Der Minibus bis zur Haustür

Peter Jankovsky

Im Tessiner Verzascatal läuft das ÖV-Vorzeigeprojekt «Verzasca Mobile»: Via Mobile-App können Einheimische und Gäste kollektive Fahrten mit einem Elektro-Minibus ordern, der sie wortwörtlich von Tür zu Tür bringt – nicht nur im Tal selbst, sondern auch zu den Zügen und Bussen unten in der Magadino-Ebene. Die Mobile-App funktioniert reibungslos, die Koordination der Fahrtbestellungen und die Durchführung müssen allerdings noch optimiert werden.

Giovanna R. ist berufstätige Mutter und lebt im Verzascatal. Es ist Hochsommer, und sie möchte von ihrem Wohnort Brione-Gerra nach Cadenazzo in der Magadino-Ebene hinunterfahren. Dort lebt in einer Seniorenresidenz ihr Vater, den sie mit ihren zwei Kindern besuchen will. Soll Giovanna das Postauto nehmen, das sie zum nächsten SBB-Bahnhof bringt? Der Fahrplan weist zeitlich Lücken auf, etwa am frühen Nachmittag und abends. Hinzu kommt, dass gerade im Sommer die Busse im Verzascatal oft voll sind mit Feriengästen, die zur berühmten Römerbrücke in Lavertezzo strömen und von dort ins grüne Wasser der Verzasca springen. Überfüllte Busse sind stressig, und schliesslich liegt die Postauto-Haltestelle recht weit von Giovannas Wohnung entfernt.

Soll sie also für die mindestens vierzigminütige Fahrt ihr Auto benutzen? Auch die enge Kantonsstrasse durchs Tal ist im Sommer überlastet. Die Fahrt erfordert deshalb viel Geduld und ist nicht nachhaltig.

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Buchen und zu Hause warten

Diese Probleme plagen die Bewohnerinnen und Bewohner des Verzascatals schon seit Jahren. Seit Oktober 2021 bietet sich Giovanna jedoch eine weitere Möglichkeit: Sie kann eine Fahrt in einem der zwei Elektro-Minibusse buchen, die im Rahmen des Projekts «Verzasca Mobile» zirkulieren. Dazu nutzt sie die entsprechende Mobile-App. Hat sie ihren Reisewunsch eingegeben und eine Fahrt reserviert, kann sie bequem zu Hause warten.

Der Minibus holt sie schliesslich an der Haustür ab und setzt sie direkt am Bahnhof von Tenero ab, damit sie den Zug nach Cadenazzo nehmen kann. So schont Giovanna ihre Nerven – und die Umwelt. Ausserdem kann sie ab 7 Uhr morgens mit den Minibussen rechnen, die abends bis etwa 22.30 Uhr unterwegs sind.

«Das Angebot an kollektiven Fahrten mit den Minibussen soll helfen, die Lebensqualität in unserem Tal zu steigern», sagt Alessandro Speziali. Er fungiert als Koordinator des Masterplans der Fondazione Verzasca, in dessen Rahmen das Pilotprojekt «Verzasca Mobile» mit den Bussen läuft. «Verzasca Mobile», das vor allem für die Einwohnerinnen und Einwohner sowie für Gäste gedacht ist, die im Tal übernachten, erweist sich als eine der Massnahmen, die den Menschen im Bergtal im Sinne des Masterplans zu einer guten Lebensqualität verhelfen und dazu beitragen sollen, die Abwanderung zu stoppen, aber auch jüngere Leute mit Kindern anzuregen, ins Tal zu ziehen.

Bedürfnisgerechtes Mobilitätsangebot

Die Fahrzeuge von «Verzasca Mobile» sind den ganzen Tag über verfügbar. Der Fokus liegt jedoch auf den Randstunden, in denen die Fahrpläne Lücken aufweisen, als Komplementärangebot zum Postauto, das die individuellen Bedürfnisse der Einheimischen abdeckt. Am späteren Nachmittag – wenn Berufspendlerinnen und -pendler sowie Schülerinnen und Schüler auf dem Heimweg sind – entlastet das Angebot auch die Postautokurse. Während die Mini-Elektrobusse im Verzascatal selber alle möglichen Destinationen bedienen, ist der Service in der Magadino-Ebene auf eine Handvoll Bahnhöfe und Einkaufszentren beschränkt.

Die beiden Minibusse mit je acht Sitzplätzen fahren im Sommerhalbjahr täglich, im Winter sonntags nicht. Während der Fahrten können freundschaftliche Kontakte entstehen, zumal sich die Chauffeure offen und hilfsbereit zeigen. «Die Leute schätzen das persönliche Element bei uns», stellt Minibus-Fahrer Marcel Bisi fest. Er ist einer der acht Chauffeure, die neben den zwei in Vollzeit angestellten Fahrern in Teilzeit eingesetzt werden.

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Zunehmend genutzt

Im 26 Kilometer langen Verzascatal leben rund 900 Menschen. Das Pilotprojekt mit den Minibussen startete Anfang Oktober 2021 und soll bis September 2023 dauern. Bis Ende Januar 2022 transportierten sie 483 Fahrgäste, bis Ende November 2022 waren es schon 3275. Bis dahin hatten 1279 Personen einen Account angelegt und die Hälfte von ihnen eine Fahrtbestellung aufgegeben.

Die Mobile-App für die Buchung werde stetig verwendet, hält Projektleiter Lorenzo Sonognini fest. Zudem wachse die Zahl der App-Nutzerinnen und -Nutzer  kontinuierlich,  nachdem das Interesse nach einem anfänglichen «Neugier-Peak» etwas nachgelassen hatte. Die App wurde von der Firma ioki, einer Tochter der Deutschen Bahn, für die Postauto AG konzipiert.

Die Pläne für die Anwendung im Verzascatal und das Geschäftsmodell erarbeitete das Schweizer Entwicklungsbüro Conim. Die Fondazione Verzasca verfeinerte das Modell weiter und führt auch die Fahrten aus. Die Postauto AG betreut die aktuelle Weiterentwicklung und den Betrieb der App, den sie auch finanziert.

Will also Giovanna R. in die Magadino-Ebene mitfahren, gibt sie in der App Fahrziel und Datum ein. Die Applikation gleicht die Fahrtbestellung mit den Buchungen der potenziellen Mitfahrenden ab und offeriert ihr einen Zeitplan. Giovanna kann zudem sehen, wo sich der betreffende Minibus befindet. Hat sie sich definitiv für die Fahrt entschieden, ordert sie und bezahlt auch gleich per App oder im Notfall beim Fahrer. Es existieren drei Tarifzonen; mit einem Fahrpreis von fünf Franken pro Zone sind die Minibusse etwas teurer als das Postauto – dafür ist der Service massgeschneidert.

Ist der Minibus noch weit weg oder bereits voll, müssen die Fahrgäste – vor allem, wenn sie kurzfristig buchen – mit einer längeren Wartezeit rechnen. Auch das signalisiert die App der Bestellerin. «Wir passen die Parameter für die Koordination der Buchungen und Zeitfenster laufend an, wobei uns die Feedbacks der Fahrgäste helfen», erklärt dazu Projektleiter Sonognini.

Pilotprojekt für Randgebiete

«Verzasca Mobile» ist ein Leuchtturmprojekt des «Masterplans Verzasca». Dies bot die Möglichkeit, das Projekt auch durch die Neue Regionalpolitik des Kantons Tessin zu unterstützen. Während zweier Jahre kann so ein innovatives Mobilitätsmodell für periphere Regionen getestet werden, das auch für andere Masterpläne des Kantons infrage kommen könnte. Das Projekt stiess auf breites Interesse und konnte dadurch substanzielle Finanzierungsbeiträge generieren – von der Gemeinde Verzasca, der Stiftung Verzasca, der Postauto AG, den sbb, der Tourismusorganisation Ascona-Locarno und dem Verkehrsclub der Schweiz (vcs).

«Verzasca Mobile» ist ein Vorzeigeprojekt. Zwar laufen auch anderswo Versuche mit Minibussen, das Verzasca-Projekt ist jedoch das grösste in Bezug auf Umfang und Komplexität – insbesondere hinsichtlich Logistik und Digitalisierung. Ist das Konzept perfektioniert, will es die Postauto AG auch in anderen Regionen umsetzen. Das Verzasca-Projekt wird so zum Pilotprojekt für andere periphere Gebiete der Schweiz.

verzasca.ch/de/verzasca-mobile

regiosuisse.ch/projects-nrp

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