und Angebote erweisen sich als erfolgversprechend?

Vincent Kaufmann: Die zwei wichtigsten Schlüsselbegriffe sind «Komfort» und «Service». In Bezug auf Komfort haben die SBB einiges in die Wege geleitet, etwa wenn es um den Gepäcktransport oder das Platzangebot für betagte Reisende oder Familien mit Kindern geht. Zum Komfort gehört auch die Möglichkeit der Direktfahrt mit dem ÖV in die Feriendestinationen. In der Schweiz selbst ist das ÖV-Angebot diesbezüglich schon recht gut. Was aber beim Reiseverkehr stark ins Gewicht fällt, ist der internationale Massstab. Es gibt leider immer weniger touristische Destinationen jenseits unserer Grenzen, die wir mit einem Zug aus der Schweiz direkt erreichen können. Wer heute mit dem Zug von Genf nach Marseille reist, muss mindestens zweimal umsteigen.

Vincent Kaufmann © regiosuisse

Was würde zu einem besseren Service gehören?

Vincent Kaufmann: Betreffend Service wünsche ich mir all jene Dienstleistungen, die einen Ausflug oder eine Ferienreise angenehm machen. Dazu gehören auch entsprechende Angebote am besuchten Ort. Vor Jahren konnte ich beim Langlaufen im Obergoms auf einen Wachsservice direkt an der Loipe zählen – ein Angebot, das es heute nicht mehr gibt. Es ist widersprüchlich, die nachhaltige Mobilität und den ÖV aus- und gleichzeitig die Dienstleistungen für den weiteren Reisebedarf abzubauen. Die Leute steigen nur dann auf den ÖV um, wenn sie die Gewissheit haben, während der ganzen Reise mit all ihren persönlichen Bedürfnissen und Komfortansprüchen gut versorgt zu sein. Die Möglichkeiten, den Reisenden einen guten Service zu bieten, sind längst nicht ausgeschöpft.

Der Jurabogen ist ein ländlich geprägter und teilweise peripherer Raum mit attraktiven Ausflugszielen, insbesondere für Tages- und Wochenendgäste aus den städtischen Zentren. Welche Probleme stellen sich konkret im Jurabogen?

Emilie Moreau: Wir haben etliche Unterkünfte, die ausserhalb gut erreichbarer Orte wie Saignelégier liegen, an Standorten ohne direkten ÖV-Anschluss. Diese Unterkünfte sind verkehrstechnisch ein grosses Problem. Für die Gäste ist es klar, dass sie besser mit dem Auto anreisen, um diesen letzten Streckenabschnitt komfortabel überbrücken zu können. Leider ist unser Angebot an Unterkünften und Aktivitäten über ein Gebiet verstreut, wo längst nicht jede Stelle gut erschlossen ist. Die zweite Herausforderung betrifft die Dienstleistungen. Nicht alle Züge und Busse sind beispielsweise so ausgestattet, dass sie Fahrräder transportieren können. Zudem gibt es für den Gepäcktransport, namentlich jenen der SBB, bis anhin keine guten Lösungen. Warum könnten nicht Einheimische, die gewisse Strecken regelmässig mit dem Auto zurücklegen, eine Art Transportservice anbieten? So müssten Touristinnen und Touristen, die mit dem ÖV anreisen, sich nicht zusätzlich um ihr Gepäck kümmern. Leider stecken diese Ideen noch in den Kinderschuhen, und es gibt noch viele offene Fragen bezüglich Preisen, Versicherungen, Verantwortung usw. Persönlich bin ich überzeugt, dass sich schnell gute Lösungen entwickeln liessen. Im Kanton Jura sind beispielsweise täglich 340 Spitex-Fahrzeuge unterwegs. Diese fahren jeweils nur zu den pflegebedürftigen Personen, hätten aber durchaus Transportkapazitäten für das Gepäck von Touristinnen und Touristen.

Stefan Maissen, wie sehen Sie als Geschäftsführer von Rent-a-bike Ihr eigenes Angebot: Trägt die Velovermietung an Bahnhöfen zu einer nachhaltigeren Entwicklung des Freizeitverkehrs bei? Oder verursacht sie einfach Mehrverkehr?

Stefan Maissen: Zentral an unserem Angebot ist die Einwegmiete von A nach B. Ich kann beispielsweise von Basel nach Lugano fahren oder von Lausanne nach Genf. Diese Einwegmiete ist für uns der eigentliche Grund, eng mit der Bahn zusammenzuarbeiten. Wer mit dem Velo an einem Punkt A startet und an einen Punkt B fährt, für den ist zur Komplettierung der Reise die Bahn das ideale Verkehrsmittel. Unsere Kundinnen und Kunden reisen daher zu einem sehr grossen Teil mit der Bahn an, einfach weil es am meisten Sinn macht. Vergleichen wir unseren Modalsplit mit dem sonstigen Freizeitverkehr in der Schweiz, schneiden wir je nach Angebot um den Faktor 2 bis 3 besser ab. Die Bahnhofsnähe ist für unseren Service entscheidend. Sobald wir einige Kilometer weg sind vom Bahnhof, wird das Auto wieder zum Anreisemittel erster Wahl. Ein weiterer Punkt ist, dass wir auch für Ferien im Jura, Tessin oder in Graubünden vor Ort den entsprechenden Service bieten. Im ganzen Jurabogen haben wir beispielsweise Mietstationen. Diese sind im Sommer sehr gut ausgelastet von Leuten, die bequem mit der Bahn angereist sind und ihre Sportferien geniessen. Die Einwegmiete von A nach B sowie die Vermietung am Ferienort sind die beiden Punkte, die dazu führen, dass die Leute aufs eigene Auto verzichten. Wichtig ist zudem, diese Services zu kommunizieren und ins Gesamtangebot der Hotels zu integrieren.

Stefan Maissen © regiosuisse

Das Fahrrad boomt derzeit, vor allem in der E-Bike-Version. Kann es eines Tages eine entscheidende Rolle im Freizeit- und vor allem auch im Tourismusbereich übernehmen? Oder bleibt es eine Nische?

Stefan Maissen: Grundsätzlich wächst mit dem Angebot auch die Nachfrage. Was in der Schweiz vielerorts fehlt, sind sichere Velowege. Das Problem stellt sich weniger im ländlichen Raum, wo es viele spannende und sichere Routen gibt, sondern vielmehr in den Städten und Kleinstädten. In Mailand oder Bozen kann ich auf einem vier Meter breiten Radweg mitten ins Zentrum fahren. Wollen wir das Fahrrad künftig im Tourismus besser nutzen, braucht es auch in der Schweiz eine bessere Infrastruktur mit besseren Radwegen, die vom motorisierten Verkehr getrennt sind.

Vincent Kaufmann: Wir sollten auch beim Fahrrad die ältere Bevölkerung nicht vergessen. Man kann nicht einfach die Siebzigjährigen aufs Fahrrad setzen ohne zusätzliche Infrastrukturen, die mehr Komfort und Sicherheit bieten. Die Leute aus meiner Generation und aus der Generation meiner Kinder mögen zwar bereits eingefleischte Fahrradfahrerinnen und -fahrer sein. Dabei dient das Fahrrad nicht nur als ideales Transportmittel, sondern auch als Fitnessgerät. Verbesserte Infrastrukturen könnten die Nutzung des Fahrrads fördern. In der Drei-Seen-Region, wo ich ursprünglich herkomme, war Radfahren geradezu gefährlich. Das ist heute immer noch so. Wir brauchen bessere Infrastrukturen, nationale Routen und Wege, die in einem dichten Netz miteinander verbunden sind.

Gibt es im Jura Projekte zur Verbesserung der Fahrradinfrastruktur?

Emilie Moreau: Im Jura gibt es aktuell ein Projekt auf Kantonsebene, in das verschiedene Akteurinnen und Akteure involviert sind. Grössere Orte wie Saignelégier oder St. Ursanne werden mit öffentlichen Fahrradstationen und Fahrrädern ausgestattet. Zudem werden Hotels unterstützt, die ein spezielles Angebot für Gäste mit Fahrrad bieten. Diese können sich dann als «Bike-Hotels» vermarkten. Auch verschiedene Gemeinden fördern den Fahrradtourismus. Beim Kanton fehlt jedoch das Geld, um in nächster Zeit in Velorouten zu investieren.

Emilie Moreau © regiosuisse

Auch nationale Instrumente und Förderprogramme unterstützen Projekte zur Entwicklung zukunftsweisender Verkehrs- und Mobilitätslösungen. Was tragen diese Förderinstrumente bei, die enormen Herausforderungen zu bewältigen?

Stefan Maissen: Wir haben, um nur ein Beispiel zu nennen, die «Herzschlaufe rund um den Napf» mit einem Projekt der Neuen Regionalpolitik (NRP) realisiert. Mit Innotour haben wir den «Bikepark Jura» im Val de Travers geschaffen und neue Routen auf den Creux du Van signalisiert. Geht es um lokale oder regionale Projekte, sind die Förderprogramme sehr wertvoll. Es fehlt jedoch die Übersicht. Man bekommt nicht immer mit, was alles läuft und was überhaupt möglich wäre. Ich würde mir eine bessere Koordination der verschiedenen Fördergefässe wünschen und in vielen Bereichen natürlich auch mehr finanzielle Mittel. Es ist leider immer wieder so, dass die regionalen Träger und die privaten Unternehmen grosse Teile des Budgets tragen müssen. Geht es um die Infrastruktur, ist dies nicht immer nachvollziehbar. Gerade für den besonders wichtigen Ausbau der Infrastruktur fehlen häufig die Mittel. Die Förderprogramme genügen nicht, wenn es gilt, Regionen rasch aufzurüsten, die heute über kein gutes Angebot verfügen. Die Kantone oder der Bund müssen die Führungsaufgabe übernehmen, die sie mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Veloweggesetz (VWG) gefasst haben.

Emilie Moreau: In den Bereichen des Transports und der Mobilität ist nach unseren Erfahrungen Innotour das wirksamste Förderinstrument. Im Rahmen der NRP stossen wir hingegen immer wieder an Grenzen, weil über dieses Instrument nur begrenzt Infrastrukturen finanziert werden.

Vincent Kaufmann: Alle Förderprogramme haben ihre Stärken und sind wichtige Instrumente, weil sie Experimente und Pilotprojekte zulassen. Was darüber hinaus jedoch fehlt, ist ein Denken in grösseren Massstäben und der Wille, wirklich eine nationale Politik zu machen. Zum Beispiel haben wir jetzt viel über nachhaltige Mobilität gesprochen, aber nicht übers Auto. Solange jedoch alle sich im Auto weiterhin günstig und frei fortbewegen können, bleibt es schwierig, nachhaltigen Alternativen zum Durchbruch zu verhelfen.

Das alte deutsche Wort für Tourismus ist «Fremdenverkehr»; Tourismus ohne Mobilität und Verkehr ist schlicht undenkbar. Oder doch?

Stefan Maissen: Was im Tourismus unter Nachhaltigkeit angeboten wird, wirkt oft ein bisschen hilflos. Natürlich kann man vor Ort lokale Produkte geniessen und den lokalen ÖV benutzen. Aber die ökologische Gesamtwirkung solchen Verhaltens ist gering, wenn ich von Asien anreise oder umgekehrt. Man kann hier also nur versuchen, das Nahe zu propagieren. Das heisst dann auch, dass wir als Schweizer Unternehmen die Leute motivieren, hier die Freizeit mit dem Bike zu verbringen und nicht beispielsweise nach Kanada zu fliegen. Der grosse Hebel in der Gesamtwirkung ist, dass die Leute auf Fernreisen verzichten und stattdessen in der Nähe bleiben. Wir als Dienstleister versuchen, unsere Angebote so attraktiv zu gestalten, dass die Leute wirklich auch Lust verspüren, in der Schweiz Fahrradferien zu machen.

Emilie Moreau: Der Jura kämpft – nicht ohne Grund – gegen das Image, schwer zugänglich und schlecht erschlossen zu sein. Er wirkt deshalb immer weiter entfernt, als er tatsächlich ist. Dieses Problem ist schwierig zu lösen. Das Auto ist deshalb immer noch das bevorzugte Verkehrsmittel, um in den Jura zu gelangen. Das dürfte sich auch nicht so schnell ändern, zumal seitens der Politik kein Willen für Veränderungen zu spüren ist.

Vincent Kaufmann: In ganz Europa beobachten wir zunehmend junge Leute zwischen 25 und 35, die gut gebildet sind, aus dem urbanen Raum kommen und entweder keinen Führerschein besitzen oder einfach keine Lust haben, sich in den Ferien mit dem Auto fortzubewegen. Diese Leute sind tendenziell recht gut situiert. Und sie wählen ihre Feriendestination anhand des Kriteriums, ob sie ohne Auto gut erreichbar ist. Es müsste das Ziel sein, dieser Gruppe von Leuten auch möglichst viele Feriendestinationen in der Schweiz leicht zugänglich zu machen.

Was wäre die wichtigste Massnahme im Hinblick auf eine nachhaltigere Mobilität im Freizeit- und Tourismusbereich?

Stefan Maissen: Infrastrukturen im Fahrradbereich ausbauen. Das kostet zwar viel Geld, angesichts der gesamten Investitionen in den Strassenbau müsste das aber eigentlich finanzierbar sein. Viel helfen würden auch gute ÖV-Direktverbindungen – nicht nur die klassischen Pendlerfahrpläne, sondern Direktzüge in die Tourismusregionen, und zwar mitsamt Gepäckservice und Velotransport.

Vincent Kaufmann: Abonnements und gute Angebotspakete sind entscheidend. Ganz wichtig ist auch die Koordination der Fahrpläne. Wenn man zum Beispiel am Wochenende ins Wallis reist, fährt das letzte Postauto in Sitten um 19 Uhr. Um dieses zu erreichen, muss man vor 18 Uhr in Lausanne und vor 17 Uhr in Genf abreisen, was für viele Berufstätige nicht möglich ist. Solch rücksichtlose Fahrpläne vermitteln den Leuten das Gefühl, dass sie nicht mit den ÖV anreisen sollen. Dichtere Fahrpläne bedeuten Zusatzkosten, die aber nicht zu vermeiden sind, wenn man die Gewohnheiten der Leute ändern will.

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Kreislaufwirtschaft – die besonderen Chancen der Regionen

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Kreislaufwirtschaft (KLW) steht schon seit Jahrzehnten auf der ökologischen Agenda. Mittlerweile ist daraus ein ausgereiftes und umfassendes Konzept für nachhaltiges Wirtschaften entstanden. Es soll nun in der gesamten Wirtschaft umgesetzt werden und damit auch im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP) die regionale Entwicklung inspirieren.
Die Firma Basis 57 nachhaltige Wassernutzung AG nutzt in Erstfeld UR das warme und saubere Bergwasser aus dem NEAT- Gotthardtunnel für die Zander-Zucht. © regiosuisse

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In der globalen Wirtschaft stammen 90 Prozent der Materialien aus neu gewonnenen Rohstoffen, 40 Prozent davon sind fossile Energieträger. Angesichts dessen ist eine ressourcenschonende Wirtschaftsform vonnöten. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft bietet einen Lösungsansatz, der auf einem System aus erneuerbaren Energien und geschlossenen Materialkreisläufen basiert. Alle bedenklichen Stoffe, die die Umwelt belasten und die Gesundheit gefährden, sollten durch unbedenkliche ersetzt werden.

Das Prinzip der Kreislaufwirtschaft

Als Begründer der Kreislaufwirtschaft (KLW) gilt der britische Wirtschaftswissenschafter David W. Pearce. Zu Beginn der 1990er-Jahre leitete er das Konzept der Kreislaufwirtschaft aus der industriellen Ökologie ab. Der Deutsche Michael Braungart, Professor für chemische Verfahrenstechnik, und der amerikanische Architekt William McDonough entwickelten diesen Ansatz um die Jahrtausendwende konsequent weiter. In ihrem Buch «Cradle to Cradle»1 («Von der Wiege zur Wiege») propagierten sie ein fundamental neues Produktionssystem: Keine Stoffe landen mehr auf der Deponie oder in der Verbrennungsanlage. Alle nicht natürlich abbaubaren Stoffe werden stattdessen zur Produktion neuer Güter wiederverwendet.

In der Kreislaufwirtschaft nach dem «Cradle-to-Cradle»-Prinzip unterscheiden sie drei
Kategorien von Stoffen:


➊ Verbrauchsgüter wie Reinigungsmittel, Shampoos oder Verpackungsmaterialien sind in der Kreislaufwirtschaft konsequent aus biologischen Nährstoffen zu fertigen, sodass sie schliesslich kompostiert und getrost wieder der Umwelt überlassen werden können.


➋ Gebrauchsgüter wie Autos, Waschmaschinen oder Fernsehgeräte, die aus «technischen Nährstoffen» bestehen, sind so zu gestalten, dass sie am Ende ihres Lebenszyklus restlos in wiederverwertbare Bestandteile zerlegt werden können. Die Stoffe dieser Gebrauchsgüter zirkulieren also im industriellen Produktionssystem in einem ewigen Kreislauf.


➌ Ausgedient hat in der Kreislaufwirtschaft die dritte Kategorie, alle jene Stoffe, die wir heute als Abfall verbrennen oder deponieren.

«Es geht in der Kreislaufwirtschaft nicht einfach darum, Abfälle zu reduzieren oder zu minimieren, sondern die Entstehung von Abfall zu vermeiden», betont Michael Braungart, einer der geistigen Väter des Konzepts. Lassen sich Stoffe in Gebrauchsgütern (noch) nicht durch kreislauffähige Alternativen ersetzen, gilt es, den Ressourcenverbrauch zumindest zu reduzieren und die Produkte länger zu gebrauchen.

Kreislaufwirtschaft ist ein ganzheitlicher Ansatz, der den gesamten Kreislauf von der Rohstoffgewinnung über die Design-, Produktions-, Distributions- und eine möglichst lange Nutzungsphase bis hin zum Recycling betrachtet. Gelingt es, Material- und Produktkreisläufe zu schliessen, können Rohstoffe immer wieder von neuem verwendet werden. © BAFU/regiosuisse

Ein globales interdisziplinäres Projekt

Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern bildet eine unabdingbare Voraussetzung für eine künftige Kreislaufwirtschaft. Mit der Energiewende ist die Schweiz diesbezüglich politisch auf Kurs, die Rück- beziehungsweise die Überführung sämtlicher Materialflüsse in einen Kreislauf bildet hingegen eine enorme Herausforderung. Damit die Transformation gelingt, bedarf es weiterer Weichenstellungen – auch auf politischer Ebene. «Es gibt für die Hersteller keine Notwendigkeit, freiwillig dem ‹Wiege-zur-Wiege›-Prinzip zu folgen, solange die Steuerzahlenden für die Entsorgung in den teuren Kehrichtverbrennungsanlagen aufkommen», bemängelt Braungart. Die Transformation der linearen in eine zirkuläre Wirtschaft ist ein globales interdisziplinäres Projekt, in das alle Akteurinnen und Akteure eingebunden werden müssen, von der Rohstoffgewinnung über die Entwicklung und das Design der Produkte, die Herstellung und Distribution/Logistik, den Konsum bis hin zum Abfallmanagement. Letzteres sorgt dafür, dass die Stoffe nicht länger «entsorgt» werden, sondern zwingend als Sekundärrohstoffe in den Kreislauf zurückfliessen. Doch betrifft die Kreislaufwirtschaft auch die Formen der Nutzung und damit der Geschäftsmodelle. Die Devise lautet: mieten (statt kaufen), teilen/sharing (statt besitzen), reparieren/wiederaufbereiten/erneuern (statt wegwerfen)! Die Konsumentinnen und Konsumenten können mit ihren Konsumgewohnheiten und Verhaltensmustern wesentlich zum Wandel beitragen.

Mit Kreislaufwirtschaft ökonomisch erfolgreich

Im Bereich der Produktion sind vor allem die Unternehmen gefordert. Verschiedene Pioniere
haben mit Produkten wie Stühlen, Turnschuhen oder Teppichböden bereits gezeigt, dass kreislaufähige Geschäftsmodelle wirtschaftlich erfolgreich sein können. Die Firma Forster Rohner in St.Gallen hat vor Jahren kompostierbare Polsterbezüge für Büro- und Flugzeugstühle entwickelt. Die strengen Vorgaben des Labels «Cradle to Cradle» erfüllen allerdings erst wenige Unternehmen. Vögeli Druck in Langnau im Emmental zum Beispiel hat 2016 als weltweit erste Druckerei die «Cradle-to-Cradle»-Goldzertifizierung (Cradle to Cradle Products Innovation Institute, c2ccertified.org) erhalten.

In der Metall- und Maschinenindustrie führt der Weg zur Kreislaufwirtschaft meist über einen mehrstufigen Optimierungsprozess. Der Schweizer Küchenhersteller Franke verbraucht für seine Edelstahlspülen dank Prozessverbesserungen heute drei Viertel weniger Energie als noch vor wenigen Jahren und bloss noch halb so viel Edelstahl. In der Industrie ist es heute Standard, dass viele Metalle, vor allem Platin, Gold und Palladium, rezykliert werden; einfach weil diese Stoffe zu wertvoll sind, um im Abfall zu landen, und sich viele Metalle ohne Qualitätseinbusse problemlos für einen nächsten Produktionszyklus aufbereiten lassen. Rund 1,6 Millionen Tonnen Eisen- und Stahlschrott werden so in der Schweiz jährlich zu Bau- und Edelstahl aufbereitet. Ausserdem gelangen 3,2 Millionen Tonnen separat gesammelte Siedlungsabfälle wieder in den Kreislauf. Im Hoch- und Tiefbau werden knapp 12 Millionen Tonnen oder zwei Drittel der Rückbaumaterialien wie Beton, Kies, Sand, Asphalt und Mauerwerk wiederverwertet. «Weitere 5 Millionen Tonnen Rückbaumaterialien sowie 2,8 Millionen Tonnen Siedlungsabfälle sind hingegen (noch) nicht im Kreislauf», sagt David Hiltbrunner von der Sektion Rohstoffkreisläufe des Bundesamtes für Umwelt (BAFU). Eine besondere Herausforderung bleiben vorderhand Textilfasern, Kunst- und Verbundstoffe, Elektroschrott, Chemikalien sowie gewisse biogene Abfälle. Es sind Stoffe, die sich – wenn überhaupt – nur mit enormem Aufwand zerlegen und wiederaufbereiten lassen. Allerdings wächst auch in diesen heiklen Bereichen die Zahl der Firmen, die nach Prinzipien der Kreislaufwirtschaft innovative Geschäftsmodelle entwickeln. So bietet etwa die Möbelhandelsfirma Pfister seit 2018 entsprechend zertifizierte Vorhänge an. Das Start-up trs (Tyre Recycling Solutions) in Yvonand VD macht alte Pneus wieder verkehrstüchtig, und die Firma Bauwerk in St. Margrethen SG bereitet alte Parkettböden auf.

© regiosuisse

Abschied von der Wegwerfgesellschaft

Damit auch komplexe Konsumgüter wie Waschmaschinen, Computer oder Autos kreislauffähig werden, sind griffige politische Rahmenbedingungen erforderlich. Die EU-Ökodesign- und Abfallrahmenrichtlinien verlangen ausdrücklich die Förderung nachhaltiger Produktions- und Konsummodelle, insbesondere eine Gestaltung, die auf Langlebigkeit ausgerichtet ist, sowie die Reparierbarkeit von Elektrogeräten, Massnahmen gegen Lebensmittelverschwendung und Informationskampagnen in der Bevölkerung. Einzelne Länder sind in der Umsetzung schon weit. Die Niederlande etwa setzen in der öffentlichen Beschaffung seit zehn Jahren gezielt auf Güter, die nach dem «Wiege-zur-Wiege»-Prinzip gefertigt sind, und geben für die öffentliche Beschaffung nach Kreislaufwirtschaft-Kriterien zweistellige Milliardenbeträge aus. Mit dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft («Circular Economy Action Plan») hat die EU ihre Bemühungen 2020 nochmals verstärkt. Derzeit wird darüber diskutiert, die Ökodesign-Richtlinien auf sämtliche Konsumgüter auszuweiten, denn die EU möchte sich dereinst definitiv vom System der Wegwerfgesellschaft verabschieden. Die EU-Richtlinien gelten auch für alle Schweizer Hersteller, die Produkte in die EU-Länder exportieren möchten.

Es ist kein Zufall, dass das Ökodesign im EU-Aktionsplan an erster Stelle steht: Bis zu 80 Prozent der späteren Umweltbelastung eines Produktes werden in der Design-Phase vorbestimmt, ebenso dessen Lebensdauer und Reparaturanfälligkeit. Zudem gilt die ökologische Faustregel: Suffizienz vor Kreislauf! Ein schonender Umgang mit Ressourcen, der sich auf das Notwendigste beschränkt, vermeidet Leerläufe und erspart viel späteren Aufwand. «Zur Kreislaufwirtschaft tragen alle Strategien bei, die helfen, die Stoffe und Materialien sparsamer, effizienter und länger zu verwenden», meint Hiltbrunner.

Die Agenda der Schweiz

Auch in der Schweiz steht die Kreislaufwirtschaft auf der politischen Agenda weit oben. Aus gutem Grund: In kaum einem anderen Land fällt – trotz hoher Recyclingquoten – pro Kopf der Bevölkerung so viel Siedlungsabfall an wie in der Schweiz.

Im Parlament sind mindestens acht Vorstösse hängig, die sich auf die Kreislaufwirtschaft beziehen, als wichtigste die parlamentarische Initiative 20.433 «Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken» und der Bericht der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrates vom 11. Oktober 2021. Eine aktuelle Standortbestimmung zur Kreislaufwirtschaft hat der Bundesrat in diesem Frühjahr vorgenommen. Relevante Potenziale für die Kreislaufwirtschaft gibt es demnach vor allem in den Bereichen «Bauen und Wohnen», «Land- und Ernährungswirtschaft», «Mobilität», «Maschinenbau» sowie «chemische Industrie».Die Bundesverwaltung hat eine ganze Reihe von Vorschriften und Normen identifiziert, die eine Kreislaufwirtschaft noch behindern. Wie sich diese Hürden beseitigen lassen, wird abgeklärt. Klar scheint, dass die Aspekte einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft künftig in die Sektoralpolitiken des Bundes einfliessen müssen. Laut Bundesrat geschieht dies am besten in Übereinstimmung mit der «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» (SNE 2030) des Bundes und mit den nationalen Langfriststrategien zur Klima-, Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik.

© regiosuisse

Weiterentwicklung der NRP

Die explizite Förderung der Kreislaufwirtschaft – bisher kein Programmpunkt der NRP – dürfte als ein Element in die nächste Programmperiode einfliessen. Dies deckt sich auch mit dem Anliegen von Romed Aschwanden, dem Geschäftsführer des Urner Instituts «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern, wonach die NRP radikal am Prinzip der Nachhaltigkeit auszurichten sei. «Denn die Lohnungleichheit ist nicht länger das eigentliche Problem in den Randregionen und Berggebieten, sondern der Klimawandel», argumentiert er.

Bei den zuständigen Ämtern, allen voran dem SECO und den kantonalen NRP-Fachstellen, laufen bereits die notwendigen Vorarbeiten. Den Rahmen für die Weichenstellung setzen die siebzehn Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDS) der Vereinten Nationen (UNO). Diese sogenannte «Agenda 2030» bildet für die Schweiz bereits heute den Orientierungsrahmen für die «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030». Entsprechend kann sich die Direktion für Standortförderung des SECO darauf stützen, wenn es gilt, die Ideen und Ziele der nachhaltigen Entwicklung in der NRP zu verankern. «Im Schwerpunktthema ‹nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion› wird die Kreislaufwirtschaft eine wichtige Rolle spielen», sagt Ueli Ramseier, der die Arbeiten für die Nachhaltigkeit in der NRP beim SECO koordiniert. Zudem fördert die NRP mit dem Schwerpunkt «Klima, Energie und Biodiversität» seit Jahren erneuerbare Energien und die Gestaltung nachhaltiger und resilienter Siedlungsräume.

Die Abstimmung der NRP auf die nachhaltige Entwicklung ist als Weiterentwicklung und Ergänzung der NRP zu verstehen, nicht als Systemwechsel. Die Beiträge zu den gesellschaftlichen und ökologischen Aspekten der nachhaltigen Entwicklung sollen in der Programmperiode 2024–2027 weiter ausgestaltet und stärker gewichtet werden. Die NRP wird jedoch auch in Zukunft ihren regionalwirtschaftlichen Fokus beibehalten, die kantonalen NRP-Fachstellen und das SECO sollen aber vermehrt NRP-Projekte mitfinanzieren, die die Kreislaufwirtschaft ins Zentrum stellen. «An den übergeordneten Zielen – die Wettbewerbsfähigkeit der Regionen zu stärken, Arbeitsplätze zu schaffen, eine dezentrale Besiedlung zu erhalten und regionale Disparitäten abzubauen – hält die NRP fest», betont Ramseier.

Stärken der Regionalpolitik nutzen

Bei der Förderung der Kreislaufwirtschaft spielen die Regionen eine wichtige Rolle, auch wenn sie sich nicht auf den ersten Blick erschliesst. Dieser Herausforderung hat sich im letzten Jahr regiosuisse – die Netzwerkstelle für Regionalentwicklung – angenommen. «Wir möchten Know-how aufbauen, das notwendige Wissen vermitteln und konkrete Hilfestellungen für Regionen entwickeln», erläutert Lorenz Kurtz, Projektleiter regiosuisse. Im Rahmen der regiosuisse-Wissensgemeinschaft «Kreislaufwirtschaft und Regionalentwicklung» wurde in den vergangenen Monaten relevantes Wissen in Form einer Praxistoolbox mitsamt inspirierenden Beispielen aufbereitet. Um das komplexe Thema für die Regionen umsetzungsreif weiterzuentwickeln, startete regiosuisse im März dieses Jahres mit dem «Kreislaufwirtschafts-RegioLab». Dessen Ziel ist es, aufzuzeigen, wie die Regionen die Kreislaufwirtschaft in ihre regionalen Strategien integrieren können.

Chancen eröffnen sich den Regionen mit der Kreislaufwirtschaft, wenn sie auf Themen und Bereiche fokussieren, die ohnehin bereits regional und weniger global strukturiert sind: Land- und Forstwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Holzverarbeitung, erneuerbare Energien, Infrastrukturen, regionale Dienstleistungen und damit auch der Tourismus. Eine systematische Analyse der Materialflüsse und Produktionsketten in diesen Bereichen zeigt, dass das regionale Potenzial für die Kreislaufwirtschaft riesig ist. Um die Kreislaufwirtschaft zu fördern, sind nebst der Bildungs- und Wissensvermittlung zusätzliche finanzielle Anreize notwendig. Geld braucht es für die Projekte an sich, aber auch für die professionelle Projektbegleitung und die Ausarbeitung regionaler Kreislaufwirtschaft-Entwicklungsstrategien. «Denkbar ist, für besonders anspruchsvolle Projekte der Kategorie ‹5-Sterne-Nachhaltigkeit› den Förderrahmen zu erweitern und dafür künftig mehr Bundesmittel zu sprechen», meint Ramseier.

Norman Quadroni, Leiter Regionalpolitik Arcjurassien, sieht in der Kreislaufwirtschaft eine grosse Chance, den natürlichen Reichtum der ländlichen Regionen, Grenz- und Berggebiete besser zu nutzen. Er ist überzeugt, dass sich damit Ressourcen in Wert setzen lassen, die unter einer rein exportorientierten Entwicklungsperspektive auf der Strecke bleiben würden. «Bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten, die heute international organisiert sind, könnten wieder in die Region zurückgeholt und in kurze Kreisläufe eingebunden werden», so Quadroni. Die Regionen sind dank ihrer Eigenschaften und Qualitäten wie Kleinräumigkeit, Überschaubarkeit und Nähe für die Initiierung von Kreislaufprozessen grundsätzlich prädestiniert. Denn die interdisziplinäre und überbetriebliche Zusammenarbeit in Netzwerken, wie sie die NRP seit Anbeginn praktiziert, ist in der Kreislaufwirtschaft besonders gefragt.

regiosuisse.ch/kreislaufwirtschaft

bafu.ch

Förderer der Kreislaufwirtschaft

Neben regiosuisse engagieren sich verschiedene Organisationen dafür, interessierten Akteurinnen und Akteuren Know-how, Empowerment und Coaching zur Kreislaufwirtschaft anzubieten:

Go for impact Der vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) mitinitiierte Verein «Go for impact» versteht sich als Impulsgeber für die Kreislaufwirtschaft in der Schweiz. Er setzt sich politisch und wirtschaftlich dafür ein, die Kreislaufzukunft der Schweizer Wirtschaft mitzugestalten.

Circular Economy Switzerland Das wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich breit abgestützte Netzwerk richtet sich mit seiner Plattform an alle an der Kreislaufwirtschaft interessierten Organisationen, Firmen und Personen. Es hat eine Charta zur KLW ausgearbeitet und unterstützt sämtliche Initiativen mit Wissen, Veranstaltungen und politischem Lobbying.

CircularHub Die Wissens- und Netzwerkplattform zur Kreislaufwirtschaft in der Schweiz adressiert innovative Unternehmen und Startups mit Ausbildungs-, Beratungs- und Projektbegleitungsangeboten.

Netzwerk Ressourceneffizienz Schweiz (Reffnet) Expertinnen und Experten des Reffnet beraten und begleiten Firmen bei der Erarbeitung eines Massnahmenplans für eine höhere Ressourceneffizienz.

Ressourcendruck-Designmethode Eine Forschungsgruppe an der Empa hat im Rahmen des NFP 73 «Nachhaltige Wirtschaft» die Ressourcendruck-Designmethode entwickelt. Der neue Ansatz soll beim Design von Produkten und Dienstleistungen zu nachhaltigeren Entscheidungen beitragen.

PRISMA Die Interessengemeinschaft von Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie und der Konsumgüterbranche sowie der Verpackungsindustrie strebt die Realisation der Kreislaufwirtschaft im Bereich der Verpackungen an.

Prozirkula Das Kompetenzzentrum engagiert sich für die Integration der KLW-Prinzipien in die öffentlichen und privaten Beschaffungsprozesse. Es bietet Beratung, Wissenstransfer und Networking (siehe auch Artikel Öffentliche Beschaffung – Hebelwirkung für die Kreislaufwirtschaft).

WÖB Wissensplattform des Bundes für nachhaltige öffentliche Beschaffung.

Kompass Nachhaltigkeit Vom SECO finanzierte und von der Stiftung Pusch zusammen mit dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften (öbu) betriebene Wissensplattform.

Die Ideenbörse – Initiativen und Projekte zur Kreislaufwirtschaft

Landwirtschaft/Lebensmittel

Star’Terre Regionale Produktion/regionale Vermarktung/kurze Kreisläufe, interkantonale Lebensmittel-Plattform in der Region Genfersee (vgl. Artikel Vernetzung von Landwirtschaft und Start-ups).

Gemüsebau Gebr. Meier Primanatura AG in Hinwil ZH CO2-freie Gewächshäuser mithilfe von Abwärme der Kehrichtverbrennungsanlage und aus der Luft gefiltertem CO2 – geschlossene Kreisläufe.

Bösiger Gemüsekulturen AG in Niederbipp BE zirkulärer Gemüsebau.

Aquaponik Verbindung von Fischzucht und bodenunabhängiger Landwirtschaft in einem Kreislauf. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW) forscht und lehrt auf diesem Gebiet und bietet Kurse für Einsteiger und Interessenten an.

Energie-Farming Tropenhaus Frutigen Aquakultur mit Fischzucht in Kreislaufanlage.

Food-Waste-Projekte: Start-up/App «Too good to go», Plattform «United against Waste».

«Kreislaufwirtschaft im Seeland» (NRP-Projekt 2021–2023): Restaurants, Bäckereien und Betriebe der Gemeinschaftsgastronomie versuchen zusammen mit weiteren Akteuren (Gemüseproduzenten, Konsumenten), die Kreisläufe der Wertschöpfungskette zu schliessen.

Centravo AG in Lyss BE Das Unternehmen verwertet seit 25 Jahren tierische Bestandteile, die von den Metzgereien nicht genutzt werden.

Fine Funghi AG Das Zürcher Unternehmen produziert Bio-Pilze aus dem Abfall (Weizenkleie) einer Getreidemühle.

RethinkResource Das Start-up hat den B2B-Marktplatz «Circado» aufgebaut, um industrielle Nebenprodukte der Lebensmittelproduktion zu verwerten.

Ricoter Erdaufbereitung AG Das 1981 gegründete Unternehmen produziert in Aarberg BE und Frauenfeld TG Gartenerde aus den organischen Abfällen der Zuckerraffinerien.

Brauerei Locher Appenzell AI agroindustrielles Projekt.

ortoloco – Hofkooperative in Dietikon ZH 500 Personen wirtschaften und entscheiden gemeinsam als Produzentinnen un Produzenten, Konsumentinnen und Konsumenten.

Einkaufsgemeinschaften, bei denen die Konsumenten direkt mit den Produzenten kooperieren: u.a. Tante Emmen, Koop Teiggi Kriens, Plattform Crowd Container, IG Foodcoops.

Qwstion Das Zürcher Taschenlabel hat ein neues textiles Material lanciert, das aus den Fasern der Bananenstaude «gewoben» wird.

Bauwirtschaft/Immobilien

Zirkuläres Bauen (Beat Bösiger, bluefactory), Rückbau, Recyclingbeton, Verwendung von lokalen, nachhaltigen, erneuerbaren Materialien usw., Ausbau Asphalt.

Eberhard Bau AG Das Unternehmen ist seit vier Jahrzehnten Pionier des Baurecyclings. Es verwandelt Bauschutt ohne Qualitätseinbusse in Sekundärrohstoffe.

Weitere Spezialisten des Baurecyclings Ronchi SA in Gland VD, Sotrag SA in Etoy VD, Kästli Bau AG in Rubigen BE,BOWA Recycling in Susten.

Neustark in Bern Die Berner Firma ist spezialisiert auf die Versteinerung von atmosphärischem CO2 in verwertetem Beton.

Integrierte Planung und gemeinsame Bewirtschaftung von Industrie- und Gewerbegebieten Projekte in Le Locle NE, St-Imier NE , im Val-de-Ruz NE, im Sensebezirk BE (Arbeitszonen), in Sierre VS (Ecoparc de Daval), Schattdorf UR usw.

enoki in Fribourg Das Freiburger Start-up entwirft und plant kreislauffähigere Quartiere und Städte.

Terrabloc in Genf Die Genfer Firma Terrabloc produziert Bau- und Dämmstoffe aus Lehm.

VADEME Das Interreg-Projekt zielt auf eine koordinierte Lösung für mineralische Bauabfälle in den Regionen Genf und Annecy ab (vgl. Artikel VADEME: mineralische Abfälle aufwerten).

ORRAP Interreg-Projekt (2016–2019) für das Recycling von Ausbauasphalt in der Region Basel.

Organisatorische und strategische Ansätze

AlpLinkBioEco Das im April 2021 abgeschlossene Interreg-Projekt hat einen Wertschöpfungskettengenerator und einen Masterplan entworfen für eine auf natürlichen lokalen Rohstoffen basierende Kreislaufwirtschaft im Alpenraum.

Sharely Das Start-up betreibt eine Miet- und Vermietungsplattform für Alltagsgegenstände.

Make furniture circular Eine Initiative der Stiftung Pusch und des Migros-Pionierfonds zur Förderung von «Kreislauf-Möbeln».

Reparatur- und Recyclingnetzwerke Verschiedene regionale Initiativen zur Förderung von Reparatur- und Recyclingstellen. Dazu zählen auch Secondhand-Days, Secondhand-Shops, Repair-Werkstätten, Up-Cycling-Stellen usw.

Kreislaufwirtschaft im Parc Naturel Régional Chasseral: Relokalisierung von Wertschöpfungsketten, Erhalt und Inwertsetzung von natürlichen lokalen Ressourcen.

Roadmap Kreislaufwirtschaft des Kantons Freiburg kantonale Strategie.

Plattform 1PEC Ideenbörse zur Förderung der Kreislaufwirtschaft im Wallis.

Kreislaufwirtschaft Oberwallis Kreislaufwirtschaft in einem ländlich abgeschlossenen Gebiet (gefördert durch das Programm «Nachhaltige Entwicklung», ARE, 2022).

Share Gallen Networking-Workshop und öffentlicher Markt in St. Gallen (Projekt aus Förderprogramm «Nachhaltige Entwicklung», ARE, 2018).

Erneuerbare Energien

Biogasanlagen: z.B. Kägiswil OW und Kompogasanlage Wauwil LU, beide durch die NRP gefördert, sowie BiogasTicino SA in der Magadino-Ebene.

Satom SA in Monthey VS Methanisierung von Bio-Abfällen.

Kantonales Programm «Wertschöpfungskette Holz» in der Waadt (NRP-Projekt): Holz wird als nachwachsender Energieträger vom Kanton direkt gefördert.

«Zirkulär in die Zukunft»

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Wie kann die Kreislaufwirtschaft in die Wirtschaft und die Gesellschaft integriert und als zukunftsweisendes Modell einer nachhaltigen Entwicklung gezielt gefördert werden? Welche besonderen Chancen eröffnen sich damit der regionalen Wirtschaft? Diese Fragen diskutierten im Gespräch mit «regioS» Marie-Amélie Dupraz-Ardiot, Sustainability-Managerin und Verantwortliche des Kantons Freiburg für die Strategie «Nachhaltige Entwicklung», Antonia Stalder, Geschäftsführerin von Prozirkula, sowie Ökonomieprofessor Tobias Stucki, Co-Leiter des Instituts Sustainable Business an der Berner Fachhochschule Wirtschaft.

regioS: Kreislaufwirtschaft ist ein älteres Konzept. In der Schweiz hat sich die Abfallkampagne des Bundes bereits in den 1990er-Jahren mit Aspekten davon auseinandergesetzt. Können wir folglich heute auf Bestehendem aufbauen, oder starten wir neu?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Das Konzept der Kreislaufwirtschaft ist heute relevanter als je zuvor. Wir können dabei zwar auf Bestehendem aufbauen, aber wir müssen deutlich mehr machen als bisher. Wir dürfen nicht nur das Recycling ansprechen, sondern müssen eine breitere Perspektive entwickeln, in der Themen wie «Abfall vermeiden», «Reparieren» und «Wiederverwenden» eine grosse Rolle spielen.

Tobias Stucki: Wir haben das Denken in Kreisläufen generell noch zu wenig verinnerlicht. Wir müssen dieses Denken auch bei uns wieder in die Köpfe reinkriegen, so wie das früher normal war und heute in ärmeren Ländern noch ganz normal ist. In einer Vorlesung hat ein Student aus Kuba gesagt: «Kreislaufwirtschaft ist, wie wir bei uns leben.»

Antonia Stalder: Einen – zumindest historischen – Anknüpfungspunkt gibt es auch bei uns. In unseren Schulungen erzählen die Teilnehmenden immer wieder, dass ihre Grosseltern noch auf diese Art und Weise gewirtschaftet hätten. Sie haben zum Beispiel ihre Möbel dreissig Jahre lang zweimal im Monat geölt, um sie möglichst lange nutzen zu können. Wir haben solch sorgfältiges Wirtschaften irgendwie verlernt. Wir sind nicht mehr interessiert daran, Dinge mit langlebiger Qualität zu bauen und sie entsprechend zu unterhalten und zu pflegen. Es geht bei der Kreislaufwirtschaft tatsächlich nicht einfach nur um Recycling, sondern um die richtigen Werte. Diese beruhen darauf, dass die Dinge nicht einfach neu und chic sein müssen, sondern dass sie von guter Qualität sind, sodass sie sich mehrmals aufbereiten und immer wieder reparieren lassen – und dabei noch edler aussehen als Neueinkäufe.

Wo stehen wir heute in der Umsetzung gemessen am Fernziel einer konsequent auf erneuerbare und wiederverwertbare Ressourcen ausgerichteten Kreislaufwirtschaft?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Wir sind vom Fernziel noch weit entfernt. Um die Kreislaufwirtschaft überhaupt umsetzen zu können, brauchen wir eine neue Denkweise. Solange in unseren Köpfen nichts passiert, nehmen die Materialflüsse in unserer Wirtschaft unentwegt zu. Wir müssen uns wieder an all das erinnern, was wir von unseren Grosseltern hätten lernen können. 

Antonia Stalder: In der Baubranche beispielsweise verbauen wir mengenmässig so viel, dass wir mit den eingesetzten Materialien jeden Monat New York City frisch aus dem Boden stampfen könnten. Laut Prognosen wird sich bis 2050 daran auch nichts Entscheidendes ändern.

Tobias Stucki: Wir haben erst kürzlich gemeinsam mit der ETH eine repräsentative Befragung bei Unternehmen in der Schweiz durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass lediglich bei rund zehn Prozent der Firmen die Kreislaufwirtschaft schon ernsthaft ein Thema ist. Rund vierzig Prozent der Unternehmen haben hingegen in den letzten Jahren keine Massnahmen zur Steigerung der ökologischen Nachhaltigkeit umgesetzt.

Lässt sich Kreislaufwirtschaft in der Schweiz, deren Wirtschaft bekanntlich extrem in globale Wertschöpfungsketten eingebettet ist, überhaupt umsetzen? Wie können sich die Betriebe organisieren, um zirkulär zu werden?

Tobias Stucki © regiosuisse

Tobias Stucki: Die zirkuläre Transformation setzt in den meisten Fällen voraus, dass man die gesamten Lieferketten überdenken und – zum Teil mit neuen Partnern – neu organisieren muss. Dabei ist nicht die Logistik das grösste Problem. Die eigentliche Herausforderung bilden die Produkte selbst. Zentral ist die Frage, welche Materialien und Stoffe in welchen Produkten überhaupt eingesetzt werden sollen.

Antonia Stalder: Ich glaube nicht, dass wir uns die globalen Wertschöpfungsketten mitsamt allem logistischen Aufwand in diesem Ausmass auch in Zukunft leisten können. Heute produzieren wir – das Wort sagt es – entlang von Ketten, sogenannten Wertschöpfungsketten, die per se linear und nicht zirkulär sind. Wir werden nicht darum herumkommen, in Zukunft viel mehr Produkte und Geräte aufzubereiten, zu reparieren und zu teilen, und zwar im regionalen und lokalen Rahmen. Wenn wir stattdessen unseren globalen Warenverkehr noch stärker ausweiten, sehe ich grosse Probleme auf uns zukommen.

Tobias Stucki: Letztendlich stehen wir bei der Umsetzung einer effizienten Kreislaufwirtschaft einem Trade-off gegenüber: Einerseits macht es natürlich Sinn, Kreisläufe möglichst lokal zu schliessen, andererseits wird dies technisch nicht immer möglich sein. Wir brauchen in Zukunft einen gewissen Mix aus lokalen, regionalen und globalen Wertschöpfungskreisläufen.

Wie beurteilen Sie, Frau Dupraz-Ardiot, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten, die Kreislaufwirtschaft in unserem System einzuführen?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Die Kreislaufwirtschaft wird über kurz oder lang ein wesentlicher Teil der Ökonomie, denn sie ist ein entscheidender Kostenreduktionsfaktor und auch ein Faktor der Wettbewerbsfähigkeit. Ausserdem trägt sie zur Resilienz bei in einer Zeit, in der die Rohstoffpreise rasant steigen und es Engpässe in den Lieferketten gibt. So betrachtet wird die Kreislaufwirtschaft immer mehr auch zum Faktor der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit einer Region.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot © regiosuisse

Gibt es dafür ein erfolgreiches Beispiel?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Im Kanton Freiburg haben wir eine Agrar- und Lebensmittelstrategie entwickelt, die sich stark auf die Umsetzung einer regionalen Kreislaufwirtschaft mitsamt der Vernetzung der Akteurinnen und Akteure konzentriert. Eine der Leitideen ist dabei, die sekundäre Biomasse wiederzuverwerten.

Wo liegen die eigentlichen Knackpunkte bei der Umsetzung?

Antonia Stalder: Der Knackpunkt in der öffentlichen Beschaffung zum Beispiel liegt in der Komplexität. In unserer Beratung versuchen wir, diese auf eine verständliche Ebene herunterzubrechen. Der Bedarf nach dieser Art von Beratung ist vor allem in kleineren Strukturen gross. Ein Kanton hat vielleicht noch die notwendigen Ressourcen, aber eine Gemeinde ist mit dem Thema schnell überfordert. Es fehlen allerdings praktische Instrumente zur Umsetzung. Ich denke an Checklisten, verbindliche Ausschreibungskriterien, Blueprints für klare Entscheidungsgrundlagen und Ähnliches. Dazu wollen wir von Prozirkula in der Beratung und mit unserem Kompetenzzentrum einen Beitrag leisten.

Tobias Stucki: Die Herausforderungen in der Privatwirtschaft sind ähnlich wie bei der öffentlichen Beschaffung: Das Konzept der Kreislaufwirtschaft ist den Verantwortlichen zwar einigermassen bekannt, aber die Umsetzung im eigenen Betrieb erweist sich als schwierig. Es gibt kaum Standardlösungen dafür. Gefragt ist ein individueller Ansatz, und diesen zu entwickeln, ist meistens nicht ganz einfach. Hinzu kommt, dass der Wandel zur Kreislaufwirtschaft mit Finanzierungskosten verbunden ist.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Auf Kantonsebene haben wir zwar die Ressourcen, um den strategischen Rahmen zu entwickeln, in der Umsetzung fehlen uns aber die Kenntnisse. Kreislaufwirtschaft ist eine interdisziplinäre Disziplin, bei der alle Beteiligten zusammenarbeiten müssen. Es funktioniert nur, wenn alle miteinander reden, die Akteure der Wirtschaftspolitik mit jenen der Agrarpolitik, die Akteurinnen der Agrarpolitik mit jenen der Abfallwirtschaft. Ein weiterer Knackpunkt ist rein technischer Art: Die meisten Materialien lassen sich nicht beliebig oft recyceln und wiederverwenden. Sie verlieren nach jedem Durchlauf an Qualität. Zirkularität ist eine Möglichkeit, den Ressourcenverbrauch zu verlangsamen und zu reduzieren, aber sie kann ihn nicht gänzlich aufhalten.

Wer ist in der Umsetzung besonders gefordert? Welche Akteure spielen die entscheidende Rolle?

Tobias Stucki: Entscheidend sind nicht nur die Produzenten, sondern auch die Konsumentinnen und Konsumenten. Auch sie müssen sensibilisiert werden, damit die Kreislaufwirtschaft wirklich funktionieren kann. Sie müssen bereit sein, Produkte länger und zirkulär zu nutzen. Eine Schlüsselrolle spielt das öffentliche Beschaffungswesen, etwa wenn es darum geht, Pilotprojekte zu finanzieren. Mitspielen muss auch der Finanzsektor. Und selbstverständlich ist die Politik gefordert, wenn es gilt, die entsprechenden Rahmenbedingungen festzulegen. Wie generell bei der Nachhaltigkeit bringt es nichts, sich bei der Kreislaufwirtschaft nur auf einzelne Punkte zu fokussieren. Als Bildungsanbieter stehen wir zudem in der Pflicht, die Leute zu schulen und das notwendige Wissen zu vermitteln.

Verfügt die Schweiz bereits über die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen?

Tobias Stucki: An unseren Zielen gemessen: Nein! Sieht man, was die EU im Moment macht, sind wir völlig im Rückstand – obwohl wir aufgrund unserer Ressourcenknappheit und unseres Innovationswissens prädestiniert wären, eine Vorreiterrolle einzunehmen. Beginnen wir nicht sofort und energisch, an unseren Rahmenbedingungen zu arbeiten, laufen wir Gefahr, gegenüber anderen Ländern in einen Wissensrückstand zu geraten, den wir nicht mehr so schnell werden aufholen können.

Antonia Stalder: Speziell in der öffentlichen Beschaffung hätten wir mit dem revidierten öffentlichen Beschaffungsgesetz seit Januar 2021 eigentlich genug Spielraum. Es wäre klug und nützlich, diesen Spielraum auszuschöpfen und die entsprechenden Projekte aus dem Boden zu stampfen. Natürlich müssen die Rahmenbedingungen noch weiter angepasst werden, aber man könnte bereits jetzt sehr viel mehr tun, als tatsächlich geschieht.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Wir hätten, wie es Herr Stucki erwähnt hat, in der Schweiz vor einigen Jahren eine Vorreiterrolle übernehmen können. Mittlerweile ist die EU schon viel weiter, und auch einzelne Länder wie Frankreich haben mehr gesetzliche Grundlagen als die Schweiz.

Wo könnte und sollte man in der Gesetzgebung Nägel mit Köpfen einschlagen?  

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: In der laufenden Revision des Umweltschutzgesetzes könnte man viel machen. Der Bund hat die Revision in die Vernehmlassung geschickt. Der Kanton Freiburg hat vorgeschlagen, in verschiedenen Punkten weiter zu gehen als vorgeschlagen. Wichtig sind gesetzliche Rahmenbedingungen, die wir dann auch tatsächlich umsetzen können. Ich habe Bedenken, ob wir bereits über genügend fähige Leute mit dem notwendigen Wissen und den erforderlichen Kompetenzen verfügen. Es gibt zweifellos noch grösseren Ausbildungs- und Schulungsbedarf.

Tobias Stucki: In der Schweiz setzen wir extrem stark auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Die EU geht da entschieden einen Schritt weiter und versucht, die Kreislaufwirtschaft gesetzlich klar zu regeln. Es gibt Vorschriften, die für Druck sorgen, sodass die Unternehmen sich wirklich bewegen müssen. Und wer nichts unternimmt, muss mit Sanktionen rechnen.

Antonia Stalder: Mehr Vorgaben und ein bisschen mehr Verbindlichkeit täten uns sicher gut. Wenn wir es nur bei der Freiwilligkeit belassen, bleiben wir Schweizerinnen und Schweizer in der Regel ziemlich träge.

Kreislaufwirtschaft ist als wesentliches Element einer nachhaltigen Entwicklung auf der Agenda der Neuen Regionalpolitik (NRP) weit nach oben gerückt. In welchen Bereichen sehen Sie besondere Chancen und Vorteile, in den Regionen die Kreislaufwirtschaft erfolgreich umzusetzen?

Antonia Stalder © regiosuisse

Antonia Stalder: Haben sich kreislauffähige Lösungen einmal etabliert, haben sie das Potenzial, ökonomisch und ökologisch grundsätzlich besser zu sein als lineare Lösungen. In der linearen Wirtschaft vernichtet man ja Werte, indem man Dinge wegwirft, die noch wertvoll wären. Rückt man von dieser Praxis ab und stellt stattdessen den Werterhalt in den Vordergrund, gewinnt man auf der ganzen Linie, egal, ob in der Stadt oder in einer ländlich geprägten Region. Hinzu kommen weitere Vorteile wie Liefersicherheit und Resilienz. Kürzlich hatten wir den Fall eines Kaffeeautomatenherstellers, der uns in grosser Verzweiflung gesagt hat: «Nennt mir die grösste Deponie in Deutschland, ich schicke zehn meiner Mitarbeiter dorthin, damit sie unsere Geräte raussuchen und die Chips ausbauen. So können wir weitere drei Monate produzieren und überleben.» Die Region kann also in der Kreislaufwirtschaft zur entscheidenden Drehscheibe werden.

Frau Dupraz-Ardiot, wie bringen Sie die Kreislaufwirtschaft gezielt in die Regionen des Kantons Freiburg?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Meine Hauptaufgabe ist es, das Bewusstsein über die Herausforderungen der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Sektoralpolitiken des Kantons einzubringen. Notwendig ist dafür eine Kultur der Interdisziplinarität. Wer in der Wirtschaftspolitik tätig ist, muss also auch an die ökologischen und sozialen Aspekte denken und umgekehrt. Wir versuchen, mit Beteiligten aus allen Bereichen der Verwaltung verschiedene Projekte zu lancieren, die diese Kultur der Interdisziplinarität leben.

Herr Stucki, wird die Kreislaufwirtschaft bei den Unternehmen als Chance begriffen oder als mühsame Last?

Tobias Stucki: Es gibt Unternehmen, die sich bereits um Kreislaufwirtschaft bemühen und entsprechend handeln, gerade weil sie da Chancen sehen. Die vielen anderen wittern in der Kreislaufwirtschaft vor allem Risiken und Gefahren. Mittlerweile gibt es aber in allen Branchen «Leuchttürme», die zeigen, dass es funktioniert. Um die Berührungsängste abzubauen, müsste man diese noch stärker ins Schaufenster stellen. Dabei geht es nicht um den sorgfältigen und effizienten Umgang mit Ressourcen, die immer knapper werden. Eine Wirtschaft, die das nicht begreift und nicht bereit ist, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, wird eines Tages nicht mehr wettbewerbsfähig sein.

Benötigen wir zusätzliche Signale von der Politik, um die Kreislaufwirtschaft bei uns zu etablieren?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Die aktuelle Situation mit Engpässen in den Lieferketten trägt dazu bei, dass sich viele Unternehmen der Bedeutung einer effizienten Ressourcenbewirtschaftung erstmals so richtig bewusst werden. Die Mangellage löst wohl mehr aus als manches politische Druckmittel. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Änderung des Umweltschutzgesetzes etwas bringen wird, auch den Regionen. Im Kanton Freiburg versuchen wir mit dieser neuen Perspektive einen Plan für die Abfallbewirtschaftung zu erarbeiten, der ganzheitlich ist und weit über das Recycling hinaus die gesamte Kreislaufwirtschaft ansprechen wird.

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Zweitwohnungen – Herausforderung und Chance

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Das seit fünf Jahren geltende Zweitwohnungsgesetz (ZWG) erweist sich heute als wirksames Instrument für eine nachhaltigere touristische Entwicklung, wie verschiedene Studien im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) aufzeigen. Allerdings ist die Umsetzung der neuen gesetzlichen Bestimmungen eine höchst anspruchsvolle Aufgabe. Wollen sich die betroffenen Regionen und Gemeinden einen erfolgreichen Weg in die touristische Zukunft offenhalten, kommen sie um teils aufwendige Anpassungsprozesse und neue Lösungen nicht herum. Dies verdeutlichen die zahlreichen und inhaltlich sehr vielfältigen Projekte, die zu diesem Zweck in jüngster Zeit lanciert wurden.
Herbststimmung in Flims GR © regiosuisse

Die Schweizer Stimmbevölkerung hat am 11. März 2012 die Volksinitiative zur Beschränkung von Zweitwohnungen und sogenannten «kalten Betten», also von Wohnraum, der nur während eines Bruchteils der Zeit genutzt wird, angenommen. Von der damit verbundenen Forderung, bei einem Zweitwohnungsanteil über 20 Prozent des Wohnungsbestands den weiteren Ausbau zu stoppen, waren rund 400 Gemeinden betroffen, fast ausschliesslich solche aus dem Alpenraum. Für sie war der Entscheid ein heftiger Schock. Vor allem in den Hotspots des Zweitwohnungsbaus wurde ein massiver wirtschaftlicher Einbruch befürchtet.

Alles halb so schlimm

So schlimm kam es dann doch nicht, zumal es nach der knappen Annahme der Volksinitiative eine Weile dauerte, bis der Vollzug einigermassen griff. Wie sich der Zweitwohnungsmarkt im Zeitraum von 2013 bis 2019 tatsächlich entwickelte, haben Expertinnen und Experten der Beratungsfirmen BHP, IC Infraconsult und Rütter Soceco 1 sowie der Hochschule Luzern (HSLU) 2 im Auftrag des SECO und des ARE eingehend untersucht. Die Analyse erbrachte bemerkenswerte Ergebnisse. «Unmittelbar nach Annahme der Initiative prägte in zahlreichen Bergregionen vorerst ein Bauboom das wirtschaftliche Geschehen», erläutert Professor Stefan Lüthi vom Institut für Betriebs- und Regionalökonomie (IBR) der HSLU, das die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen untersucht hat. Der wesentliche Grund für diese Entwicklung: Projekte, die noch vor Ende 2012 bewilligt wurden, fielen nicht unter den Baustopp. Also wurde überall eilends gebaut, was schon bewilligt war. Ausserdem wurden unter den Übergangsbestimmungen unentwegt neue Baugesuche eingereicht. So gelangte 2013 und 2014 an vielen Orten weiterhin eine beachtliche Zahl neuer Zweitwohnungen auf den Markt.

Gesetz zeigt Wirkung

Erst als sich ab 2015 der Vollzug des Zweitwohnungsgesetzes (ZWG) und der Zweitwohnungsverordnung (ZWV) konkretisierte, sank die Zahl der Bewilligungen und pendelte sich nach Inkrafttreten deutlich unter dem historischen Mittel ein. 2019, im Jahr vor Covid-19, wurden in den vom ZWG betroffenen Gemeinden noch rund 2000 Baubewilligungen für Zweitwohnungen erteilt – rund dreimal weniger als in den Boomjahren 2006 bis 2008. «Insgesamt ist der Ferienwohnungsbau seit der Zweitwohnungsinitiative stark rückläufig», zieht Lüthi ein vorläufiges Fazit. Die Zweitwohnungsinitiative führte also nicht zu Nullverbrauch, reduzierte aber den Flächenverbrauch deutlich und förderte einen haushälterischeren Umgang mit dem Boden. Die Umweltschutzorganisation Helvetia Nostra sieht das offensichtlich etwas anders, vergegenwärtigt man sich die 1600 Einsprachen gegen Baugesuche, die sie im Zeitraum 2013 bis 2019 eingereicht hat. Davon wurden bis heute 687 ganz oder teilweise gutgeheissen, weitere 541 wurden als gegenstandslos abgeschrieben, weil etwa das Baugesuch zurückgezogen wurde. Die Einsprachen konzentrierten sich zuerst hauptsächlich auf Projekte im Kanton Wallis. Deren Anzahl nahm aber im Laufe der Zeit dank der inzwischen besser eingespielten Vollzugspraxis generell deutlich ab.

Ferienhäuser in der Lenk BE © regiosuisse

Bau- und Immobilienwirtschaft unter Druck

Auch die ursprünglich befürchtete wirtschaftliche Katastrophe infolge des ZWG ist heute kaum mehr ein Thema. Die touristische Nachfrage in der Hotellerie und der Parahotellerie hat das ZWG nicht nachweisbar beeinflusst. «Am stärksten zu spüren bekam die Folgen des ZWG nicht ganz überraschend die Bau- und Immobilienwirtschaft», so Lüthi. Doch auch in diesem Wirtschaftssektor war der Rückgang kleiner als prognostiziert. In den Hotspots des Zweitwohnungsmarktes brachen die Bauaktivitäten zwar um rund 20 Prozent ein. Doch grössere, breiter aufgestellte Firmen hielten sich schadlos, indem sie neue Marktsegmente erschlossen und ihr Marktgebiet etwa ins Unterland ausweiteten. Zudem floss in den letzten Jahren mehr Geld in den Unterhalt und die Erneuerung des Zweitwohnungsbestandes. So profitierte die Bauwirtschaft auch vom genannten Bewilligungs- und Bauboom, der sogar zu einem Angebotsüberhang geführt hat, und von den Ausnahmeregelungen, wonach der Bau von Zweitwohnungen im Zusammenhang mit strukturierten Beherbergungsbetrieben möglich ist. Hinzu kommen viele Sanierungsprojekte in der Hotellerie, wo unter bestimmten Voraussetzungen 20 bis 33 Prozent der Hauptnutzfläche von Hotelbauten als Zweitwohnungen erstellt werden dürfen.

Massnahmenpaket mit schneller Wirkung

Dass die wirtschaftliche Entwicklung in den vom ZWG betroffenen Gebieten besser verlief als befürchtet, ist auch verschiedenen staatlichen Massnahmen zu verdanken. Dazu gehört das tourismuspolitische Massnahmenpaket, das das Parlament 2015 explizit zur Abschwächung der negativen Auswirkungen des ZWG beschlossen hat. Eine der Massnahmen war das «Impulsprogramm Tourismus», das für die Jahre 2016 bis 2019 zusätzlich Beiträge in der Höhe von 10 Millionen Franken für das Förderprogramm Innotour, 38 Millionen Franken für die Neue Regionalpolitik (NRP) und maximal 150 Millionen Franken zusätzliche NRP-Darlehen freigab. Zudem wurde das noch nicht ausgeschöpfte Zusatzdarlehen an die Schweizerische Gesellschaft für Hotelkredit (SGH) aus dem Jahr 2011 in der Höhe von 100 Millionen Franken bis 2019 verlängert.

«Viele der dadurch ausgelösten Anpassungsprojekte zielen auf eine intensivere Bewirtschaftung der Zweitwohnungen und der schlecht ausgelasteten Hotels. Die Devise lautet: ‹Warme statt kalte Betten!›», so Lüthi. Mit dem erwünschten Nebeneffekt, dass der laufende Strukturwandel vom monosaisonalen zu einem Ganzjahrestourismus beschleunigt wird. Neue Geschäftsmodelle, die vor allem in der Bau- und Immobilienwirtschaft seit 2013 auf rein privatwirtschaftlicher Ebene entstanden sind (vgl. unten), zeigen zusammen mit den vom Bund, von den Kantonen und den Gemeinden unterstützten Anpassungsprojekten, dass es im Alpenraum auch mit dem ZWG weiterhin einen erfolgversprechenden Weg in eine nachhaltige touristische Zukunft gibt.

Bauarbeiten in St. Moritz GR © regiosuisse

Neue Chancen und Möglichkeiten mit dem ZWG

Das Beratungsunternehmen IC Infraconsult hat versucht, die Anpassungsprojekte und neuen Lösungen nach thematischen Aspekten zu kategorisieren. Und es hat für jede Kategorie mehrere «Good Practices» selektioniert, aus denen im Folgenden Beispiele vorgestellt werden.3

  • Regulative und fiskalische Instrumente

Kurtaxen in Grächen VS und Val de Bagnes VS: Die Gemeinde Grächen hat per 1. Mai 2018 die Kurtaxe neu reglementiert. Auf Zweitwohnungen wird seither eine Jahrespauschale erhoben, die 46 bisherigen Übernachtungstaxen entspricht. Es ist eine einfache Massnahme, von der sich die Behörden angesichts eines Zweitwohnungsanteils von 68 Prozent eine grosse Hebelwirkung versprechen. Bei schlecht genutzten Zweitwohnungen bedeutet die neue Taxe eine massive Verteuerung. Für die Eigentümerinnen und Eigentümer steigt der Anreiz, die Zweitwohnung möglichst oft an Dritte zu vermieten. Das neue Berechnungsmodell hat bisher allerdings nur halbwegs den gewünschten Erfolg gebracht. Erwartungsgemäss verdoppelten sich zwar die Kurtaxen-Einnahmen, doch stagnieren die Übernachtungszahlen bis heute. Roman Rogenmoser, CEO der Touristischen Unternehmung Grächen AG, zieht trotzdem eine positive Bilanz: «Das Modell bewährt sich. Der administrative Aufwand für die Rechnungstellung ist heute kleiner, und wir verfügen als Tourismusorganisation in guten wie in schlechten Zeiten über annähernd gleichbleibende Einnahmen.» Bezüglich einer besseren Auslastung der Zweitwohnungen bleibt Rogenmoser skeptisch. Für viele Zweitwohnungsbesitzerinnen und -besitzer komme eine externe Vermietung grundsätzlich nicht infrage. Er spricht damit ein Verhaltensmuster an, das sich vermutlich nur mit massiveren finanziellen Anreizen verändern liesse. Dies versucht die Gemeinde Val de Bagnes im Unterwallis. Dort können die Kurtaxen, die für Mietübernachtungen von Dritten anfallen, von der Pauschalkurtaxe für die Zweitwohnung abgezogen werden. Und tatsächlich: Seit Einführung des neuen Tarifsystems ist die Auslastung der Zweitwohnungen im Val de Bagnes gestiegen.

  • Planerische und strategische Instrumente

Raumstrategie «St. Moritz 2030»: Das ZWG, kantonale Planungsvorgaben und der Handlungsdruck vor Ort waren für St. Moritz Anlass, 2017 unter dem Titel «St. Moritz 2030» zusammen mit der Bevölkerung und Gästen einen Visions- und Strategieprozess für die Ortsentwicklung zu starten. Hauptherausforderung in der Engadiner Destination ist das Preisniveau auf dem Immobilienmarkt, bei dem die vielen teuren Zweitwohnungen (Anteil: 57 Prozent) die eigentliche Benchmark setzen mit dem Resultat, dass auch die Preise für Wohn- und Gewerbeflächen stetig steigen und für die Ortsansässigen und Gewerbetreibenden zunehmend unerschwinglich werden. Seit Verabschiedung von «St. Moritz 2030» im Jahre 2019 unterstützt die Gemeinde aktiv Bauprojekte, die bezahlbaren Wohnraum oder Gewerbeflächen zu angemessenen Preisen ermöglichen: bei der Planung, im Verfahrensprozess, mithilfe reglementarischer Anreize und durch eine aktivere Liegenschaftspolitik. Über den Dialog mit den Eigentümerinnen und Eigentümern sowie die Förderung entsprechender Vermarktungs- und Beherbergungsmodelle versucht die Gemeinde zudem das Angebot «warmer Betten» zu erhöhen. Gemeindevorstand Reto Matossi ist überzeugt, dass die Prozesse dazu beigetragen haben, das Thema «bezahlbarer Wohnraum» strategisch zu verankern. «Nun müssen wir den Beweis einer erfolgreichen Umsetzung erbringen», sagt er, etwa mit gemeindeeigenen Grundstücken und privaten Liegenschaften, die für bezahlbaren Wohnraum mobilisiert werden könnten.

  • Neue Betriebs- und Governance-Strukturen

Erni Bau AG in Flims GR: Das Bauunternehmen mit Sitz in einer Zweitwohnungshochburg hat seine Diversifikationsstrategie nach Inkrafttreten des ZWG verstärkt in Richtung Erschliessung zusätzlicher Marktsegmente (z.B. Energiesanierungen, Bahnverkehr) und neue geografische Marktgebiete (in ganz Graubünden, SG, VS) sowie neue Geschäftsmodelle vorangetrieben. Dazu gehört der Aufbau eines Immobilienportfolios, das mittlerweile über hundert Wohnungen zwecks Vermietung umfasst. «Wir sind mit der gewählten Strategie heute gut unterwegs», sagt CEO Marc Grünenfelder, auch weil die Firma schon zuvor strategisch breit aufgestellt war. Zudem profitiert sie von der räumlichen Nähe zum urbanen Zentrum Chur, wo die Erni Bau AG in den letzten Jahren stärker Fuss fassen konnte.

Kleineren Baufirmen in peripheren Tourismusdestinationen blieb es hingegen häufig nicht erspart, ihren Betrieb zu redimensionieren. Bei der Freidig Bau AG in Lenk im Simmental beispielsweise sind infolge des ZWG in den letzten Jahren Umsatz, Ertrag und Beschäftigtenzahl um 20 bis 30 Prozent eingebrochen, wobei der Rückgang im Jahr 2020 aufgrund von Covid-19 in dieser Zahl noch nicht berücksichtigt ist.

  • Kommunikation und Wissensmanagement

Innotour-Projekt «Destinationsmarketing durch Ferienwohnungsbesitzerinnen und -besitzer» in Davos/Klosters GR: Das am Institut für Systemisches Management und Public Governance (IMP-HSG) der Universität St. Gallen unter der Leitung von Professor Christian Laesser durchgeführte Projekt zeigt systematisch auf, wie Zweitwohnungsbesitzerinnen und -besitzer mittels eines Anreizsystems und dazugehöriger Dienstleistungen verstärkt zum Destinationsmarketing beitragen könnten. Zu den einzelnen Massnahmen und Vorschlägen, die auf Markttests und Workshops in verschiedenen Tourismusdestinationen basieren, gehören regelmässige Informations- und Kennenlernevents, Preisvergünstigungen bei Veranstaltungen und Freizeitinfrastrukturen und organisatorischer Support bei privaten und geschäftlichen Anlässen oder Vouchers für Neubesitzerinnen und -besitzer.

  • Dienstleistungsangebote und Plattform-Tools

Plattform WarmesBett.ch: Das Projekt in der Surselva wurde bereits 2010 von der Derungs Quinter Immobilien AG in Lumbrein GR lanciert. Die Plattform ist heute Vorbild für weitere ähnliche regionale Plattformen. Die Derungs Quinter AG bietet mit WarmesBett.ch den Besitzerinnen und Besitzern von Zweitwohnungen einen Rundumservice, damit sie ihre Objekte ohne eigenen Aufwand vor Ort professionell vermieten können. Der Service umfasst alles von der Buchung über den Vertrag und die Schlüsselübergabe bis hin zur Reinigung. Heute sind 80 Mietobjekte auf der Plattform aufgeschaltet. «Wir haben damit den Markt absichtlich nicht ausgeschöpft, weil sich weiteres Wachstum logistisch und personell kaum bewältigen liesse», sagt Geschäftsführer Gian Derungs. Eine grosse Herausforderung ist es, genug verlässliches Reinigungspersonal für die vielen Kurzzeiteinsätze zu finden. «Wenn im Februar und Anfang März samstags in 50 oder 60 Wohnungen auf einen Schlag die Mieterinnen und Mieter wechseln, stossen wir an unsere Grenzen», gibt Derungs zu bedenken. Trotz der eingeschränkten Skalierungsmöglichkeiten zieht Derungs eine positive Bilanz: «Das Geschäftsmodell hat sich insgesamt gut bewährt.» Für zusätzlichen Schub sorgte Corona: Die Zahl der über WarmesBett.ch generierten Übernachtungen stieg 2020 auf über 19 000 Logiernächte, bei gleichem Bettenangebot 40 Prozent mehr als im Vorjahr.

  • Bau- und Immobilienprojekte

Swisspeak Resort, Meiringen BE: Das ZWG erlaubt bekanntlich unter gewissen Bedingungen weiterhin, neue Zweitwohnungen oder Apartments zu errichten. Diese neue Ausgangslage ruft buchstäblich nach neuen Beherbergungskonzepten. Das Swisspeak Resort in Meiringen, ein 30-Millionen-Franken-Projekt mit 79 Wohnungen und 426 Betten, wurde Ende 2019 nach zweijähriger Bauzeit eröffnet. Es steht auf einer in den 1990er-Jahren geschaffenen touristischen Sonderzone, auf der 15 Jahre lang nichts passierte, bis die Resalpina GmbH die Initiative ergriff. Von der NRP in der konzeptionellen Phase unterstützt, entwickelte die Resalpina GmbH das Resort bis zum Bau, um es schliesslich dem Mountain Resort Fund SICAV zu verkaufen. Bewirtschaftet wird es von der Interhome AG, die bereits im ersten Betriebsjahr eine Auslastung von 80 Prozent verzeichnete. Die Resalpina GmbH plant neun weitere Resorts. Allerdings dürfte es nicht überall so glatt laufen wie in Meiringen. Die vier fortgeschrittensten Projekte auf der Laxeralp im Wallis sowie in Klosters, Arosa und Savognin in Graubünden sind derzeit durch Einsprachen blockiert.

Grosses Interesse an den neuen Resortkonzepten zeigen vor allem die Bergbahnen: Mittlerweile sind über 40 Prozent der Transportunternehmen in diesem Bereich aktiv. Das damit angestrebte Konzept der vertikalen Integration mit einem kompletten Ferienangebot aus einer Hand ist zwar bereits älteren Datums, wurde durch das ZWG aber weiter forciert. Zu den Pionieren gehört die Weisse Arena Gruppe in Laax GR mit dem rocksresort.

© regiosuisse

Auf dem richtigen Weg

Auch wenn nicht alle direkt Betroffenen über das ZWG gleichermassen begeistert sind, so beurteilen sämtliche Stakeholder das neue Gesetz aus raumplanerischer und ökologischer Optik sehr positiv. Der Konsens ist gross, dass es die Zersiedlung in den betroffenen Gemeinden stoppt, die Entwicklung in der Parahotellerie in nachhaltige Bahnen lenkt und die landschaftlichen und touristischen Qualitäten in den betroffenen Gemeinden stärkt und weiter verbessert.

Einige Regionen und Gemeinden wie Davos/Prättigau GR oder Val d’Anniviers VS reagierten sehr aktiv auf das ZWG, in anderen Hotspots – etwa Grindelwald – blieb es erstaunlich ruhig. Offensichtlich sind der Anpassungsdruck und die Anpassungsbereitschaft je nach Region sehr unterschiedlich. Tourismusdestinationen, die in der Parahotellerie weiterwachsen möchten, suchen nach neuen Rezepten. Klar ist allen Beteiligten, dass es dabei keine einfachen Lösungen gibt. Der Weg in die erfolgreiche touristische Zukunft führt fast immer nur über ein Bündel von aufeinander abgestimmten Projekten und Massnahmen.

Kommunikationsaktivitäten intensivieren

Die Autorinnen und Autoren der Wirkungsanalysen stellten fest, dass das vorhandene Wissen zur Umsetzung des ZWG nicht immer bei den betroffenen Gemeinden beziehungsweise den Zuständigen ankommt. Sie empfehlen daher den Wissensstand unter diesen Akteuren zu fördern und damit die Planungssicherheit im Rahmen des Möglichen zu erhöhen. Zudem empfehlen die Expertinnen und Experten dem Bund, den Kantonen und den betroffenen Gemeinden, mit weiteren Massnahmen und zielgerichteten Dienstleistungen die Finanzierungsbedingungen bei Anpassungsprojekten zu verbessern und die Planungssicherheit zu erhöhen.

Um die Anpassung an das Zweitwohnungsgesetz zu beschleunigen, aber auch um den damit verbundenen Strukturwandel zu koordinieren und dessen Chancen nutzen zu können, müssten die Kompetenzen sowohl der Baubehörden als auch der Projektentwickler und Bauherren erweitert und neue Kompetenzen aufgebaut werden. Dies erfolgt laut Studien am besten über die etablierten Kommunikationskanäle von Branchenverbänden und Standortförderungsorganisationen und mit Unterstützung durch die involvierten Bundesämter (SECO, ARE) und regionalpolitischen Entwicklungsgefässe wie Innotour, NRP und Schweizerische Gesellschaft für Hotelkredit (SGH).

Der Bund hat gemäss Bericht an den Bundesrat zu den Wirkungsanalysen erkannt, dass der Vollzug und die Wissensgrundlagen zu verbessern sind, und plant erste Massnahmen. Für Änderungen des ZWG sieht er dagegen keinen Handlungsbedarf, unter anderem deshalb nicht, weil die Anpassungsprozesse noch im Gange seien.

Letztlich sollen die Bemühungen auch den laufenden Strukturwandel vom monosaisonalen zum Ganzjahrestourismus begünstigen und damit auch den Transformationsprozess «von kalten zu warmen Betten» weiter ankurbeln. Gelingt dieser Schritt, so gelingt es auch, die Destinationen nachhaltiger, zukunftsfähiger und resilienter auszurichten.

are.admin.ch/zweitwohnungen

regiosuisse.ch/nrp

sgh.ch

seco.admin.ch/innotour

Die Lehren aus dem Zweitwohnungsgesetz

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Welche Herausforderungen stellen sich in den betroffenen Gemeinden und Regionen mit der Umsetzung des Zweitwohnungsgesetzes (ZWG)? Welche Chancen bieten sich? Diese Fragen diskutierten eine Expertin und zwei Experten am runden «regioS»-Tisch: Stefanie Lauber, Leiterin der Bauabteilung der Einwohnergemeinde Zermatt VS und Mitglied der Begleitgruppe zur Wirkungsanalyse des Zweitwohnungsgesetzes, Norbert Hörburger, Professor an der Fachhochschule Graubünden und Leiter «Weiterbildung Tourismus», sowie Heinrich Summermatter, Präsident der Allianz Zweitwohnungen Schweiz. Der einstimmige Tenor: Trotz der Restriktionen aufgrund des ZWG gibt es verschiedene und durchaus intakte touristische Entwicklungschancen im Zweitwohnungsmarkt.

regioS: Welche Probleme wurden mit dem faktischen Baustopp, den das Zweitwohnungsgesetz in diesem Segment bewirkt hat, tatsächlich gelöst, zum Beispiel in Zermatt?

Stefanie Lauber: Die Gemeinde Zermatt hatte bereits vor dem eidgenössischen Gesetz ein kommunales Reglement, das den Bau von Zweitwohnungen stark einschränkte und die neu überbauten Zweitwohnungsflächen auf 1000 bis 1200 Quadratmeter pro Jahr begrenzte. Diese Einschränkung ist durch das ZWG aufgeweicht worden. Nun können sogar mehr Zweitwohnungen gebaut werden als unter dem alten kommunalen Gesetz, sofern diese neuen Zweitwohnungen touristisch bewirtschaftet werden. Zudem verschiebt sich die Nachfrage bei den Zweitwohnungen auf den altrechtlichen Erstwohnungsraum. Das ZWG hat in Zermatt dazu geführt, dass wir heute wieder mit den gleichen Problemen konfrontiert sind, die mit dem kommunalen Reglement eigentlich gelöst waren.

Stefanie Lauber Zermatt © regiosuisse

Herr Hörburger, Sie beobachten die Entwicklung aus der Forschungsperspektive im grösseren Rahmen. Welche positiven Effekte hat das ZWG ausgelöst?

Norbert Hörburger: Der Flächenverbrauch und die Zersiedelung sind in den betroffenen Gemeinden eingedämmt worden. Zudem wurde ein Denkprozess über das Thema Zweitwohnungen ausgelöst, der bereits Früchte trägt. So wurden vielerorts Anreize zum Kauf alter Wohnungen geschaffen, die sonst auf dem Markt übriggeblieben wären. Allerdings wurden auch sehr viele Last-Minute-Projekte beschleunigt, um sie möglichst zügig auf den Markt zu bringen, was zum Teil zu neuen Verzerrungen führte. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Bau- und Immobilienwirtschaft wurden erheblich beschnitten. Aus raumplanerischer Sicht hat sich der Druck auf die Auszonung von Flächen in den betroffenen Gemeinden stark erhöht.

Welche positiven Effekte stellen Sie fest, Herr Summermatter?

Heinrich Summermatter: Ich war über den Ausgang der Abstimmung zuerst sehr erschrocken. Nachträglich hat sich diese Angst aber als völlig unbegründet herausgestellt. Das Baugewerbe, das Schlimmstes befürchtet hatte, hat heute kaum grössere Probleme. In der Vergangenheit wurde vor allem neu gebaut, inzwischen wird entsprechend mehr renoviert. Aus der Perspektive eines Bewohners von Lenk im Simmental war das ZWG nur segensreich. Mitte der Sechzigerjahre war der Zweitwohnungsbau bei uns förmlich explodiert, bis zuletzt auf einen Bestandesanteil von fast 70 Prozent. Diese ungesunde Entwicklung konnte dank des ZWG gestoppt werden.

Was bedeutet das ZWG für den Tourismus? Gibt es in diesem Sektor ebenfalls Ausweichmöglichkeiten, ähnlich wie in der Bauwirtschaft?

Hörburger: Im Tourismus sind vermehrt Investorenmodelle für den Bau bewirtschafteter Wohnungen im Rahmen strukturierter Beherbergungsbetriebe gefragt. Dadurch entstehen in den bekannten Destinationen sehr kompakte Grossüberbauungen. Der Fokus hat sich also von einzelnen Häusern mit Zweitwohnungen auf Resorts verschoben. Diese werden häufig nach dem Modell «buy to use and let» realisiert, das heisst, der Käufer kann seine Zweitwohnung nur wenige Wochen im Jahr selbst nutzen und muss sie die übrige Zeit zur touristischen Vermietung freigeben. Allerdings ist noch nicht geklärt, ob diese Modelle auf längere Sicht für die Eigentümer auch rentieren. Ob die versprochenen Renditen auch tatsächlich erreicht werden können, wird sich erst zeigen, wenn die ersten Erneuerungen dieser Grossüberbauungen fällig werden. Man kann davon ausgehen, dass die Erneuerungsfonds nicht bei allen Projekten ausreichend geäufnet sind, sodass die Eigentümer über kurz oder lang Kapital nachschiessen werden müssen.

Lässt sich diese Entwicklung auch in Zermatt beobachten?

Lauber: Bei uns gibt es sowohl qualifizierte touristische Projekte als auch Erstwohnungsprojekte mit touristisch nutzbaren Einliegerwohnungen. Dabei mag auf dem Papier zwar alles rentabel aussehen. Aber ob im Hinblick auf eine spätere Erneuerung genügend Rückstellungen gemacht werden und ob die Wohnungen tatsächlich so genutzt werden, wie auf dem Papier deklariert, können wir nur schwer kontrollieren.

Bei vielen Grossprojekten geht es derzeit wegen Einsprachen nicht vorwärts. Was können die Projektentwickler tun, um trotz allem ans Ziel zu gelangen?

Hörburger: Die Projektentwickler brauchen einen langen Atem. Bis ein Ferienresort verwirklicht werden kann, muss mit sieben bis acht Jahren gerechnet werden. Die Projektentwickler tun folglich gut daran, gleich mehrere Projekte in der Pipeline zu haben. So lassen sich die Risiken besser verteilen.

Wie weit hat das ZWG im Tourismusgeschäft zu Verlagerungen geführt?

Summermatter: Ich sehe keine wesentlichen Verlagerungen. Nach wie vor zählen wir in Lenk auf Tagesgäste, die vor allem für die Umsätze der Bergbahnen wichtig sind. Hinzu kommen die Hotelgäste und die Zweitwohnungsbe­sitzer, deren wirtschaftliches Gewicht generell unterschätzt wird. Pro Zweitwohnung werden vor Ort jährlich 20 000 bis 30 000 Franken Umsatz generiert. Hochgerechnet auf die Schweiz sind dies 10 Milliarden Franken im Jahr, also rund ein Fünftel der gesamten touristischen Wertschöpfung. Zweitwohnungen sind also ein bedeutendes und unverzichtbares Segment der Schweizer Tourismuswirtschaft.

Die Forderung, möglichst viele kalte in warme Betten zu verwandeln, ist ein altes Anliegen. Trotz aller Bemühungen lässt sich die Vermietungsquote kaum steigern. Lediglich ein Viertel aller Zweitwohnungen werden an Dritte vermietet. Was wäre das Erfolgsrezept für die Zukunft?

Summermatter: Ob jemand seine Liegenschaft ausschliesslich selbst nutzen, mit Freunden teilen oder sie dem Markt zuführen und vermieten möchte, lässt sich durch äussere Anreize nicht gross beeinflussen. Fakt ist: Viele Eigentümer nutzen ihre Zweitwohnung in der Hauptsaison am liebsten selbst. Sie wären durchaus bereit, ihre Ferienwohnung in der Zwischensaison zu vermieten, doch dann ist die Nachfrage am geringsten. Die Wohnungen bleiben folglich leer. Dieses Verhaltensmuster lässt sich allenfalls bei einem Generationenwechsel verändern. Die nachrückende Generation ist am ehesten offen für einen anderen Nutzungsansatz und schneller geneigt, die Wohnung dem Vermietungsmarkt zuzuführen. Allerdings lässt sich dieser Umdenkungsprozess nur beschränkt von aussen beeinflussen.

Norbert Hörburger Chur © regiosuisse

Herr Hörburger, Sie haben Modelle entwickelt, die unter anderem darauf abzielen, die Vermietung der Zweitwohnungen zu fördern. Sind Sie optimistischer als Herr Summermatter?

Hörburger: Ich bin überzeugt, dass die Zeit für die Vermietung spielt. Die junge Generation tendiert zum Sharing-Gedanken und ist offener in Bezug auf die Vermietung. Das müsste dazu führen, dass immer mehr Objekte auch zur Vermietung freigegeben werden. Sieht man sich die Mietpreise von Ferienwohnungen und Hotelzimmern an, sind wir in der Schweiz bei den Ferienwohnungen mit den umliegenden Alpenländern absolut wettbewerbsfähig, in der Hotellerie hingegen nicht immer. Eine Destination, die sich weiterentwickeln will, kommt also nicht darum herum, den Ferienwohnungsmarkt möglichst aktiv zu bewirtschaften. Ein Modell, das wir zu diesem Zweck entwickelt haben, ist «RenoRent», bei dem es um die Renovierung und touristische Aktivierung von Zweit­wohnungen geht. Dieses Modell wird nun in Davos von einem Startup umgesetzt (vgl. «Suche nach neuem touristischem Gleichgewicht»). Dem Zweitwohnungsbesitzer wird mit diesem Ansatz eine goldene Brücke zur bequemen Vermietung gebaut. Natürlich wird es auch in Zukunft weiterhin die Gruppe jener Zweitwohnungsbesitzer geben, für die «my home is my castle» alles bedeutet. Diese Gruppe werden wir mit der Forderung nach warmen Betten und mit neuen Vermietungsideen kaum jemals erreichen.

Wie lange nutzen Zweitwohnungsbesitzende, die nicht vermieten wollen, ihre eigene Wohnung?

Summermatter: Wie sich aus den Kurtaxen ableiten lässt, werden die Zweitwohnungen sehr oft während vier bis fünf Wochen genutzt, und zwar ausschliesslich zu Ferienzwecken. Die übrige Zeit stehen sie leer. Daneben gibt es eine kleinere, aber neuerdings stark wachsende Gruppe von Zweitwohnungsbesitzenden, sogenannte «multilokale Bewohner», die ihre Zweitwohnung drei bis vier Monate jährlich nutzen, und zwar zur Erholung, aber auch als Homeoffice.

Hörburger: Hier zeigt sich, dass wir nicht davon ausgehen dürfen, dass Zweitwohnungseigentümer eine homogene Gruppe sind. Es lassen sich mindestens drei Grundtypen unterscheiden: Es gibt jenen Zweitwohnungskäufer, der die Wohnung als Kapitalanlage erwirbt, dann jenen, der ein klassisches Vier-bis-acht-Wochen-Nutzungsmuster während der touristischen Hauptsaison verfolgt, sich aber nur begrenzt für die touristische Entwicklung der Destination interessiert. Und schliesslich gibt es den «Zweitheimischen». Er führt einen multilokalen Lebensstil, möchte sich aktiv in die Community vor Ort einbringen, sucht den Austausch und ist an Mitwirkungsprojekten interessiert. Personen dieses dritten Typus sind für die alpinen und peripheren Regionen besonders wertvoll, weil sie einen Beitrag zur lokalen und regionalen Entwicklung leisten. Das Gegenbeispiel ist jener Käufertypus, der reine Spekulation betreibt und den Immobilienmarkt mit einer kaum genutzten Wohnung weiter anheizt.

Da kann man nur hoffen, dass die «Zweitheimischen» gegenüber den Spekulanten künftig an Gewicht gewinnen. Doch wie weit verbreitet sind diese «Zweitheimischen», die sich engagieren wollen?

Hörburger: Die Realität ist: Es gibt zunehmend flexible Arbeitsformen, die es immer mehr Leuten ermöglichen, auch an ihrem Zweit- oder Drittort zu arbeiten. Das befeuert die Chance, dass die Zweitwohnungen häufiger und länger genutzt werden. Gleichzeitig reduziert diese Entwicklung auch den Siedlungsdruck auf die Städte.

Lässt sich dieser Prozess auch in Zermatt beobachten?

Lauber: Es ist vor allem in den Corona-Zeiten aufgefallen, dass viele Zweitwohnungsbesitzende eine intensivere Nutzung der Wohnung beantragt haben. Das hat neue Konflikte gebracht, etwa bei den sogenannten «qualifiziert touristischen Wohnungen», die eben streng an eine gewerbsmässige Vermietung zu Ferien- und Erholungszwecken gebunden sind und von den Zweitwohnungsbesitzern nicht als Homeoffice genutzt werden dürfen. Für die «Zweitheimischen», die in ihrer Zweitwohnung wohnen und dort auch arbeiten möchten, gibt es noch keinen rechtlichen Status, der diese Art von Nutzung erlauben würde. Ohnehin ist der Lebensmittelpunkt bei den meisten letztlich doch nicht in den Bergen, sondern an ihrem ursprünglichen Wohnort in der Stadt.

Summermatter: Es ist klar, dass sich die «Zweitheimischen» natürlich nur dort politisch engagieren können, wo sie die Schriften haben. Dennoch sehe ich im Austausch mit unseren lokalen Organisationen, dass sich eine klare Entwicklung abzeichnet. Vor allem die Jüngeren sind durch die Digitalisierung nicht länger an einen einzigen Ort zum Wohnen oder Arbeiten gebunden. Der Austausch zwischen «Zweit-» und Einheimischen ist für beide Parteien befruchtend. Die «Zweitheimischen» bringen die städtischen Gedanken in die Bergdörfer, gleichzeitig ist für sie die Begegnung mit der Welt der Einheimischen eine grosse Bereicherung. Selbstverständlich verläuft dieser Austausch nicht immer konfliktfrei. Aber letztlich können beide Parteien davon nur profitieren. Eine wichtige Voraussetzung ist aber, dass die «Zweitheimischen» die Initiative ergreifen. Sie müssen selbst aktiv werden, wenn sie an ihrem Zweitwohnsitz am gesellschaft­lichen, wirtschaftlichen und politischen Leben stärker partizipieren möchten (vgl. «Haslibergs Zweitheimische»).

Heinrich Summermatter Lenk © regiosuisse

Lauber: Es gibt einen handfesten und vielerorts ungelösten Konflikt, der damit beginnt, dass sich Zweitwohnungsbesitzende auf den altrechtlichen Wohnungsmarkt stürzen, das Angebot an Erstwohnungsraum für die Einheimischen verknappen und die Immobilienpreise derart anheizen, dass die Erstwohnungen unerschwinglich werden. Die Folge ist, dass sich viele Einheimische gezwungen sehen, eine Wohnung ausserhalb der teuren Tourismusdestinationen zu suchen. Dieser Konflikt löst bei vielen Einheimischen grossen Unmut aus über die Zweitwohnungsbesitzenden, die ihnen, wie wir auch hier in Zermatt immer wieder hören, angeblich den Wohnraum rauben.

Hörburger: Das ist der sogenannte «Donut-Effekt», die Verdrängung von Einheimischen an den Rand eines Ortes. Wir haben die Umwandlung altrechtlicher Wohnungen zu Zweitwohnungen anhand der Gemeinde Arosa GR exem­plarisch analysiert. Wir haben festgestellt, dass die Umwandlung von Erst- zu Zweitwohnungen dort nicht stark ausgeprägt ist. Es gibt aber Gemeinden wie Celerina GR, die ein kommunales Zweitwohnungsgesetz erlassen haben, um Fehlentwicklungen einzudämmen. Das ist eine Nachjustierung, die es auch in anderen Gemeinden braucht. Darüber hinaus bleibt die Unterbringung von Hotelpersonal und Saisonarbeitenden in den grossen Tourismusdestinationen ein Riesenthema. Hier sind neue Wege im Bereich von öffentlich-privaten Partnerschaften gefragt.

Lauber: Tatsächlich geht in Zermatt jeweils im Spätherbst, vor Beginn der Wintersaison, wenn die ständige Wohnbevölkerung innerhalb weniger Wochen von 5700 auf 7500 Einwohner und Beschäftigte hochschnellt, ein riesiger Run los. Für alle Beschäftigten eine Wohnung zu finden, die auch noch bezahlbar ist, ist eine unglaubliche Herausforderung, zumal die Löhne im Tourismussektor bei den meisten nicht für eine teure Miete ausreichen.

Das Zweitwohnungsgesetz ist noch jung, doch scheinen einige Aspekte bereits revisionsbedürftig. Wo sehen Sie die wichtigsten Baustellen auf Gesetzesebene?

Lauber: Ich wünsche mir generell ein Gesetz, das flexibler ist und kommunale und regionale Besonderheiten stärker berücksichtigt. In Zermatt haben wir nicht die gleichen Probleme mit Zweitwohnungen wie die Gemeinde Bellwald im Goms. Diese ist mit Zweitwohnungschalets geradezu übersät, derweil in Zermatt die Hotellerie weitaus wichtiger ist als das Zweitwohnungssegment. In Zermatt kommen die Zweitwohnungen bei den Logiernächten auf einen Anteil von 22 Prozent beziehungsweise auf 39 Prozent, wenn wir die Logiernächte in den Zweitwohnungen dazurechnen, die im Besitz von Einheimischen sind.

Hörburger: Das von Frau Lauber eingeforderte rechtliche Augenmass ist absolut wichtig. Doch auch auf der tourismuswirtschaftlichen Seite muss sich etwas tun. Wir müssen Zweitwohnungsbesitzenden zusätzliche Alternativen aufzeigen können. Ein leidiges Thema ist häufig das Stockwerkeigentum, das man rechtlich besser lösen könnte. Auch möchte ich nochmals auf den unbeliebten Begriff der kalten Betten hinweisen. In manchen Gemeinden gibt es ungenutzte Wohnungen, deren Unterhalt aus irgendeiner Vermögensmasse bestritten wird, bei denen aber nicht klar ist, wer eigentlich der Eigentümer ist. Vielleicht ist er im Ausland verstorben, und die Erben sind seit Jahren nicht mehr aufgetaucht. Wir müssen Wege finden, um solche Situationen zu deblockieren. Und wir müssen Modelle für die Hoteliers und andere Leistungsträger schaffen, damit sie solche Wohnungen mitbewirtschaften können, etwa Concierge-Services oder Facility-Management-Lösungen. 

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Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Schönheit und Eigenart der Landschaft stellt in vielen ländlichen Regionen und Berggebieten der Schweiz, aber auch in den Agglomerationen, einen zentralen wirtschaftlichen Faktor dar. Mancherorts bildet sie die eigentliche Lebensgrundlage. Es drängt sich damit die Frage auf, wie weit sich diese Regionen wirtschaftlich entwickeln können, ohne dass ihre Landschaften an natürlichen und baukulturellen Qualitäten einbüssen. Einen Weg für einen sorgfältigen Umgang mit Landschaft bietet der Bund mit den Pärken von nationaler Bedeutung. Auch im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP), der Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung und weiterer staatlicher und privater Förderinstrumente sind in den vergangenen Jahren zukunftsweisende Projekte lanciert worden. Die Inwertsetzung von Landschaft erweist sich in der Umsetzung allerdings als anspruchsvolle Aufgabe mit langem Zeithorizont, die in die verschiedensten Lebens- und Wirtschaftsbereiche hineinwirkt.

Ranger Stefan Steuri vom Naturpark Gantrisch © regiosuisse

Noch vor einem Jahrzehnt war das Gantrisch-Gebiet eine wenig bekannte Landschaft. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert. Die waldreiche Voralpengegend mit den tief eingeschnittenen Flussläufen von Sense und Schwarzwasser, der Gantrisch- und Gurnigelkette, Moorlandschaften, dem Schwarzsee sowie der Urlandschaft Brecca gehört seit 2012 unter dem Label «Regionaler Naturpark Gantrisch» (RNG) zum erlesenen Kreis der regionalen Naturpärke der Schweiz. Wie 18 weitere Gebiete untersteht der RNG damit der Pärkeverordnung (PäV, Verordnung über die Pärke von nationaler Bedeutung) und gilt als Modellregion für eine nachhaltige Regionalentwicklung. Die Pärkeverordnung ermöglicht es dem Bund, die Errichtung und den Betrieb von Pärken in Gebieten mit hohen Natur- und Landschaftswerten finanziell zu fördern.

Attraktive Angebote

«Die Gründung des Parks hat in unserer Region eine Reihe von Projekten ausgelöst», sagt RNG-Sprecherin Ramona Gloor. Touristische Angebote erschliessen das Gantrisch-Gebiet heute als alpine Outdoorlandschaft, als Bike- und Fahrradregion oder Seilpark. Eine weitere Attraktion ist der kürzlich erneuerte «Gäggersteg», auf dem Besucherinnen und Besucher aus nächster Nähe beobachten, wie sich der Wald seit dem Sturm Lothar im Jahr 1999 entwickelt hat.

Gloor spricht im Zusammenhang mit dem Aufbau und Betrieb des Parks von einer «anspruchsvollen Aufgabe», bei der das richtige Mass oft entscheidend sei. An schönen Wochenenden etwa geraten die urtümlichen Moor- und die wilden Flusslandschaften schnell unter Naherholungsdruck. Das Team des Naturparks Gantrisch begegnet dieser Herausforderung mit einer gezielten Besucherlenkung und mit Rangern, die die Gäste auf die richtigen Wege lotsen. Gloor meint: «Wir wollen nicht mit mehr und mehr Angeboten stets noch mehr Gäste ins Gantrisch-Gebiet locken; der Tourismus muss auf den Nachhaltigkeitsprinzipien aufbauen und unseren Parkwerten entsprechen.»

Naturpark als Vorzeigemarke

Wirtschaftlich profitiert vom Naturpark die Land- und Forstwirtschaft ebenso wie das lokale Gewerbe; mittlerweile werden über 300 Erzeugnisse unter dem Produktlabel «Schweizer Pärke» vermarktet. Nicht zuletzt ist die Parkorganisation selbst ein wichtiger Auftrag- und Arbeitgeber. Ausserdem funktioniert sie als Vernetzungsplattform für die beteiligten Akteurinnen und Akteure. «Seit der Errichtung des Naturparks herrscht in unserer Region Aufbruchstimmung; der Park hat dem Gantrisch-Gebiet zu einer eigenen Identität verholfen», stellt Gloor fest. Das naturnahe Gebiet in den Berner und Freiburger Voralpen hat sich als unverwechselbare und eigenständige Region und als touristische Marke etabliert. Es ist zum Vorzeigebeispiel geworden, wie Landschaft nachhaltig in Wert gesetzt und gleichzeitig in ihrer Qualität gestärkt werden kann.

Dieses Fazit ziehen die Expertinnen und Experten des Interdisziplinären Zentrums für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern im Evaluationsbericht, den sie zuhanden des für den Park verantwortlichen Kantons Bern erstellt haben. Mit Zahlen belegt der Bericht den Beitrag zur Stärkung und Förderung der regionalen Wirtschaft: Die durch den Naturpark induzierte touristische Wertschöpfung betrug 2018 rund 7,3 Millionen Franken. Dies entspricht beschäftigungsmässig 87 Vollzeitstellen. Die zusätzliche Wertschöpfung aus regionalen Produkten belief sich im Zeitraum 2012 bis 2018 auf knapp 9 Millionen Franken. Nicht berücksichtigt sind in diesen Summen Leistungen zur Aufwertung von Natur und Landschaft wie das Offenhalten von Wiesen und Weiden (Schwenten), Heckenunterhalt und -pflege, Neubepflanzungen, Nistplatzpflege, Trockensteinmauersanierungen usw., die Landwirte sowie private Organisationen im Park erbringen. Die Expertinnen und Experten sehen aber auch noch wirtschaftliches Entwicklungspotenzial für den RNG, beispielsweise bei der Wertschöpfung mit Holz oder in der Gastronomie.

Ein ähnlich positives Fazit wie für den Naturpark Gantrisch liesse sich für die meisten der 18 Schweizer Pärke von nationaler Bedeutung ziehen, die zusammen über 5200 Quadratkilometer oder rund einen Achtel der Landesfläche einnehmen. Das Ziel, das der Bund mit den Pärken von nationaler Bedeutung verfolgt – die Natur- und Landschaftsqualität im Einklang mit einer nachhaltigen regionalen Wirtschaftsentwicklung erhalten und aufwerten –, deckt sich dabei weitgehend mit den Zielen der Neuen Regionalpolitik (NRP).

© regiosuisse

«Landschaftskonzept Schweiz» (LKS) als Richtschnur

Die Landschaften der dicht besiedelten Schweiz sind zumeist belebte Räume, vom Menschen geprägt und auf vielfältige Weise beansprucht und genutzt: als Wohn-, Arbeits-, Erholungs-, Bewegungs-, Kultur- und Wirtschaftsraum und als räumliche Basis für die Biodiversität. Es sind Landschaften, die sich über die Jahrhunderte entwickelt haben und gerade in den letzten Jahrzehnten enorm umgestaltet wurden. In unserer durch Wachstum und Mobilität geprägten Gesellschaft müssen sie unterschiedlichsten Ansprüchen genügen. Das 2020 vom Bundesrat verabschiedete, aktualisierte «Landschaftskonzept Schweiz» (LKS)1 ist die eigentliche Richtschnur für einen Ausgleich der Interessen und gibt den Rahmen für eine kohärente und qualitätsorientierte Entwicklung der Landschaft vor. Die Vision des Bundesrates ist es, dass die Schönheit und die Vielfalt der Schweizer Landschaften mit ihren regionalen natürlichen und kulturellen Eigenarten sowohl heutigen als auch künftigen Generationen eine hohe Lebens- und Standortqualität bieten. Zur Realisierung dieser Vision definiert das LKS je sieben allgemeine und landschaftsspezifische Landschaftsqualitätsziele sowie darauf abgestimmte Sachziele für die landschaftsrelevanten Sektoralpolitiken. Das LKS wirkt dabei als Koordinationsinstrument der verschiedenen Gesetze und Instrumente, die sich mit der Landschaft befassen – dies betrifft den Natur- und Heimatschutz und die Raumplanung ebenso wie die Landwirtschaftspolitik, die Landesverteidigung, die Regionalpolitik oder den Tourismus. So soll die Regionalentwicklung etwa die Vielfalt der Landschaften mit ihren regionaltypischen Natur- und Kulturwerten als wichtigen Standortqualitäten und insbesondere als Alleinstellungsmerkmalen stärker berücksichtigen. Sie soll sowohl zu deren Sicherung wie auch zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung beitragen.

Der Kanton als Koordinator und Wegbereiter

Projekte zu entwickeln, die den gesellschaftlichen Ansprüchen an eine hohe Landschaftsqualität gerecht werden und wirtschaftlich erfolgreich – also insgesamt nachhaltig – sind, bringt für die jeweiligen Initianten einige Herausforderungen mit sich. Es gilt den Aktionsradius zu definieren, in dem der Aufwand und der wirtschaftliche Ertrag räumlich in etwa übereinstimmen, sich aber auch in den vielfältigen Vorschriften, Fördermöglichkeiten und Handlungsebenen zurechtzufinden. Erfolgreiche Beispiele, Hilfsmittel und Unterstützungsangebote weisen inzwischen den Weg. Der Kanton Tessin beispielsweise hat mit der «Piattaforma paesaggio» eine Anlaufstelle beim Amt für Raumentwicklung etabliert, die entsprechende Projekte koordiniert. Sie dient Projekt­initianten – ob Gemeinden, Korporationen, Vereinen oder Verbänden – als eine Art One-Stop-Shop. Expertinnen und Experten helfen bei der Finanzierung, beraten und begleiten die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller und leiten sie zu weiteren Fördermöglichkeiten, etwa zu privaten Organisationen und Stiftungen. «Das finanzielle Engagement des Kantons ist oft eine entscheidende Voraussetzung, um weitere Unterstützung zu erhalten», erklärt Paolo Poggiati, Präsident der «Piattaforma paesaggio». Im Zeitraum von 2008 bis 2018 wickelte die Plattform 57 Projekte mit einem Investi­tionsvolumen von insgesamt rund 30 Millionen Franken ab. Nicht zuletzt bündelt die Plattform auch die Aufgaben aller beteiligten kantonalen Ämter (Wirtschaft, Wald und Landwirtschaft, Natur- und Heimatschutz, Denkmalpflege usw.). «Die Projekte sind vor allem für die abseits gelegenen Seitentäler und Berggebiete enorm wichtig», betont Poggiati. «Dort haben die Initiativen lokale Wertschöpfungsketten wiederbelebt und neue Formen der Zusammenarbeit ausgelöst.»

Good Practices landschaftsbezogener Regionalentwicklung

Im Auftrag des BAFU hat die PLANVAL AG die praktischen Möglichkeiten untersucht, ob und wie die Landschaft als Potenzial für eine nachhaltige regionale Entwicklung wirken kann und wie Regionen in ihrer Entwicklung konkret von einem «Leitthema Landschaft» profitieren können. Die Studie2 umfasst mehr als hundert Landschaftsprojekte und kategorisiert deren Strategien zur Inwertsetzung der Landschaft als «marktwirtschaftlich» (Wohnstandort, Tourismus, Energie), «Abgeltung für Landschaftsleistungen» oder «gemischt» (Pärke, Landwirtschaft). Vertieft beleuchtet die Studie schliesslich zwölf Musterbeispiele aus der Schweiz, die inhaltlich ein breites Spektrum von Aktivitätsbereichen abdecken. Die Inwertsetzung gelingt am besten, wenn die spezifischen Potenziale einer Landschaft erkannt, gezielt genutzt und erhalten werden. Dazu braucht es meist das Zusammenspiel mehrerer Fachbereiche wie Tourismus, Landwirtschaft und Naturschutz. Ein zentrales Merkmal der Musterbeispiele ist, dass sich eine Stelle um die langfristige Steuerung und Koordination kümmert. Als sehr hilfreich haben sich dabei regionale Strategien erwiesen (vgl. «regioS 17»). Für die Umsetzung in der Praxis skizziert die Studie ein Modell mit Entwicklungspfaden, die sich in sechs Phasen gliedern lassen. Betont wird ausserdem die langfristige Ausrichtung. Schnelle Erfolge erleben die Beteiligten selten, gefragt sind vielmehr Beharrlichkeit, Durchhaltewille und Geduld.

© regiosuisse Basierend auf: «Landschaft als Leitthema für eine nachhaltige Regionalentwicklung». Eine Analyse von Musterbeispielen. Schlussbericht. PLANVAL, im Auftrag des BAFU. Bern, 2019.

«100 % Valposchiavo»

Eindrücklich zeigt dies die Landschaftsentwicklung im Puschlav, wo derzeit die zweite Etappe des Projekts «100 % Valposchiavo» läuft. Das Ziel: Bis 2028 sollen alle Bauern und Bäuerinnen im Tal ihre Betriebe nicht nur biologisch bewirtschaften, sondern auch alle Erzeugnisse – Milch- und Fleischprodukte, Buchweizenmehl, Kräuter, Früchte usw. – selber verarbeiten und unter dem Label «100 % Valposchiavo»® vermarkten. Die Region baut damit eine geschlossene Wertschöpfungskette auf. Mit gutem Erfolg: «Es gibt heute schon über hundert Produkte mit dem Zertifikat», erklärt Cassiano Luminati, Direktor des Polo Poschiavo. Die meisten Restaurants im Tal führen seit 2015 auf ihrer Speisekarte Gerichte, die ausschliesslich mit lokalen Zutaten zubereitet sind. An den Kosten der aktuellen Etappe 2021 bis 2028 beteiligt sich der Bund im Rahmen des Programms «Projekte zur regionalen Entwicklung» (PRE) des Bundesamtes für Landwirtschaft mit 10,7 Millionen Franken. Die Entwicklung des Puschlavs zum innovativen «Bio Smart Valley» ist von langer Hand geplant. «Das Tal zählt zu den Pionieren der biologischen Landwirtschaft», ruft Luminati in Erinnerung. Bereits heute werden 95 Prozent der Landwirtschaftsfläche biologisch bewirtschaftet – ein schweizweit einmaliger Anteil. Ein entscheidender Schritt für die Entwicklung im Tal war die Anerkennung der Bernina-Bahnlinie als UNESCO-Welterbe 2008. «Wir haben in der Folge partizipativ eine regionale Strategie entwickelt, die die materiellen und immateriellen Ressourcen unseres Gebietes in den Mittelpunkt stellt», sagt Luminati. Ziel ist es, das Valposchiavo zur grundlegenden wirtschaftlichen Basis der regionalen Entwicklung zu machen; der Weg dazu führt über eine Symbiose aus biologischer Landwirtschaft und nachhaltigem Tourismus auf dem Fundament der einzigartigen Landschaft. Das Tal steckt somit mitten in einem Langzeitvorhaben, das die Bevölkerung Schritt für Schritt in die Tat umsetzen wird. Sie nutzt dazu geschickt die zahlreichen Instrumente, die die Politik zur Verfügung stellt. Mit dem jüngsten Projekt – dem Modellvorhaben «Landschaftswerte für die nächste Generation erhalten» – versucht das Tal den Weg in die Zukunft mittels einer gemeinsamen «Perspektive 2040» weiter zu justieren. Das historische Gedächtnis des Tals, das traditionelle Landschaftswissen und die Wertvorstellungen der lokalen Bevölkerung sollen noch stärker in die Regionalentwicklungsprozesse einfliessen.

Blick auf Poschiavo GR im Puschlav © regiosuisse

Geschichte neu lanciert

Über alle Förderinstrumente betrachtet, betreffen rund zwei Drittel aller in der PLANVAL-Studie untersuchten Projekte zur Inwertsetzung von Landschaft den Tourismus. Das ist kein Zufall, bedenken wir die einzigartige Dichte attraktiver Landschaften in der Schweiz und die historische Entwicklung. Die «Entdeckung der Alpen» durch vorwiegend englische Bildungsreisende begründete gleichsam den Schweizer Tourismus. In Anlehnung an die sogenannte «Grand Tour», die Thomas Cook 1858 erstmals als Pauschalreise durch die Schweiz organisierte, steht bei dem 2015 von Schweiz Tourismus lancierten Projekt «Grand Tour of Switzerland» die landschaftliche Vielfalt im Mittelpunkt. Die 1640 Kilometer lange Route führt – meist im eigenen Auto – durch die spektakulärsten Landschaften und die attraktivsten Städte der Schweiz. Sie verknüpft 5 Alpenpässe, 22 Seen, 12 UNESCO-Welterbestätten und 45 Sehenswürdigkeiten. Das Angebot greift dabei auf bestehende Infrastrukturen im Verkehr, in der Gastronomie und der Hotellerie zurück. Neu sind lediglich 650 diskrete Wegweiser sowie 48 installierte «Fotorahmen», die besondere Landschaftsausschnitte einfassen und zum Fotografieren einladen. «Mit ihnen rücken wir die ikonografischen Landschafts- und Siedlungsbilder ins eigentliche Zentrum des Erlebnisses», erklärt Konzeptentwickler Matthias Imdorf von der Erlebnisplan AG, der als Berater mit von der Partie war. Imdorf ist überzeugt, dass die Inwertsetzung der Landschaft noch «fast endloses Potenzial bietet».

© regiosuisse

Ökonomischer Nutzen schwer erfassbar

Die Fallbeispiele der PLANVAL-Studie veranschaulichen eindrücklich, dass eine nachhaltige, qualitätsorientierte und vielfältige Nutzung und Bewirtschaftung von Landschaft gelingen kann. Vorausgesetzt werden die Kenntnis der komplexen gesetzlichen Rahmenbedingungen und eine zielgerichtete Koordination der Beteiligten im Sinne einer Good Governance.

Der ökologische und landschaftsästhetische Nutzen ist in vielen Fallbeispielen ebenso offensichtlich wie die ideellen Benefits wie Imagegewinn, Kooperationskultur oder neue sozioökonomische Netzwerke. Welche konkrete Wertschöpfung sich mit landschaftsbezogenen Produkten und Dienstleistungen effektiv erzielen lässt, bleibt aber mangels Daten häufig diffus. Es lässt sich nur indirekt ermitteln, welcher volkswirtschaftliche Nutzen einer Region entgeht, wenn sie auf die Inwertsetzung der Landschaft verzichtet. In dieser Hinsicht gilt es noch einige ökonomische Grundlagenarbeit zu leisten. «Zwar lässt sich der unmittelbare Nutzen der Landschaft etwa für die Land- und Forstwirtschaft oder für eine konkrete Region und Fragestellung meistens ziemlich genau berechnen, doch die kulturellen und touristischen Leistungen von Landschaft lassen sich insgesamt schwer beziffern», stellen Ökonomen der HES-SO Genève in einer Metastudie3 fest.

Nicht zwingend besteht eine direkte Beziehung zwischen dem ökologischen Wert einer Landschaft, etwa als Hotspot der Biodiversität, und ihrem ökonomischen Wert. Ein vielbesuchter Stadtpark ist ökonomisch allenfalls wertvoller als ein peripheres Naturgebiet. Um den Wert und die Leistungen einer Landschaft trotzdem zu erfassen, bedient sich die Landschaftsökonomie indirekter Methoden, etwa um mithilfe der Immobilienwerte die Seesicht und das Bergpanorama zu bewerten. Eine BAFU-Studie4 aus dem Jahre 2014 ermittelt auf solche Weise den Erholungswert des Schweizer Waldes auf zwei bis vier Milliarden Franken pro Jahr. Eine Studie5 der ETH und der Schweizer Pärke von 2018 beziffert die touristische Wertschöpfung für den Landschaftspark Binntal auf 22 Millionen Franken und für den Parc Ela auf 106 Millionen Franken pro Jahr.

Insgesamt ist die Faktenlage hinsichtlich der ökonomischen Bewertung der Landschaft deshalb zurzeit noch unbefriedigend. Die Messbarkeit landschaftsinduzierter Wertschöpfung wäre aber eine wichtige Voraussetzung, um landschaftsbezogene Regionalentwicklung gezielter anzugehen. Der Tourismusexperte Jürg Schmid sieht vor allem im naturnahen Tourismus überdurchschnittliche Wachstumsmöglichkeiten, die genutzt werden könnten, ohne die Landschaftsqualität zu beeinträchtigen. «Die regionalen Naturpärke und die Welterbegebiete präsentieren die Essenz der Schweizer Natur und die regionale Vielfalt. Doch es fehlen lustvolle, gästeorientierte Angebote und spezifisch auch Erlebnisse für den Premium-Reisemarkt, die das grosse Potenzial in Wertschöpfung umsetzen», so Schmid (vgl. Roundtable «Die attraktive Landschaft ist das Fundament unseres Tourismus.»).

Potenziale, Instrumente und gute Vorbilder, um die hohe Landschaftsqualität in den Regionen der Schweiz zu nutzen und gleichzeitig zu fördern, sind also vorhanden. Was es braucht, sind engagierte Menschen mit guten Ideen und einem langen Atem, die die Potenziale erkennen und andere Leistungsträger zum Mitmachen begeistern.

Gesetzlicher Rahmen und Förderinstrumente

Landschaftsrelevante Gesetzgebung: Bundesverfassung (BV), Raumplanungsgesetz (RPG), Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz (NHG), Pärkeverordnung (PäV), Landwirtschaftsgesetz (LwG), Waldgesetz (WaG), Gewässerschutzgesetz (GSchG), Bundesgesetz über Fussund Wanderwege (FWG), Jagdgesetz (JSG), Bundesgesetz über die Fischerei (BGF), Energiegesetz (EnG), Nationalstrassengesetz (NSG), Eisenbahngesetz (EBG), Landschaftskonzept Schweiz (LKS) u.a.

Förderinstrumente des Bundes: Neue Regionalpolitik (NRP), Pärkepolitik des Bundes, ProgrammvereinbarungenNaturschutz und LandschaftFinanzhilfen nach Art. 13, NHG (Historische Verkehrswegeund Ortsbilder/Denkmalpflege), Projekte zur regionalen Entwicklung(PRE), Landschaftsqualitätsprojekte(LQP), Modellvorhaben NachhaltigeRaumentwicklung (MoVo), Tourismusförderung^(Innotour), Landschaftsfonds Schweiz u.a.

gantrisch.ch

valposchiavo.ch

grandtour.myswitzerland.com

regiosuisse.ch/nrp

parks.swiss

bafu.admin.ch/paerke

blw.admin.ch/pre

regiosuisse.ch/finanzhilfen

Literatur und weiterführende Informationen

Weitere Artikel

«Die attraktive Landschaft ist das Fundament unseres Tourismus.»

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Die vielen einzigartigen Landschaften sind seit bald 250 Jahren das eigentliche touristische Kapital der Schweiz. Für viele ländliche Regionen bilden sie die zentrale Lebensgrundlage. Doch auch für Städte wie Luzern ist die Landschaft ein wichtiger Standortfaktor. Wie lassen sich diese einzigartigen Landschaften im Rahmen der Regionalentwicklung weiter in Wert setzen und gleichzeitig in ihren eigenen Qualitäten stärken? Diese Frage diskutierten Dominique Weissen Abgottspon, Geschäftsführerin Netzwerk Schweizer Pärke, Marie-France Roth Pasquier, Nationalrätin, Gemeinderätin von Bulle FR und Präsidentin der Agglomeration «Mobul» sowie Jürg Schmid, ehemaliger Direktor von Schweiz Tourismus, Präsident Graubünden Ferien und Mitinhaber einer Marketing- und Kommunikations-Agentur.

regioS: In vielen Gebieten der Schweiz ist die Inwertsetzung und Nutzung der Landschaft ein entscheidender Faktor für die regionale Entwicklung. Da stellt sich die Frage: Befinden wir uns mit der Neuen Regionalpolitik (NRP) und weiteren Förderinstrumenten zur regionalen Entwicklung tatsächlich auf dem richtigen Weg zu einer in jeder Beziehung nachhaltigen Nutzung der Landschaft?

Dominique Weissen Abgottspon: Die Landschaft ist das Potenzial und auch der Trumpf, den die ländlichen Regionen der Schweiz und das Berggebiet in der Hand haben. Grundsätzlich finde ich den Ansatz richtig, bewusst von Inwertsetzung der Landschaft zu sprechen. Das trägt dazu bei, dass die Landschaft tatsächlich wertgeschätzt und mit Sorgfalt behandelt wird. Mit dem Instrument der Schweizer Pärke haben wir sicher einen guten Weg in diese Richtung eingeschlagen.

Inwiefern?

Dominique Weissen Abgottspon: Die Pärke verpflichten sich, die Landschaft zu erhalten und aufzuwerten. Und sie betreiben mit naturnahem Tourismus eine nachhaltige Wirtschaftsförderung.

Wo liegen die Grenzen der Inwertsetzung?

Dominique Weissen Abgottspon: Wenn wir in einer intakten Landschaft Tourismus fördern, können Zielkonflikte entstehen, zum Beispiel beim Bau von Infrastrukturen. Oft ist es auch nicht einfach, Wertschöpfung zu generieren. Ein hohes Besucheraufkommen allein nützt den Regionen kaum etwas. Es braucht gute Angebote – vor allem auch in der Gastronomie und Beherbergung – und regionale Produkte, die gekauft werden können.

Herr Schmid, wo sehen Sie noch Potenzial, die Landschaft in Wert zu setzen, ohne den Schutz zu tangieren?

Jürg Schmid: Der Schutz sowohl der Landschaft wie auch der Natur ist ein tourismusstrategisches Anliegen, auch wenn das vielleicht viele Touristikerinnen und Touristiker noch nicht so sehen. Das Fundament, auf dem der Schweizer Tourismus ruht, ist aber die Attraktivität der Landschaft. Niemand kommt wegen architektonisch wertvoll überbauter Hänge in unsere Berggebiete. Der Anziehungspunkt ist die Landschaft. Deren Schutz ist für den Tourismus also entscheidend. Und die Antwort auf die Frage, ob es bei der Inwertsetzung der Landschaft noch Spielraum gibt, lautet: Ja! Ich bin ein grosser Fan der Pärke, bin aber in gewissen Aspekten auch etwas kritisch. Natur und Landschaft selber generieren vieles, aber keine direkte touristische Wertschöpfung. Es sind immer die Koppelprodukte – Hotels, Restaurants oder geführte Touren –, die Arbeitsplätze und Wertschöpfung in die peripheren Gebiete bringen. In diesem Bereich fehlt mir schon ein bisschen die Innovation. Und es fehlen mir die Kooperation, die enge Zusammenarbeit und die Vernetzung, speziell im Bereich der modernen Erlebnisgestaltung. Wie mache ich aus einer schönen Landschaft ein touristisches Erlebnis? In der Frage steckt noch sehr viel Potenzial, und es gibt noch viele Möglichkeiten und Wege, die man beschreiten könnte.

Sehen Sie das ähnlich, Frau Weissen? Zu wenig Zusammenarbeit und zu wenig Erlebnisse in den Pärken?

Dominique Weissen Abgottspon: Ich finde im Gegenteil, die gute Zusammenarbeit ist eine Riesenstärke der Pärke. Landwirtschaft und Tourismus arbeiten vielerorts mit den Parkorganisationen vorbildlich zusammen. Projekte werden gemeinde- und sektorenübergreifend umgesetzt. Dass der Park eine historische Verkehrsstrasse saniert, im Einklang mit Natur und Umwelt, diese Landschaft «mit Erlebnissen bespielt» und das Ganze mit der touristischen Vermarktung koordiniert, ist doch super. Auch die Erlebnisvielfalt ist in den meisten Pärken unglaublich. Ich beobachte auch viele innovative neue Projekte, von der Familientour mit Freiberger Pferden von Hof zu Hof im Jura bis zur kulinarischen Schatzsuche «Savurando», die jetzt in einigen Pärken angeboten wird. Da verbindet sich Naturgenuss mit einem speziellen Erlebnis und mit Gesundheit und Erholung. Ich sehe bereits viele sehr gute Beispiele in den Pärken, aber natürlich gibt es immer noch Luft nach oben.

Dominique Weissen Abgottspon © regiosuisse

Jürg Schmid: Ich bin absolut einverstanden, dass es sehr viele gute Beispiele gibt. In der Summe besteht aber noch ein beträchtliches Steigerungspotenzial. Wir haben in unserer Studie1 für das BAFU alle Pärke und alle Tourismusdestinationen in deren Nachbarschaft befragt, und die Fakten sind klar: Die Vernetzung spielt noch nicht ideal. Zum Park Ela zum Beispiel finden sich auf vielen Websites der umliegenden Tourismusorganisationen noch nicht genügend substanzvolle Informationen. Aber ich bin mit Dominique Weissen einig: Die Pärke sind das Fundament für einen zukunftsweisenden Tourismus. Und die Pärke haben eine grosse Zukunft vor sich, denn der Ökotourismus als sanfte Form des Zugangs zur Natur ist eines der ganz grossen Wachstumsfelder.

Wo sehen Sie konkret das grösste Verbesserungspotenzial, Herr Schmid?

Jürg Schmid: Es gibt noch viel zu wenig individuelle Touren, die einen persönlichen Zugang zum Erlebnis schaffen. Gute Beispiele dafür sind etwa die Kristallsuche mit Ewald Gorsat im Binntal oder die vielen tollen Angebote im Val Müstair. Wir stellen weiter fest, dass es eine grosse Berührungsangst gibt von Seiten der Landschaftsfachleute gegenüber dem Premium-Reisemarkt. Alles, was nach teuer klingt, erweckt Argwohn. Nennt man dann noch das Wort «Luxus», erschreckt man buchstäblich die Leute. Das Luxussegment ist aber der grösste Wachstumsmarkt, und die Schweiz ist in diesem Premium-Markt daheim. Luxusreisende haben grosses Interesse am Ökotourismus. Umgekehrt verhält es sich nicht unbedingt gleich. Es gibt also noch ganze Segmente, die wir mit den Pärken noch nicht wirklich ansprechen und unbedingt fördern sollten – auch im Sinne einer breiteren Akzeptanz der Pärke und des Landschaftsschutzes.

Vernetzung ist ein zentrales Thema, innerhalb und ausserhalb der Pärke. Frau Roth, Sie leben in Bulle FR, direkt am Rand des grossen Regionalen Naturparks Gruyère Pays-d’Enhaut. Welche Beziehung hat die Agglomeration Bulle zu diesem Park? Wie funktioniert der Austausch?

Marie-France Roth Pasquier: Tatsächlich ist das Spezielle an unserer Agglomeration die unmittelbar vor der Haustüre liegende Natur. Wir sind eine sehr grüne und auch eine sehr touristische Region, und doch entwickeln wir uns wie eine Stadt mit Agglomeration. Dies liegt wohl unter anderem daran, dass wir uns nicht direkt im Parkperimeter befinden. Als Tourismusregion profitieren wir zwar vom Park, aber in Gruyère selbst ist der Park kein Tourismusfaktor. Das klingt ein wenig widersprüchlich. Doch ist es nun mal so, dass die Touristen nicht in erster Linie wegen des Parks die Region besuchen. Sie kommen wegen des Städtchens Gruyère, wegen des Käses und wegen der Schokoladenfabriken von Cailler und Nestlé. Es ist also nicht der Park, der den Grossteil der Touristen anzieht. Und die Touristen, die den Park besuchen und dort Ferien machen, sind nicht die gleichen Touristen, die die Schokoladenfabriken und das Städtchen Gruyère besuchen. Trotzdem profitieren die Region und die Agglomeration insgesamt vom Park.

Marie-France Roth Pasquier © regiosuisse

Wie wichtig ist die Landschaftsqualität für die Agglomeration? Ist sie ein Grund für das in jüngster Zeit starke Wachstum von Bulle und der Region Gruyère?

Marie-France Roth Pasquier: Dank unserer Landschaftsqualität können wir eine hohe Lebensqualität bieten. Wir ziehen so viele Unternehmen an, und viele Städter möchten in unserer grünen Agglomeration wohnen. Unsere Agglomerationsplanung, die aufs Jahr 2007 zurückgeht, räumt dem Schutz der Natur höchsten Stellenwert ein. Sie hat jedenfalls in unserer Region die Zersiedelung verhindert, wie sie sonst an vielen Orten mit dem Wachstum einhergeht. Unsere Agglomeration hat natürlich den Vorteil, dass sie ganz klein ist. Für die Erhaltung der Natur sorgt nun der regionale Richtplan unter dem Label «Gruyère – urban und grün». Wir möchten also unsere grüne Landschaft erhalten und bewahren, möchten uns aber auch wirtschaftlich entwickeln, und wir möchten weiterhin Gäste anziehen. Das alles zusammen ist nicht unbedingt unvereinbar, erfordert aber viel Arbeit und Fingerspitzengefühl, um ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem Landschaftsschutz und der urbanen ökonomischen Entwicklung.

Gibt es in der Agglomeration konkrete Projekte zur Förderung der Landschaft?

Marie-France Roth Pasquier: Wir wollen mit dem Agglomerationsprogramm der vierten Generation unsere bestehenden grünen Gebiete schützen und weiter ausdehnen. Zusätzlich wollen wir auch die grünen Verbindungen weiter ausbauen und vernetzen. Die Stadt Bulle hat sich zudem dem Programm «Ville verte» angeschlossen.  

Und wie funktioniert der Austausch zwischen der Agglomeration und dem Regionalen Naturpark Gruyère Pays-d’Enhaut?

Marie-France Roth Pasquier: Von unserer Seite her gibt es sehr wenig Austausch, eigentlich fast keinen. Man weiss zwar voneinander, hat aber noch nie zusammengearbeitet, obwohl der Park in die Regionalplanung integriert ist.

Wie sieht das bei den Schweizer Pärken aus? Gibt es zumindest einen Erfahrungsaustausch zwischen den Pärken und den Agglomerationen?

Dominique Weissen Abgottspon: Im Oberwallis sind das Städtische und das Ländliche eigentlich sehr gut miteinander verzahnt. Gästeumfragen haben beispielsweise gezeigt, dass viele Gäste im Landschaftspark Binn ganz aus der Nähe kommen: von Brig und Visp. Man profitiert also gegenseitig. Aber eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Agglomerationen und Pärken kenne ich nicht.

Eine engere Zusammenarbeit wäre auch zwischen den Pärken und den umliegenden Tourismusorganisationen notwendig. Wer müsste sich da zuerst bewegen?

Jürg Schmid: Beide Parteien müssen aufeinander zugehen, Steigerungspotenzial gibt es auf beiden Seiten. Die Pärke sind ja selten aus dem Tourismus entstanden. Sie haben andere Wurzeln und sind als Folge davon oftmals mit dem Tourismus nicht optimal vernetzt – dies, obwohl sie einen der weltweit grössten Tourismustrends widerspiegeln: die Sehnsucht nach Natur, nach Landschaft, nach sanfter Begehung dieser Landschaft. Viele meinen, das sei ein Low-Budget-Tourismus. Dabei handelt es sich um eines der grössten Wachstumssegmente im 4- und 5-Sterne-Hotelbereich. Der naturnahe Tourismus ist auf allen Konsumentenstufen angekommen. Umso mehr braucht es Vernetzung, damit die Inwertsetzung auch optimal erfolgt.

Jürg Schmid © regiosuisse

Ist alles nur eine Frage der besseren Organisation, wenn man das Potenzial nutzen will, ohne ihm zu schaden? Oder gibt es auch regulatorische Fragen?

Dominique Weissen Abgottspon: Die Pärke sind jung; es gibt sie ja erst seit ungefähr zehn Jahren. Als sie starteten, war das Verhältnis zu den herkömmlichen Tourismusinstitutionen noch nicht geklärt. Die Annäherungsversuche sind mittlerweile unterschiedlich weit gediehen: Es gibt Pärke mit jeweils klar abgesteckten Feldern und einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Tourismus, oft auf der Basis von Leistungsverträgen. Und dann gibt es Pärke, bei denen die Zusammenarbeit nicht optimal läuft und folglich die Synergien nicht genutzt werden können. Mittlerweile dürfte aber mehrheitlich eine gute Zusammenarbeit zwischen Pärken und Tourismusorganisationen gepflegt werden.

Welches wären die weiteren Schritte, um Landschaft für die Regionalentwicklung zu nutzen?

Jürg Schmid: Der Wissensaufbau ist ganz wichtig. Das Wissen um die Anliegen der Landschaftsfachleute ist im Tourismus zu wenig vorhanden. In den Ausbildungsprogrammen der Tourismusfachschulen ist das noch kaum ein Thema. Die Touristiker müssen noch viel dazulernen, wenn es um diese neuen touristischen Formen geht. Auf der anderen Seite müssen auch die Landschaftsfachleute generell – nicht nur in den Pärken – touristische Kompetenz aufbauen, vor allem in Bezug auf Erlebnisgestaltung und -vermittlung. Das verlangt mehr als bloss gutes Gespür. Fundiertes Wissen ist gefragt. Wir haben ausserdem unausgeschöpfte Potenziale in der Kommunikation, in der digitalen Vernetzung und bei den Kooperationssynergien. Das Konkurrenzdenken, das leider allzu oft noch existiert, hat ausgedient.

Was kann die Regionalentwicklung dazu beitragen, die Landschaft nicht nur im touristischen Sinne zu bespielen, sondern auch in ihren eigentlichen Qualitäten weiterzuentwickeln?

Dominique Weissen Abgottspon: Wichtig ist eine Regionalentwicklung, die sich wirklich an der Landschaft orientiert. Dabei spielt die Landwirtschaft eine sehr wichtige Rolle. Bei sämtlichen die Landschaft betreffenden Entscheiden ist ein langfristiges Denken wichtig. Die Landschaft ist das Kapital, und was einmal zerstört ist, wird der nächsten Generation nicht mehr zur Verfügung stehen.

Marie-France Roth Pasquier: Ich möchte an die vielen traditionellen Chalets in der Region Gruyère erinnern. Sie sind eine grosse Tourismusattraktion, doch oftmals fehlen die Mittel, um sie zu erhalten und zu renovieren. Wir mussten im Rahmen der Regionalplanung klarstellen, dass das kulturelle und bauliche Erbe eine grosse Rolle spielt, wenn wir die Landschaft in unserer Region in Wert setzen möchten. Die Renovation der Chalets ist auch ein gutes Mittel, um Dörfer ohne Baulandreserven weiterhin lebendig zu erhalten.

Jürg Schmid: Seit rund 250 Jahren bilden Natur und Landschaft das Fundament, auf dem der Tourismus wächst und gedeiht. Landschaften sind die grössten touristischen Attraktionen. Der Tourismus hat sehr oft Angst vor dem Landschaftsschutz, weil er befürchtet, in seiner Entwicklung gehemmt zu werden. In diesem Punkt muss der Tourismus wirklich noch eine Lernkurve durchlaufen und verstehen, dass seine langfristige Prosperität ganz auf dem Schutz der Landschaft gründet. Er muss seinen Beitrag leisten, indem er den Schutz voranbringt und fördert. Im Winter ist der Tourismus bisher sehr in Abhängigkeit von der Konzentration auf das wachsende Angebot der Bahnen gewachsen, mit dem Skifahren im Mittelpunkt. Realität ist aber, dass heute die sanfteren touristischen Formen schneller wachsen, allen voran das Winterwandern. Der Tourismus muss also auch erkennen, wo die Trends hingehen, und die sanfteren Formen entsprechend fördern und mehr ins Zentrum stellen. Der Tourismus sollte die Pärke «umarmen». Er darf dabei von ihnen aber auch etwas fordern.

parks.swiss

mobul.ch

1 Chance Landschaft – eine touristische Potenzialbetrachtung (im Auftrag des BAFU). Chantal Cartier, Jürg Schmid – Schmid Pelli und Partner AG. Zürich, 2021.

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