Der Minibus bis zur Haustür

Peter Jankovsky

Im Tessiner Verzascatal läuft das ÖV-Vorzeigeprojekt «Verzasca Mobile»: Via Mobile-App können Einheimische und Gäste kollektive Fahrten mit einem Elektro-Minibus ordern, der sie wortwörtlich von Tür zu Tür bringt – nicht nur im Tal selbst, sondern auch zu den Zügen und Bussen unten in der Magadino-Ebene. Die Mobile-App funktioniert reibungslos, die Koordination der Fahrtbestellungen und die Durchführung müssen allerdings noch optimiert werden.

Giovanna R. ist berufstätige Mutter und lebt im Verzascatal. Es ist Hochsommer, und sie möchte von ihrem Wohnort Brione-Gerra nach Cadenazzo in der Magadino-Ebene hinunterfahren. Dort lebt in einer Seniorenresidenz ihr Vater, den sie mit ihren zwei Kindern besuchen will. Soll Giovanna das Postauto nehmen, das sie zum nächsten SBB-Bahnhof bringt? Der Fahrplan weist zeitlich Lücken auf, etwa am frühen Nachmittag und abends. Hinzu kommt, dass gerade im Sommer die Busse im Verzascatal oft voll sind mit Feriengästen, die zur berühmten Römerbrücke in Lavertezzo strömen und von dort ins grüne Wasser der Verzasca springen. Überfüllte Busse sind stressig, und schliesslich liegt die Postauto-Haltestelle recht weit von Giovannas Wohnung entfernt.

Soll sie also für die mindestens vierzigminütige Fahrt ihr Auto benutzen? Auch die enge Kantonsstrasse durchs Tal ist im Sommer überlastet. Die Fahrt erfordert deshalb viel Geduld und ist nicht nachhaltig.

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Buchen und zu Hause warten

Diese Probleme plagen die Bewohnerinnen und Bewohner des Verzascatals schon seit Jahren. Seit Oktober 2021 bietet sich Giovanna jedoch eine weitere Möglichkeit: Sie kann eine Fahrt in einem der zwei Elektro-Minibusse buchen, die im Rahmen des Projekts «Verzasca Mobile» zirkulieren. Dazu nutzt sie die entsprechende Mobile-App. Hat sie ihren Reisewunsch eingegeben und eine Fahrt reserviert, kann sie bequem zu Hause warten.

Der Minibus holt sie schliesslich an der Haustür ab und setzt sie direkt am Bahnhof von Tenero ab, damit sie den Zug nach Cadenazzo nehmen kann. So schont Giovanna ihre Nerven – und die Umwelt. Ausserdem kann sie ab 7 Uhr morgens mit den Minibussen rechnen, die abends bis etwa 22.30 Uhr unterwegs sind.

«Das Angebot an kollektiven Fahrten mit den Minibussen soll helfen, die Lebensqualität in unserem Tal zu steigern», sagt Alessandro Speziali. Er fungiert als Koordinator des Masterplans der Fondazione Verzasca, in dessen Rahmen das Pilotprojekt «Verzasca Mobile» mit den Bussen läuft. «Verzasca Mobile», das vor allem für die Einwohnerinnen und Einwohner sowie für Gäste gedacht ist, die im Tal übernachten, erweist sich als eine der Massnahmen, die den Menschen im Bergtal im Sinne des Masterplans zu einer guten Lebensqualität verhelfen und dazu beitragen sollen, die Abwanderung zu stoppen, aber auch jüngere Leute mit Kindern anzuregen, ins Tal zu ziehen.

Bedürfnisgerechtes Mobilitätsangebot

Die Fahrzeuge von «Verzasca Mobile» sind den ganzen Tag über verfügbar. Der Fokus liegt jedoch auf den Randstunden, in denen die Fahrpläne Lücken aufweisen, als Komplementärangebot zum Postauto, das die individuellen Bedürfnisse der Einheimischen abdeckt. Am späteren Nachmittag – wenn Berufspendlerinnen und -pendler sowie Schülerinnen und Schüler auf dem Heimweg sind – entlastet das Angebot auch die Postautokurse. Während die Mini-Elektrobusse im Verzascatal selber alle möglichen Destinationen bedienen, ist der Service in der Magadino-Ebene auf eine Handvoll Bahnhöfe und Einkaufszentren beschränkt.

Die beiden Minibusse mit je acht Sitzplätzen fahren im Sommerhalbjahr täglich, im Winter sonntags nicht. Während der Fahrten können freundschaftliche Kontakte entstehen, zumal sich die Chauffeure offen und hilfsbereit zeigen. «Die Leute schätzen das persönliche Element bei uns», stellt Minibus-Fahrer Marcel Bisi fest. Er ist einer der acht Chauffeure, die neben den zwei in Vollzeit angestellten Fahrern in Teilzeit eingesetzt werden.

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Zunehmend genutzt

Im 26 Kilometer langen Verzascatal leben rund 900 Menschen. Das Pilotprojekt mit den Minibussen startete Anfang Oktober 2021 und soll bis September 2023 dauern. Bis Ende Januar 2022 transportierten sie 483 Fahrgäste, bis Ende November 2022 waren es schon 3275. Bis dahin hatten 1279 Personen einen Account angelegt und die Hälfte von ihnen eine Fahrtbestellung aufgegeben.

Die Mobile-App für die Buchung werde stetig verwendet, hält Projektleiter Lorenzo Sonognini fest. Zudem wachse die Zahl der App-Nutzerinnen und -Nutzer  kontinuierlich,  nachdem das Interesse nach einem anfänglichen «Neugier-Peak» etwas nachgelassen hatte. Die App wurde von der Firma ioki, einer Tochter der Deutschen Bahn, für die Postauto AG konzipiert.

Die Pläne für die Anwendung im Verzascatal und das Geschäftsmodell erarbeitete das Schweizer Entwicklungsbüro Conim. Die Fondazione Verzasca verfeinerte das Modell weiter und führt auch die Fahrten aus. Die Postauto AG betreut die aktuelle Weiterentwicklung und den Betrieb der App, den sie auch finanziert.

Will also Giovanna R. in die Magadino-Ebene mitfahren, gibt sie in der App Fahrziel und Datum ein. Die Applikation gleicht die Fahrtbestellung mit den Buchungen der potenziellen Mitfahrenden ab und offeriert ihr einen Zeitplan. Giovanna kann zudem sehen, wo sich der betreffende Minibus befindet. Hat sie sich definitiv für die Fahrt entschieden, ordert sie und bezahlt auch gleich per App oder im Notfall beim Fahrer. Es existieren drei Tarifzonen; mit einem Fahrpreis von fünf Franken pro Zone sind die Minibusse etwas teurer als das Postauto – dafür ist der Service massgeschneidert.

Ist der Minibus noch weit weg oder bereits voll, müssen die Fahrgäste – vor allem, wenn sie kurzfristig buchen – mit einer längeren Wartezeit rechnen. Auch das signalisiert die App der Bestellerin. «Wir passen die Parameter für die Koordination der Buchungen und Zeitfenster laufend an, wobei uns die Feedbacks der Fahrgäste helfen», erklärt dazu Projektleiter Sonognini.

Pilotprojekt für Randgebiete

«Verzasca Mobile» ist ein Leuchtturmprojekt des «Masterplans Verzasca». Dies bot die Möglichkeit, das Projekt auch durch die Neue Regionalpolitik des Kantons Tessin zu unterstützen. Während zweier Jahre kann so ein innovatives Mobilitätsmodell für periphere Regionen getestet werden, das auch für andere Masterpläne des Kantons infrage kommen könnte. Das Projekt stiess auf breites Interesse und konnte dadurch substanzielle Finanzierungsbeiträge generieren – von der Gemeinde Verzasca, der Stiftung Verzasca, der Postauto AG, den sbb, der Tourismusorganisation Ascona-Locarno und dem Verkehrsclub der Schweiz (vcs).

«Verzasca Mobile» ist ein Vorzeigeprojekt. Zwar laufen auch anderswo Versuche mit Minibussen, das Verzasca-Projekt ist jedoch das grösste in Bezug auf Umfang und Komplexität – insbesondere hinsichtlich Logistik und Digitalisierung. Ist das Konzept perfektioniert, will es die Postauto AG auch in anderen Regionen umsetzen. Das Verzasca-Projekt wird so zum Pilotprojekt für andere periphere Gebiete der Schweiz.

verzasca.ch/de/verzasca-mobile

regiosuisse.ch/projects-nrp

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Mit Carpooling die Regionen erschliessen

Patricia Michaud

«Interreg Alpine Space», das Interreg-Programm zur Stärkung des Alpenraums, strebte mit dem Projekt «MELINDA» (Mobility Ecosystem for Low-carbon and INnovative moDAl shift in the Alps) an, das Potenzial der Datenerhebung und -auswertung besser zu nutzen, um die Entwicklung einer umweltfreundlicheren und nachhaltigeren Mobilität in Städten und ländlichen Gebieten zu fördern. Das Projekt wurde 2018 gestartet und 2021 abgeschlossen. Auf Schweizer Seite verantwortlich war die Hochschule Luzern (HSLU). Sie führte unter Leitung von Timo Ohnmacht zwei Pilotprojekte durch, die sich auf Fahrgemeinschaften (Carpooling) konzentrierten. Deren Ziel war es, Modelle zu testen, die die Erreichbarkeit ländlicher Gebiete verbessern und gleichzeitig die Abhängigkeit der lokalen Bevölkerung vom motorisierten Individualverkehr verringern könnten.

«Taxito» wurde zwischen Chur und Maladers (GR) entwickelt. Schilder an strategischen Punkten zeigen Haltestellen an, an denen Autofahrerinnen und Autofahrer Mitreisende abholen können, die sich zuvor per SMS für eine Mitfahrmöglichkeit interessiert haben.

«HitchHike», bereits bestehend seit 2011, startete im Naturpark Thal (SO) eine erste öffentliche Plattform für Mitfahrgemeinschaften. Sie verbindet Personen, die regelmässig ähnliche Strecken zurücklegen, zu Fahrgemeinschaften.

Gemäss Timo Ohnmacht, an der HSLU für «MELINDA» zuständig, wollte der Schweizer Teil des Programms «die Gleichung ‹soziale Teilhabe in ländlichen Gebieten = Privatfahrzeug› auflösen». Allerdings zeigte sich, dass die Zahl der «Taxito»- und «HitchHike»-Nutzerinnen und -Nutzer bei weitem nicht ausreicht, die CO2-Emissionen wesentlich zu reduzieren. Denn: «Es reicht nicht, einfach nur neue Tools einzuführen und die Bevölkerung zu informieren; parallel dazu braucht es Good-Governance-Regeln, um die Attraktivität von Privatfahrzeugen einzuschränken.» Dennoch erfreuen sich die Angebote wachsenden Zuspruchs. «Taxito» gibt es inzwischen in 6 Regionen mit 38 Haltestellen und «HitchHike» expandierte im vergangenen Jahr ins europäische Ausland.

alpine-space.eu/project/melinda

regiosuisse.ch/projects-nrp

taxito.ch

hitchhike.ch

Hier finden Sie die Langversion in Französisch.

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Digitaler Wegweiser zu den Standortförderangeboten

Die Standortförderung des Bundes unterstützt den Wirtschaftsstandort Schweiz mit einer breiten Palette von Unterstützungs- und Förderangeboten für Unternehmen und andere Organisationen. Nutzerinnen und Nutzer dieser Angebote standen bisher vor der Herausforderung, die für sie passende Lösung rasch zu finden. Der «Standortförderguide», ein neues, interaktives Beratungstool, soll dies nun erleichtern: Mit wenigen Klicks gelangen Nutzerinnen und Nutzer zu den relevanten Angeboten. Der «Standortförderguide» ergänzt als digitaler Wegweiser die bestehenden Rubriken der SECO-Website. Die aktuelle Palette umfasst 16 Förderinstrumente mit rund 50 Angeboten.

promotion.guide

Nachhaltige Mobilität in den Regionen

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Mobilität spielt für die regionale Entwicklung unbestritten eine wichtige Rolle. Die Erreichbarkeit der Räume ist in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft – ob für urbane oder ländliche Gebiete – ein entscheidender Standortfaktor.
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Mit den Strategischen Entwicklungsprogrammen (STEP) für die Nationalstrassen und die Bahn und den entsprechenden Finanzierungsfonds sorgt die Verkehrspolitik für die grundlegende Infrastruktur, fördert aber auch die Entwicklung nachhaltiger Verkehrs- und Mobilitätslösungen. Letztere unterstützen aber auch eine Reihe von Förderprogrammen wie das Programm Agglomerationsverkehr (PAV), die Neue Regionalpolitik (NRP), Interreg, die Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo), Innotour oder die Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO). regioS skizziert nachfolgend die Herausforderungen bei der Entwicklung zukunftsträchtiger Verkehrs- und Mobilitätslösungen und zeigt das Spektrum von Förderinstrumenten auf, das vor allem regionalen Akteurinnen und Akteure zur Verfügung steht.

Ein leistungsfähiges und leicht zugängliches Verkehrssystem ist in der global vernetzten Gesellschaft unbestritten ein entscheidender Standortvorteil und ein Wettbewerbsfaktor. Ohne effiziente Verkehrserschliessung verlieren Regionen schnell den Anschluss an die Zentren. Mit dem politischen Bekenntnis zur dezentralen Besiedlung gemäss Raumplanungsgesetz (RPG) geniesst die Erschliessung der Regionen einen besonderen politischen und sozialen Stellenwert, der über alle gesellschaftlichen und kulturellen Gräben hinweg zum Zusammenhalt des Landes beiträgt. Laut dem «Sachplan Verkehr», der Mobilitätsstrategie des Bundesrats, sollen sich alle Regionen «angemessen weiterentwickeln».

Eine chancengleiche Mobilität ist in der Schweiz nicht einfach ein Lippenbekenntnis, sondern ein nationales Anliegen – ob in den Kernstädten, Agglomerationen, ländlichen Räumen des Mittellandes oder in den Berggebieten. «Nicht zufällig verfügt die Schweiz heute über eines der dichtesten Verkehrsnetze der Welt mit etwa 83 300 Kilometern Strassen und Eisenbahnlinien von 5200 Kilometern», sagt Nicole A. Mathys, Chefin der Sektion Grundlagen des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). Landesweit finden sich kaum Orte, die nicht auch durch den öffentlichen Verkehr (ÖV) erschlossen sind. Selbst nach Juf GR, der höchstgelegenen Siedlung Europas mit rund dreissig Einwohnerinnen und Einwohnern, fährt täglich das Postauto mindestens im Zweistundentakt.

Von diesen umfassenden Angeboten macht die Schweizer Bevölkerung regen Gebrauch: Acht von zehn beschäftigten Personen pendeln zur Arbeit, wobei sie im Schnitt insgesamt rund eine Stunde pro Arbeitstag unterwegs sind. Noch wichtiger ist der Freizeitverkehr, der laut dem «Mikrozensus Mobilität und Verkehr» (MZMV) für annähernd die Hälfte (44 %) aller zurückgelegten Tagesdistanzen verantwortlich ist. Ob beruflich oder zum Freizeitvergnügen – Mobilität ist für die moderne Gesellschaft in jedem Fall selbstverständlich. Doch die Strassen, Schienen, Wege und Transportmittel von heute sind nicht einfach so aus dem Boden gesprossen, sondern über Jahrzehnte entstanden. Sie sind das Resultat unzähliger Bemühungen im Spannungsfeld von Raum, Technik, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik.

Die Aufgabe ist äusserst komplex

Den Verkehr und die Mobilität weiterzuentwickeln und in zukunftsfähige Bahnen zu lenken, ist eine komplexe Aufgabe. Die «Verkehrsperspektiven 2050» (VP 2050) des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) basieren auf mindestens sieben entscheidenden Trends, rund drei Dutzend wesentlichen Einflussfaktoren und über hundert sogenannten Stellgrössen. «Logischerweise sind in die Gestaltung von Verkehrs- und Mobilitätslösungen viele Akteurinnen und Akteure des Bundes, der Kantone, Regionen und Gemeinden eingebunden», so Nicole A. Mathys. Dies erfordert Fachwissen in unterschiedlichen Bereichen wie Verkehr, Raumentwicklung, Umwelt, Wohnungswesen und Energie. Auf nationaler Ebene ist das UVEK für den Verkehr zuständig. In der Pflicht stehen aber auch die Kantone und Gemeinden, vor allem beim Bau und Unterhalt von Kantons- und Gemeindestrassen, beim öffentlichen Nah- und Regionalverkehr sowie beim Ausbau des Langsamverkehrs. Alle diese Beteiligten sind gefordert, bei der Entwicklung einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Mobilität sämtliche Interessen von Gesellschaft und Wirtschaft mit Rücksicht auf die Siedlungsentwicklung und die Umwelt möglichst harmonisch aufeinander abzustimmen.

In welche Richtung sich Mobilität und Verkehr bis zum Jahr 2050 in der Schweiz bewegen könnten, skizzieren die VP 2050 mittels verschiedener Szenarien (siehe Kasten). Klar scheint: Der Verkehr insgesamt wird weiter zunehmen, jedoch langsamer als die Bevölkerung. Bereits heute sind die Auslastungsgrenzen verschiedenenorts erreicht. Gemäss dem «Sachplan Verkehr» müssen daher die Transportkapazitäten für Personen und Waren künftig effizienter genutzt und punktuell ausgebaut werden. Darüber hinaus sind über sämtliche Verkehrssysteme hinweg energetische Verbesserungen erforderlich, um die Treibhausgasemissionen im Kampf gegen den Klimawandel bis 2050 auf netto null zu senken. Dies kann nur mittels eines Transformationsprozesses gelingen. «Die Mobilitätsangebote der Zukunft müssen nachhaltiger, transparenter, flexibler, vernetzter, komfortabler, bedienerfreundlicher und eben CO2-neutral werden», betont Nicole A. Mathys. Ausserdem muss der motorisierte Individualverkehr (MIV) reduziert und der öffentliche Verkehr (ÖV) weiter ausgebaut werden.

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Mehr und bessere Mobilität – mit weniger Verkehr

Fördermöglichkeiten im Bereich nachhaltige Mobilität gibt es in der Schweiz viele, wie der Querschnitt durch die Förderprogramme belegt. Im Mittelpunkt stehen auf regionaler Ebene nicht grosse Infrastrukturvorhaben wie der A1 Rosenbergtunnel in St.Gallen, der Ausbau der Jurasüdfuss-Strecke der Bahn oder die Beschaffung neuer Transportmittel; dafür ist primär der Bund im Rahmen der Verkehrspolitik zuständig. Die regionalen Förderbemühungen unterstützen vor allem neue Mobilitätslösungen und Dienstleistungsangebote zur Optimierung der bestehenden Systeme. Sie betreffen den Berufs- oder Pendler- genauso wie den Freizeit- und Tourismusverkehr. «Es sind Initiativen zur Verkehrsreduktion und zu Verhaltensänderungen notwendig, und zwar zugunsten von mehr Velo- und Fusswegen sowie des Umstiegs auf den ÖV», erklärt Nicole A. Mathys. Hinzu kommen raumplanerische Massnahmen, die die Aufenthaltsqualität und Attraktivität der Siedlungsgebiete erhöhen und so der Bevölkerung ermöglichen, ihre Lebensbedürfnisse grösstenteils im nächsten Umfeld abzudecken. Die mit zunehmendem Wohlstand trotz allem weiterwachsenden Mobilitätsbedürfnisse sollen nicht nur effizienter und besser, sondern auch sauberer und umweltschonender gedeckt werden.

Die grösste planerische Herausforderung ist, die Interessen aller Beteiligten aufeinander abzustimmen und mit vereinten Kräften auf eine kohärente Entwicklung hinzuarbeiten. Ergänzend zur übergeordneten Verkehrsplanung des Bundes über den «Sachplan Verkehr», die Entwicklungsinstrumente STEP-Nationalstrassen, STEP-Bahn und die Agglomerationsprogramme, finanziert über den Bahninfrastrukturfonds (BIF) und den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) verfügen alle Kantone über ihre eigenen Mobilitätsstrategien, Richtpläne und Planungsinstrumente. Luzern beispielsweise stützt sich in der Umsetzung auf das Bauprogramm für die Kantonsstrassen, den ÖV-Bericht sowie die kantonale Veloplanung. Alle diese Instrumente sollen nun in einem neuen «Programm Gesamtmobilität» zusammengeführt werden, damit der Kanton mit den Regionen und Gemeinden koordiniert handeln kann. «Über alle erwähnten Gremien und Ebenen hinweg zeichnet sich ein inhaltlicher Konsens zu einer zukunftsfähigen Mobilitätsplanung ab, der da lautet: ‹Verkehr vermeiden, Verkehr verlagern, Verkehr verträglich abwickeln und vernetzen›», stellt Nicole A. Mathys fest.

Unterschiedliche Prioritäten

In der Umsetzung werden je nach Region und Art des Verkehrs andere Prioritäten gesetzt: In Städten und Agglomerationen bleiben Massnahmen zur Bekämpfung von Verkehrsspitzen und Stauzeiten ein zentrales Anliegen. In vielen Gemeinden des Mittellandes, ob Niederbipp BE, Obergösgen SO oder Winznau SO, sind hingegen der Pendlerverkehr und die Siedlungsplanung die grössten Herausforderungen. Die drei Ortschaften stehen laut einer Analyse von Pricehubble, einem auf Immobiliendaten spezialisierten Unternehmen, für eine vielerorts in der Schweiz zu beobachtende Entwicklung: Obwohl mitten auf dem Land gelegen, werden sie dank relativ «günstiger Häuser» und der Pendlernähe zu Zürich (maximal eine Stunde Fahrzeit) mehr und mehr zu Pendlergemeinden. Noch günstiger lässt es sich in Basel arbeiten und im Jura wohnen, etwa in Haute-Sorne, Moutier oder Develier. Eine ähnliche Mobilitäts- und Siedlungsdynamik hat auch die Einzugsgebiete gewisser inneralpiner Zentren wie Visp oder St. Moritz erfasst. In der Hauptsaison sehen sich die grossen alpinen Tourismusdestinationen zudem mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Agglomerationen und Städte: mit Stau und überfüllten Parkplätzen. In den peripheren Berggebieten und abgelegenen Seitentälern wiederum ist die Herausforderung nochmals ganz anders: Sie kämpfen gegen die Abwanderung und um den Erhalt des ÖV-Anschlusses.

Nicht absehbar ist zum heutigen Zeitpunkt, welche künftigen politischen Weichenstellungen die Transformation der Mobilität in Richtung Nachhaltigkeit weiter beschleunigen werden. Der grösste Hebel ist zweifellos der Strassenverkehr, auf den derzeit rund ein Drittel des gesamten Energieverbrauchs entfällt. Der Motorisierungsgrad der Schweiz ist mit rund 550 Autos auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner hoch, die Energieeffizienz ausgesprochen schlecht. Hauptsächlich dafür verantwortlich sind die vielen PS-starken Fahrzeuge, in denen meistens nur eine Person sitzt. Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Neuwagen in der Schweiz gehören heute zu den höchsten in Europa. «Wir kommen nicht darum herum, den Strassenverkehr energieeffizienter und klimaschonender zu machen», ist Nicole A. Mathys überzeugt. Der Bund möchte mit der «Roadmap Elektromobilität» in einer ersten Etappe erreichen, dass bis 2025 rund die Hälfte der neu zugelassenen Autos mit Elektro- oder Hybridantrieb ausgerüstet sind. Ein weiteres, weitgehend unausgeschöpftes Potenzial ist das datenbasierte Verkehrsmanagement für eine effizientere Nutzung der Verkehrsmittel und -infrastrukturen. 

«Im Bereich des motorisierten Individualverkehrs (MIV), auf den derzeit 70 % der externen Kosten des Verkehrs oder jährlich rund 14 Milliarden Franken entfallen, liegt noch viel Optimierungspotenzial», gibt Nicole A. Mathys zu bedenken. Mit der angestrebten Elektrifizierung der Schweizer Fahrzeugflotte ist allerdings bestenfalls ein Teil des Problems gelöst. Schliesslich stehen auch Elektrofahrzeuge im Stau, benötigen Strassenraum und Strom, der längst nicht immer sauber produziert ist.

Innovative Mobilitätslösungen fördern

Die zentralen Instrumente der Mobilitätsinfrastruktur sind die Strategischen Entwicklungsprogramme Nationalstrassen (STEP-NS) und Bahn (STEP Bahn). Die Finanzierung erfolgt über den der Bahninfrastrukturfonds (BIF) mit einem Volumen von 19,3 Milliarden Franken für die beiden Ausbauschritte bis 2025 beziehungsweise 2035 sowie der Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) mit einem Volumen für die Nationalstrassen (STEP-NS) von 11,6 Milliarden Franken bis 2030 und für den Agglomerationsverkehr von bisher 7,18 Milliarden Franken (seit 2008) beziehungsweis rund 1,6 Milliarden Franken für die vierte Generation ab 2024. Diese Instrumente tragen auch wesentlich zur Erschliessung der Regionen bei. Sie unterstützen aber auch die Akteurinnen und Akteure dabei, den Prozess hin zu einer nachhaltigen Mobilität zu beschleunigen und die dazu erforderlichen innovativen Lösungen zu entwickeln.

Ergänzend zu den infrastrukturorientierten Instrumenten der Verkehrspolitik kommen Förderinstrumente und Programme, die diesen Prozess auf regionaler Ebene verfeinern und unterstützen. Diese regionalen, nachfolgend skizzierten Fördergefässe sind das eigentliche Thema dieser «regioS»-Ausgabe.

Programm Agglomerationsverkehr (PAV)

Über das PAV beteiligt sich der Bund an der Finanzierung von Verkehrsprojekten zur Verbesserung des Agglomerationsverkehrs. Die Schwerpunkte der Förderung liegen auf dem Kapazitätsausbau des ÖV, der Elektrifizierung der Verkehrsträger, der besseren Vernetzung über Verkehrsdrehscheiben sowie einer sicheren und attraktiven Fuss- und Veloverkehrsinfrastruktur. Bei MIV-Projekten spielen Verkehrs- und Quartierberuhigungsmassnahmen, Begegnungszonen und gezielte Zentrumsentlastungen eine entscheidende Rolle. Der Förderperimeter umfasst beitragsberechtigte Gemeinden, die in einer Trägerschaft organisiert sind, inklusive der inneralpinen Agglomerationsräume Chur, Davos, St. Moritz, Altdorf, Glarus, Oberwallis (Brig-Visp-Naters), Zentralwallis (Sitten) und Rhoneknie (Martigny) und Chablais (Monthey-Aigle-Bex) sowie der Interreg-Programmgebiete in den Grenzregionen.

Das PAV ist das finanzielle Schwergewicht unter den Förderprogrammen. In der Vernehmlassung zur vierten Programmperiode hat sich der Bund für die Finanzierung von 1,6 Milliarden Franken (37 % Mitfinanzierung) ausgesprochen. Kantone, Städte und Gemeinden steuern zusammen weitere 2,7 Milliarden Franken (63 %) bei. Das PAV entfaltet seine Wirkung primär in der urbanen Schweiz. Bei Mobilitätslösungen im Pendler- oder Freizeitverkehr strahlt das Programm jedoch weit in die ländlichen Räume und Berggebiete sowie ins grenznahe Ausland aus. Die PAV-Projekte verdeutlichen, dass sich die Wirkung von Verkehrsmassnahmen in der kleinräumigen Schweiz selten räumlich eingrenzen lässt.

➜ Projektbeispiele (der aktuellen Programmperiode):

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Neue Regionalpolitik (NRP)

Die NRP unter der Leitung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und in Zusammenarbeit mit den Kantonen unterstützt innerhalb ihres Förderrahmens Verkehrs- und Mobilitätsprojekte, die konkret zur Wettbewerbsfähigkeit der Regionen – etwa im Tourismus – beitragen. An den NRP-Projekten beteiligen sich der Bund und die Kantone je zur Hälfte. Viele Mobilitätsprojekte werden im Rahmen einer Verkehrserschliessungspolitik angestossen, die Teil der jeweiligen regionalen Entwicklungsstrategie ist.

➜ Projektbeispiele:

Interreg-Programme

Ähnliche Ziele wie die NRP verfolgt Interreg, an dem die Schweiz via NRP in grenzüberschreitenden Räumen teilnimmt. Verkehrs- und Mobilitätsprojekte bilden dabei einen klaren Förderschwerpunkt, dies besonders in den immer stärker kooperierenden vier Grenzregionen Nordwestschweiz / Deutschland / Frankreich, Genf / Westschweiz / Frankreich, Bodenseeraum / Deutschland / Österreich und Tessin / Graubünden / Wallis / Italien.

➜ Projektbeispiele:

Attila Kartal in der Werkstatt von Rent a Bike in Willisau LU. Dienstleistungen stärken das Velo als Verkehrsmittel sowohl im Alltag als auch in der Freizeit. © regiosuisse

Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo)

Mit den MoVo fördern acht Bundesstellen unter der Leitung des ARE neue Ansätze und Methoden zur nachhaltigen Raumentwicklung. Dazu gehören auch neue Mobilitätslösungen. In der laufenden, vierten Programmperiode (2020–2024) unterstützt der Bund insgesamt 31 Vorhaben mit rund 3,9 Millionen Franken. Davon befassen sich acht Projekte explizit mit Mobilität. Sie zielen hauptsächlich darauf ab, «kurze Wege, Bewegung und Begegnung» zu fördern.

➜ Aktuelle oder kürzlich abgeschlossene Projektbeispiele:

Innotour

Der Bund unterstützt die aktuelle Programmperiode 2020–2023 zur Förderung von Innovation, Zusammenarbeit und Wissensaufbau im Tourismus (Innotour) mit 30 Millionen Franken. Schwerpunkte des vom SECO koordinierten Programms liegen nebst neuen touristischen Dienstleistungen auf der Beherbergung, Verpflegung und der Gästebetreuung sowie dem Transport und Verkehr. Schliesslich entlasten nachhaltige touristische Mobilitätslösungen das Gesamtverkehrssystem Schweiz, in dem der Freizeitverkehr bekanntlich eine dominante Rolle spielt.

➜ Projektbeispiele:

Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO)

Die KOMO ist beim Bundesamt für Energie angesiedelt. Sie unterstützt jährlich bis zu einem Dutzend Projekte für zukunftsfähige Mobilitätslösungen. Die finanziellen Mittel stammen aus dem Programm «EnergieSchweiz». KOMO-Projekte werden von den Bundesämtern ARE, Astra, BAV, BAFU und BAG mitfinanziert. Im Mittelpunkt der Förderung stehen Lösungen für umwelt-, ressourcenschonende und gesunde Fortbewegungsarten. Das Spektrum der Projekte reicht von der App für ein einfacheres Parkplatzmanagement bis hin zu Massnahmen zur Förderung des ÖV und des Langsamverkehrs.

➜ Aktuelle Projektbeispiele:

Weitere Projekte finden Sie in der regiosuisse-Datenbank: regiosuisse.ch/projektdatenbank

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Verkehrsperspektiven 2050

Die «Verkehrsperspektiven 2050» skizzieren vier mögliche Entwicklungsszenarien, wobei das Basisszenario im Zentrum der künftigen Planung steht. Demzufolge wird der Personenverkehr in der Schweiz über sämtliche Verkehrskategorien hinweg bis 2050 um 11 Prozent (gemessen in Personenkilometern) wachsen. Der Hauptgrund dafür: Auch die Bevölkerung wird im selben Zeitraum weiterwachsen, und zwar um über 20 Prozent auf 10,4 Millionen Menschen. Deutlich höhere Steigerungsraten erwartet das UVEK im Freizeitverkehr, der bereits heute für 44 Prozent aller Tagesdistanzen verantwortlich ist. Beim Einkaufsverkehr wird mit einem Plus von 15 Prozent gerechnet, derweilen der Arbeitsverkehr gegenüber heute um 13 Prozent schrumpfen soll. Treiber dieser Entwicklung sind die demografische Alterung beziehungsweise der sinkende Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung und vor allem weniger Pendlerverkehr dank mehr Homeoffice.

Veränderungen zeichnen sich auch beim Modalsplit ab: Die fortschreitende Urbanisierung und der weitere Ausbau des ÖV werden dazu führen, dass die Leute in den Städten künftig weniger mit dem eigenen Auto fahren. Bereits heute verfügt in den grössten Städten rund die Hälfte der Haushalte über kein eigenes Motorfahrzeug, während ein solches in ländlichen und peripheren Gebieten auch in Zukunft unentbehrlich scheint. Zwar dürfte der motorisierte Individualverkehr (MIV) bis 2050 laut VP 2050 um 5 Prozent zurückgehen, aber immer noch 68 Prozent des gesamten Personenverkehrs ausmachen. Der ÖV könnte unter dem Strich seinen Anteil bis 2050 um 3 auf 24 Prozent steigern. Deutliche Fortschritte, wenn auch auf tiefem Niveau, dürfte es beim Veloverkehr geben: Das Velo könnte seinen Anteil von 2 auf 4 Prozent verdoppeln.

Beim Güterverkehr rechnet das UVEK mit einem weiterhin starken Wachstum von 31 Prozent auf 36  Milliarden Tonnenkilometer. Die Schiene dürfte dabei bis 2050 im Modalsplit 2 Prozentpunkte zulegen und neu einen Anteil von 39 Prozent am gesamten Güterverkehr stellen. Der überwiegende Teil aller Tonnenkilometer dürfte aber auch im Jahr 2050 auf die Strassen fallen.

Mobilitätsverhalten der Schweizer Bevölkerung 2021

2021 entfielen rund 43 Prozent des inländischen Verkehrsaufkommens auf die Freizeitmobilität. Zweitwichtigster Mobilitätszweck war 2021 der Arbeitsverkehr, gefolgt vom Einkaufsverkehr. Insgesamt wurden im Inland pro Person und Tag 30,0 km zurückgelegt, 6,8 km weniger als sechs Jahre zuvor. Aufgrund der Pandemie war die Bevölkerung zum ersten Mal seit Jahrzehnten weniger mobil. Das E-Bike war das einzige Verkehrsmittel, das trotz Pandemie stärker genutzt wurde.

Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheiden sich in ihrem Mobilitätsverhalten zum Teil erheblich. Besonders mobil waren mit einer mittleren Tagesdistanz von 40,2 km pro Person junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren. Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gemeinden legten 2021 ein Viertel mehr Kilometer zurück als die Städterinnen und Städter.

Aus Sicht der Bevölkerung sind Verbesserungen im öffentlichen Verkehr und die Reduktion der Umweltauswirkungen des Verkehrs wichtiger als Verbesserungen im Velo-, Strassen- oder Fussverkehr.

Literatur

BSF/ARE (2023): Verkehrsverhalten der Bevölkerung 2021. Wichtigste Ergebnisse des Mikrozensus Mobilität und Verkehr. Neuchâtel.

Müller-Jentsch Daniel, Avenir Suisse (2020): Zentrumstäler: Die Haupttäler als Entwicklungsachsen des Berggebiets.

Wüest Partner (2021): Berggebiete: Sozioökonomische Analyse, eine empirische Grundlagenstudie im Auftrag des SECO.

Näher am Ziel dank weniger Tempo

Jana Avanzini

Weniger Ressourcen zu verschwenden dank guter nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen Unternehmen: Das ist das Ziel der Kreislaufwirtschaft im Rahmen von Arealentwicklungen. Im Ecoparc de Daval in Sierre VS wird das nun versucht.

Ein über 27 Fussballfelder grosser Industriepark: Das hört sich erst mal nicht besonders attraktiv an. Doch das Ziel in Sierre ist, auf dieser Fläche eine ökologischere und ökonomisch optimierte Gemeinschaft von Unternehmen zu schaffen. Zwanzig Jahre ist es her, seit die Idee des Ecoparc de Daval in Sierre entstanden ist. Die Gemeinde hat das Projekt schliesslich 2016 gestartet, die Umzonung und die Änderungen des Zonennutzungsplans nahmen erwartungsgemäss einige Zeit in Anspruch. Heute sind zehn Unternehmen Teil des Projekts – kleine Familienbetriebe ebenso wie international tätige Unternehmen, etwa Aqua4D, das wassersparende Bewässerungsanlagen für Industrie und Landwirtschaft produziert, ein Chocolatier oder das ehemalige Walliser Start-up Eversys, das mittlerweile mit seinen über 170 Angestellten führend ist im Segment der Premium-Kaffeemaschinen. Weniger Ressourcen zu verschwenden dank guter nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen Unternehmen: Das ist das Ziel der Kreislaufwirtschaft im Rahmen von Arealentwicklungen. Im Ecoparc de Daval in Sierre VS wird das nun versucht.

Sebastian Barbey, Aqua4D © regiosuisse

Ohne Vollgas

Die Anfrage von Unternehmen um einen Platz im Ecoparc de Daval ist aber viel grösser. «Land, vor allem Industrieland, ist Mangelware», betont Stéphane Revey, Leiter der Wirtschaftsförderung Sierre. Da ist man begehrt, wenn man 200 000 Quadratmeter zur Verfügung hat. Es habe zu Beginn geradezu eine Flut von Anfragen gegeben. Dass der Ecoparc trotzdem nicht schneller wächst, sei Absicht. «Wir haben unsere Auswahlkriterien, die erfüllt sein müssen, um Teil des Ecoparc zu werden», so Revey. Diese umfassen unter anderem obligatorische Grünflächen für alle Parzellen und faire Arbeitsbedingungen für die Angestellten. Empfohlen wird den Unternehmen auch die Nutzung von Solarenergie. Mit den Jahren soll auch die Energieeffizienz gesteigert werden; so soll etwa der Abfall der einen zur Energiequelle für andere werden.

Das Gelände liesse sich innerhalb von zwei Jahren mit Unternehmen füllen, die einigermassen das erwünschte Profil aufwiesen. Bringe man aber die Geduld auf und gebe sich zehn oder gar zwanzig Jahre, habe man dafür Firmen an Bord, die sich voll und ganz mit den Ideen identifizieren. «Wir wollen eine nachhaltige Entwicklung, sowohl ökonomisch als auch ökologisch», sagt Revey. Das beinhalte den Umgang mit Ressourcen und die Nutzung von Raum, Materie und Energie. «Und wir wollen weise mit dem Land umgehen», ergänzt er. So weiden rund um die Gebäude der Firma Eversys öfter Schafe. Regenwasser, abgeleitet von den Gebäuden, fliesst zurück in den natürlichen Kreislauf.

Unter der Sonne

Gerade aus dem Solarenergiebereich seien derzeit Unternehmen daran interessiert, sich im Ecoparc de Daval niederzulassen – «denn Sierre ist mit 2200 Sonnenstunden pro Jahr eine der sonnenreichsten Städte der Schweiz», betont Stéphane Revey – ein weiterer Pluspunkt für das Gelände. Schon zu Beginn wurde eine effiziente öffentliche Led-Beleuchtung mit Bewegungssensor und Fernverwaltung auf dem Gelände installiert. Alleebäume wurden gepflanzt. Die Firmen profitieren von gemeinsamen Abfallsystemen, dem Postdienst und einer Bauberatung. Weiter könnten Logistik- und Sicherheitssysteme geteilt werden, Kantinen und Kinderbetreuungsangebote.

Alles Dinge, die funktionieren können, weiss Benoît Charrière, Leiter Wissensgemeinschaften bei regiosuisse, der Netzwerkstelle für Regionalentwicklung und stellvertretender Leiter des Beratungsunternehmen dss+ Genf. Das Problem dabei sei jedoch oft die Abhängigkeit voneinander. Was, wenn eine Firma plötzlich aussteigt, die bisher die gemeinsame Kantine, die Solaranlage oder die Krippe auf ihrem Gelände geführt hat? «Miteinander zu arbeiten, birgt immer auch ein gewisses Risiko», so Charrière. Zudem falle es vielen Unternehmen schwer, eine allfällige Zusammenarbeit mit Nachbarn überhaupt anzugehen, betont er.

vlnr.: Mickaël Yonnet, David Pasquiet und Laura Blardone, David Chocolatier © regiosuisse

Fehlende Eigeninitiative

Oft wüssten Unternehmen gar nicht, was die Nachbarfirma tue, geschweige denn, welche Ressourcen sich gemeinsam nutzen liessen. Das sei verständlich, wenn man bereits mit wirtschaftlichen Herausforderungen kämpfe. Da könne man sich nicht auch noch darauf konzentrieren, wie man mit der Firma im Nachbargebäude zusammenarbeiten könnte. «Es ist dann viel einfacher, erst mal nur an sich zu denken.» Trotzdem bestehe in diesem Bereich extrem viel Potenzial. «Natürlich sind die Kosten, finanziell und personell, zu Beginn höher. Es zahlt sich jedoch langfristig aus – für die Region, die Umwelt, aber auch für die Unternehmen selbst. Es braucht aber immer auch Personen und Firmen, die vorausgehen», so Charrière.

Daher ist es wichtig, dass ein initialer Akteur solche Projekte anstösst – ein Verband, eine öffentliche Institution oder ein Privatunternehmen, das die Aufgabe übernimmt, die Zone zu beleben und Dienstleistungen für die Unternehmen zu betreiben. Revey startete vor zwei Jahren als Leiter der Wirtschaftsförderung von Sierre. «Nachdem ich mit jeder einzelnen Firma Gespräche geführt hatte, sah ich den Willen zur Zusammenarbeit bei allen. Aber niemand ergriff die Initiative», sagt er. Also machte die Gemeinde die ersten Schritte und übernahm eine unterstützende und koordinierende Rolle. Im vergangenen Jahr wurde ein Gewerbeverband gegründet, um diese Synergien zu fördern. Im Vordergrund stehen vorerst der Austausch und möglicherweise die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Anfragen bei der öffentlichen Hand. Gemeinsame Investitionen wären ein weiterer Schritt.

Stéphane Revey und Emilie Saint-Yves, Aqua4D © regiosuisse

Vor zwei Jahren wurde ein Ingenieurbüro mit der Entwicklung eines nachhaltigen Mobilitätskonzepts beauftragt. Über die Auseinandersetzung mit der Mobilität kann ökologischer Fortschritt erzielt, aber auch die Kommunikation gefördert werden. Ein gemeinsamer, aber kleiner Parkplatz bringt die Unternehmen eher dazu, Car-Sharing zu unterstützen, sich gemeinsam für Busverbindungen einzusetzen oder für einen direkten Veloweg vom Stadtzentrum in den Industriepark.

«Schliessen sich Unternehmen zusammen und treten mit Hunderten oder gar Tausenden Angestellten gemeinsam auf, haben sie gegenüber anderen Anbietern oder der Politik grössere Chancen», versichert Benoît Charrière. Auf diesem Weg lassen sich gemeinsame ökologische Ziele auch erreichen.

sierre.ch/fr/ecoparc-daval-2042.html

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Öffentliche Beschaffung – Hebelwirkung für die Kreislaufwirtschaft

Pirmin Schilliger

Mit einem Volumen von rund 40 Milliarden Franken ist der öffentliche Sektor der wichtigste Einkäufer auf dem Beschaffungsmarkt. Dies bietet einen mächtigen Hebel, die Kreislaufwirtschaft voranzubringen. Das Kompetenzzentrum Prozirkula wurde vor zwei Jahren gegründet mit dem Ziel, die Transformation von der Wegwerf- zur Kreislaufwirtschaft bei der öffentlichen und der privaten Beschaffung zu beschleunigen.

Die Niederlande setzen schon seit Jahren Milliardenbeträge ein, um die Kreislaufwirtschaft über das öffentliche Beschaffungswesen anzukurbeln. Vor vier Jahren starteten die Organisation Circular Economy Switzerland und das Beratungsunternehmen ecos mit dem Projekt «Circular Cities Switzerland» damit, das niederländische Know-how in der Schweiz fruchtbar zu machen. Aufgrund der Erfahrungen daraus entwickelten die beiden Kreislaufexperten Marco Grossmann (ecos) und Raphael Fasko (Beratungs- und Ingenieurbüro Rytec Circular) die Idee eines Kompetenzzentrums für kreislauffähige öffentliche Beschaffung, was schliesslich in die Gründung von Prozirkula mündete.

Mithilfe einer Anschubfinanzierung durch die MAVA-Stiftung starteten Rytec und ecos im Frühjahr 2020 mit dem Aufbau des Kompetenzzentrums. Nach zweijähriger Startphase firmiert Prozirkula seit April 2022 als schlanke GmbH mit Geschäftsführerin Antonia Stalder als einziger Angestellten. Zusätzlich sind Mitarbeitende von ecos und Rytec Circular auf Mandatsbasis regelmässig für Prozirkula tätig. Das Geschäftsmodell sieht vor, dass sich die junge Firma mit ihrem Dienstleistungsangebot spätestens ab 2024 selbst finanzieren sollte. Stalder gibt sich optimistisch: «Von Beginn weg hat sich gezeigt, dass das Interesse an unserem Angebot sehr gross ist und sich laufend vergrössert.»

Prozirkula © regiosuisse

Der sanfte Druck des Gesetzes

Ein wesentlicher Grund für das steigende Interesse ist das revidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB), das seit 2021 in Kraft ist. Die Verwaltungsangestellten und die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene stehen seither mehr oder weniger in der Pflicht, Kriterien der Nachhaltigkeit und spezifisch der Kreislaufwirtschaft bei der Beschaffung stärker zu gewichten. Nicht allein der Preis soll das entscheidende Zuschlagsargument sein. Kriterien wie Ressourcenschonung, Energieeffizienz, Klimaneutralität usw. sollen viel stärker einbezogen werden.

Nicht von ungefähr richtet sich der Fokus von Prozirkula primär auf die öffentliche Beschaffung: Mit einem Einkaufsvolumen von rund 40 Milliarden Franken ist der öffentliche Sektor der grösste Player auf dem Beschaffungsmarkt. Lässt er seine Muskeln spielen, verfügt er über den grössten Hebel zur Beschleunigung der Kreislaufwirtschaft. Mit seinen Entscheiden für kreislauffähige Beschaffungslösungen kann er die entscheidenden Weichen für eine nachhaltige Entwicklung stellen. Bedauerlich ist allerdings, dass das Gesetz es bei Empfehlungen bewenden lässt. Den Entscheidungstragenden bleibt dadurch weiterhin viel Spielraum, bei der Beschaffung zwischen der günstigsten und der ökologischsten Variante zu wählen.

Pionierarbeit und Pilotprojekte

Prozirkula startete unmittelbar nach der Gründung ein erstes Pilotprojekt, dem mittlerweile weitere Projekte folgten. Auf Basis des «Leitfadens für den Wiedereinsatz von Möbeln» hat das Amt für Umwelt und Energie Basel-Stadt (AUE) beispielsweise das alte Mobiliar im 2021 fertiggestellten Neubau im Zentrum von Basel wiederverwendet. Auch das Gebäude selbst, ein Hybrid aus Holz und Beton, mit Photovoltaikfassade und im Minergie-A-Eco-Standard gebaut, ist grösstenteils kreislaufkonform. Die Industriellen Werke Basel (IWB) hat Prozirkula unterstützt, Kreislaufwirtschaftsprinzipien in die Ausschreibung für Elektroladesäulen zu integrieren. Auch Armasuisse setzt neuerdings auf Ausschreibungskriterien von Prozirkula, wann immer sie elektronisches Gerät einkauft. Die SBB arbeiten mit einem von Prozirkula mitentwickelten Analysewerkzeug, um einzelne Warengruppen in Bezug auf ihre Kreislaufchancen und -risiken zu bewerten.

«Wann immer Kreislaufwirtschaft-Projekte angestossen werden, kommen die Beteiligten nicht darum herum, Pionierarbeit zu leisten», meint Stalder. Es gebe erst wenige Vorzeigebeispiele; Standardlösungen, die man einfach so übernehmen könne, seien noch kaum verfügbar. «Die Beschaffungsverantwortlichen können selten fertige Angebote und Produkte ab Stange einkaufen, sondern müssen zusammen mit den Lieferanten neue Lösungen entwickeln», skizziert Stalder die eigentliche Herausforderung. Der Wandel hin zur Kreislaufwirtschaft beginne dabei im Kopf, denn die zirkuläre Beschaffung basiere auf einer neuen Denkweise. Die Verwaltungsangestellten und Manager betreten in der Regel Neuland und werden mit ungewohnten Anforderungen konfrontiert, wenn sie sich für eine kreislauffähige Beschaffung interessieren. Prozirkula bietet ihnen in dieser Situation professionelle Unterstützung. «Wir begleiten die Beschaffungsprozesse und sorgen dafür, dass die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft bereits in die Ausschreibungen einfliessen», so Stalder. Das Kompetenzzentrum Prozirkula fördert die Transformation zu kreislauffähigen Produktions- und Konsumpraktiken mittels Beratung, Weiterbildung, Wissenstransfer, Vernetzung und durch eine Wissensdatenbank. «Über Leuchtturmprojekte und über unsere Erfahrungen berichten wir regelmässig an Veranstaltungen, unter anderem am ‹Anwenderforum Kreislaufwirtschaft› im September dieses Jahres», sagt Stalder.

Ökologischer und ökonomischer Mehrwert

Das Kompetenzzentrum spricht mit seinen Dienstleistungen zwar primär die öffentlichen Beschaffungsstellen an, doch auch die Procurement-Managerinnen und -Manager der Unternehmen liegen bei den Kreislaufwirtschaft-Spezialisten von Prozirkula grundsätzlich richtig. «Firmen, die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft strategisch in ihre Prozesse integrieren, können sich bessere Chancen ausrechnen, bei öffentlichen Aufträgen die Nase vorn zu haben», zeigt sich Stalder überzeugt. Gefragt sind immer häufiger Geschäftsmodelle, bei denen ökologischer und ökonomischer Mehrwert Hand in Hand gehen. Gute Karten hat in dieser Beziehung beispielsweise der Möbelhersteller Zesar in Tavannes JU, der kreislauffähige Schul- und Büromöbel entwickelt hat.

Nutzt die öffentliche Beschaffung konsequent ihre Nachfragemacht und setzt nur noch auf Anbietende mit kreislauftauglichen Geschäftsmodellen, bewirkt dies einen Schneeballeffekt. Die Transformation in Richtung Kreislaufwirtschaft wird so auch in der Industrie und im Gewerbe angekurbelt. Nicht zuletzt leisten damit alle Beteiligten einen entscheidenden Beitrag dazu, das Sustainable Development Goal (SDG) 12, «Verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster», und weitere SDG zu erreichen.

prozirkula.ch

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Vernetzung von Landwirtschaft und Start-ups

Patricia Michaud

Star’Terre ist die Fortsetzung eines vom Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) unterstützten Pilotprojekts, das landwirtschaftliche und unternehmerische Kreise in den Kantonen Waadt, Genf, Freiburg und Wallis vernetzt. Es legt den Fokus auf den lokalen Konsum, kurze Wege und die Rückführung der Wertschöpfung in die Region auf Basis der Kreislaufwirtschaft.

Dies ist die – ebenso banale wie fiktive – Geschichte einer Familie, die in einer Wohnung im Zentrum von Nyon VD lebt. Die älter werdenden Kinder interessieren sich immer stärker für den Boden und die Nahrungsmittel. Der schmale Balkon des Familienhauses ist bereits mit einem Tisch und einer
Mini-Entsorgungsstelle vollgestopft. Für das Pflanzen von Gemüse bleibt kein Platz. Es reicht gerade für ein paar Töpfe mit aromatischen Kräutern. Jeden Sonntag macht sich die kleine Truppe deshalb auf den Weg zu ihrer Parzelle in einem lokalen Gemeinschaftsgarten des Vereins «Au-Potager». Unter fachkundiger Anleitung widmen sich Eltern und Kinder gemeinsam dem Giessen, Jäten und – als Belohnung – dem Ernten.

© regiosuisse

Der Verein «Au-Potager» hat sich zum Ziel gesetzt, die Vertragslandwirtschaft als neuen Weg des Lebensmittelkonsums zu ermöglichen. Im Kanton Waadt betreibt der Verein bereits drei Standorte. Er bietet Dienstleistungen an, um diese Art von Gärten in der Westschweiz zu verbreiten. «Au-Potager» gehört seinerseits zu den vier Projekten, die 2022 eine Star’Terre-Begleitung erhalten haben. Die weiteren sind «Local Impact» in Freiburg, Entwickler der digitalen Plattform «Cuisinons notre région», «L’Ortie», ein gemeinsam geführtes Gemüseanbauprojekt im Kanton Genf, und «Lupi Food», das eine neue Wertschöpfungskette für pflanzliche Proteine auf Basis von Schweizer Lupinen im Kanton Waadt entwickeln will.

Die Begleitung durch Star’Terre im Umfang von rund 12 000 Franken pro Projekt erstreckt sich über drei Jahre. Die Projekte erhalten dabei thematische Beratung durch Fachleute, beispielsweise in Bezug auf die Wertschöpfungskette, rechtliche Aspekte, das Öko-Design oder die Wirtschaftsstrategie. Darüber hinaus haben sie Zugang zu einer Informationsdatenbank und spezifischen Instrumenten. Sie können sich zudem auf das starke Akteurnetzwerk im Umfeld von Landwirtschafts-, Unternehmens-, Innovations- und akademischen Kreisen stützen, an deren Schnittstelle Star’Terre sich aktiv positioniert.

© regiosuisse

Förderung des lokalen Konsums

Der Name Star’Terre sagt viel über die Natur und die Ziele dieser Organisation aus, die sich unter anderem als Bindeglied zwischen der Welt der Start-ups und der Welt der Bodenbewirtschaftung versteht. «Unser Ziel ist es, die Bereiche Landwirtschaft, Lebensmittel, Innovation und Unternehmertum im Kontext des lokalen Konsums zusammenzubringen», erklärt Magali Estève, Mitglied des Koordinationsteams. Mit «lokal» ist hier der Metropolitanraum rund um den Genfersee gemeint, der die Kantone Waadt, Genf, Freiburg und Wallis einschliesst, in denen Star’Terre aktiv ist.

Star’Terre ist eine sehr junge Organisation, die in ihrer jetzigen Form erst seit März 2020 besteht. Es handelt sich dabei um eine Fortsetzung des interkantonalen Projekts «Lokaler Konsum in der Genferseemetropole», das im Rahmen des vom seco entwickelten «Pilotprogramms Aktionsgebiet Wirtschaft» durchgeführt wurde. Dieses nationale Programm umfasste sechs Projekte und dauerte von 2017 bis 2019. Aufgrund der gesammelten Erfahrungen beschlossen die in der Region Genfersee Beteiligten, die Organisation zu verstetigen. Zum einen, weil sich dadurch Mängel beheben liessen – insbesondere die mangelnde Unterstützung an der Schnittstelle zwischen landwirtschaftlichem und nichtlandwirtschaftlichem Unternehmertum sowie fehlende Synergien zwischen den verschiedenen Förderprogrammen – und zum anderen, weil die Fortführung ermöglichte, das Potenzial der Metropole am Genfersee in Wert zu setzen.

«Star’Terre zielt auf einen echten Modellwechsel ab», betont Magali Estève. «Wir unterstützen die lokalen Akteure in ihrem Bestreben, innovativ zu sein, Know-how aus der Landwirtschaft und der Lebensmittelbranche zu teilen und besser zu verwerten.» Dies alles mit dem Ziel, «die Wertschöpfung zu den Produzenten und in die Region zurückzubringen.» Star’Terre war von Anfang an eine interkantonale Initiative und wird getragen von den Landwirtschaftsämtern der vier beteiligten Kantone sowie von agridea, der landwirtschaftlichen Beratungszentrale der kantonalen Landwirtschaftsfachstellen, der Magali Estève angehört.

Return on Investment

Über diese Funktion als Anlaufstelle hinaus versteht sich Star’Terre auch als Ort der Vernetzung von Kompetenzen oder Ressourcen sowie als Wissensdatenbank. «Wir veröffentlichen Dokumentationen, etwa einen Leitfaden für die Gründung eines partizipativen Lebensmittelladens.» Nicht zu vergessen ist die Organisation von Veranstaltungen. In einem kostenlosen Webinar wurden innovative Instrumente mit Fokus auf kurze Kreisläufe für Landwirte, Start-ups und kmu vorgestellt. Im Rahmen thematischer Treffen konnten die Teilnehmenden die Fortschritte bei den Techniken zur Verwertung von Nebenprodukten und Abfällen aus der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie kennenlernen. «Wir stellen ein immer stärkeres Interesse an den Konzepten der Lebenszyklusanalyse und der Kreislaufwirtschaft fest; das ist ein Pfeiler, den wir weiter
stärken werden.»

Dennoch: Das Kerngeschäft von Star’Terre besteht weiterhin in der Begleitung von Projekten in der Startphase. «Es muss sich um Projekte handeln, die weniger als drei Jahre alt sind und sich auf die Produktion, die Verarbeitung, den Vertrieb oder die Verwertung beziehen», erläutert die Leiterin. Selbstverständlich muss, wer einen Antrag auf Unterstützung stellt, im Aktivitätsperimeter von Star’Terre tätig sein. Zudem muss das Projekt «auf die eine oder andere Weise zu einer Erhöhung des Verbrauchsvolumens an lokalen Produkten beitragen und einen Mehrwert für die lokale Landwirtschaft aufweisen.» Schliesslich müssen die dem Auswahlkomitee vorgelegten Initiativen innovativ sein, Erfolgsaussichten haben, «leicht in einem anderen Kanton umsetzbar sein und potenziell einen Markt erreichen, der über die Metropole am Genfersee hinausgeht».

© regiosuisse

Nachahmer erwünscht

Seit dem Start des Pilotprojekts im Jahr 2017 wurden 26 Projekte von Star’Terre begleitet. Zu ihnen gehört auch eines von «Les Fruits de Martigny», einer Aktiengesellschaft, die seit über zwanzig Jahren in der Vermarktung von Walliser Obst und Gemüse tätig ist. «Sie wollte innovativ sein und eine Reihe von Frucht- und Gemüsesäften herstellen, deren Nährwerte dank ‹Pascalization› – eines Verfahrens der Kaltpasteurisierung unter hohem Druck – erhalten bleiben», berichtet Georg Bregy, der stellvertretende Leiter der Walliser Dienststelle für Landwirtschaft und Mitglied des Star’Terre Steuerungsausschusses. Dieses seit 2020 unterstützte Projekt sei ein schönes Beispiel für den Beitrag von Star’Terre zur regionalen Wirtschaft. «In einem Alpen- und Tourismuskanton wie dem Wallis ist es besonders interessant, Innovation zu nutzen, um den Konsum der lokalen Produktion zu fördern», fährt er fort.

Anderer Kanton, gleicher Ton. Jean-Marc Sermet ist Leiter des Sektors «Beiträge und Strukturen» im Genfer Amt für Landwirtschaft und Natur. Auch er ist Mitglied des Star’Terre- Lenkungsausschusses. «Früher neigten wir dazu, uns auf die Landwirtschaft zu konzentrieren. Wenn wir aber darüber hinausgehen und innovative Wege finden, um Produzenten und Konsumenten über Start-ups zusammenzubringen, schaffen wir einen echten Mehrwert für die Landwirtschaft und die Wirtschaft des Kantons.» Er nennt als Beispiel die «Manufacture de Terroir», ein 2021 unterstütztes Genfer Projekt. «Dabei handelt es sich um eine gemeinsam genutzte Werkstatt zur Verarbeitung kleiner Mengen an Obst und Gemüse. Sie stellt lokalen Produzenten die Infrastruktur und die Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sie Säfte, Suppen usw. herstellen können.»

Die beiden Kantonsverantwortlichen begrüssen unisono, dass die Vision von Star’Terre nicht bei der Parzelle endet. «Nur weil man in der Landwirtschaft tätig ist, heisst das nicht, dass man nicht über das eigene Feld, die eigene Gemeinde und den eigenen Kanton hinausschauen sollte», betont Jean-Marc Sermet. «Während der Pilotphase unseres Projekts haben wir festgestellt, dass der Genfer Metropolitanraum hinsichtlich der Konsumströme eine Tatsache ist», ergänzt Magali Estève. «Es ist ein Raum, in dem lange und kurze Kreisläufe harmonisch koexistieren und zusammenfliessen können.» Dieses Modell stösst auch anderswo in der Schweiz auf Begeisterung. Es wäre daher nicht überraschend, wenn Star’Terre auch jenseits der Saane Nachahmer finden würde.

starterre.ch

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Wachstum und Diversifizierung

Seit 2015 wurden im Technopôle neue Bereiche entwickelt, insbesondere mit AddiPole, einem Kompetenzzentrum für additive Fertigung und 3D-Digitalisierung. Dieses ist aus einer Zusammenarbeit zwischen der HEIG-VD (Haute École d’Ingénierie et de Gestion du canton de Vaud), dem CPNV (Centre Professionnel du Nord Vaudois) und der ETVJ (École Technique de la Vallée de Joux) hervorgegangen. Heute verfügt der Technopôle über alle Kompetenzen und Einrichtungen, um ein Werkstück von A bis Z mit den neusten Technologien der Digitalisierung und des 3D-Drucks aus Polymeren oder Metall herzustellen.
Er begleitet weiterhin die in seinem «Inkubator» untergebrachten Unternehmen und bietet ihnen Unterstützung auf dem Weg zur industriellen Produktion. Mindestens zwölf Startups sind dort inzwischen entstanden. Im März 2022 wurde die Stelle einer Direktorin geschaffen.

technopole1450.ch

Kreislaufwirtschaft – die besonderen Chancen der Regionen

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Kreislaufwirtschaft (KLW) steht schon seit Jahrzehnten auf der ökologischen Agenda. Mittlerweile ist daraus ein ausgereiftes und umfassendes Konzept für nachhaltiges Wirtschaften entstanden. Es soll nun in der gesamten Wirtschaft umgesetzt werden und damit auch im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP) die regionale Entwicklung inspirieren.
Die Firma Basis 57 nachhaltige Wassernutzung AG nutzt in Erstfeld UR das warme und saubere Bergwasser aus dem NEAT- Gotthardtunnel für die Zander-Zucht. © regiosuisse

© regiosuisse

In der globalen Wirtschaft stammen 90 Prozent der Materialien aus neu gewonnenen Rohstoffen, 40 Prozent davon sind fossile Energieträger. Angesichts dessen ist eine ressourcenschonende Wirtschaftsform vonnöten. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft bietet einen Lösungsansatz, der auf einem System aus erneuerbaren Energien und geschlossenen Materialkreisläufen basiert. Alle bedenklichen Stoffe, die die Umwelt belasten und die Gesundheit gefährden, sollten durch unbedenkliche ersetzt werden.

Das Prinzip der Kreislaufwirtschaft

Als Begründer der Kreislaufwirtschaft (KLW) gilt der britische Wirtschaftswissenschafter David W. Pearce. Zu Beginn der 1990er-Jahre leitete er das Konzept der Kreislaufwirtschaft aus der industriellen Ökologie ab. Der Deutsche Michael Braungart, Professor für chemische Verfahrenstechnik, und der amerikanische Architekt William McDonough entwickelten diesen Ansatz um die Jahrtausendwende konsequent weiter. In ihrem Buch «Cradle to Cradle»1 («Von der Wiege zur Wiege») propagierten sie ein fundamental neues Produktionssystem: Keine Stoffe landen mehr auf der Deponie oder in der Verbrennungsanlage. Alle nicht natürlich abbaubaren Stoffe werden stattdessen zur Produktion neuer Güter wiederverwendet.

In der Kreislaufwirtschaft nach dem «Cradle-to-Cradle»-Prinzip unterscheiden sie drei
Kategorien von Stoffen:


➊ Verbrauchsgüter wie Reinigungsmittel, Shampoos oder Verpackungsmaterialien sind in der Kreislaufwirtschaft konsequent aus biologischen Nährstoffen zu fertigen, sodass sie schliesslich kompostiert und getrost wieder der Umwelt überlassen werden können.


➋ Gebrauchsgüter wie Autos, Waschmaschinen oder Fernsehgeräte, die aus «technischen Nährstoffen» bestehen, sind so zu gestalten, dass sie am Ende ihres Lebenszyklus restlos in wiederverwertbare Bestandteile zerlegt werden können. Die Stoffe dieser Gebrauchsgüter zirkulieren also im industriellen Produktionssystem in einem ewigen Kreislauf.


➌ Ausgedient hat in der Kreislaufwirtschaft die dritte Kategorie, alle jene Stoffe, die wir heute als Abfall verbrennen oder deponieren.

«Es geht in der Kreislaufwirtschaft nicht einfach darum, Abfälle zu reduzieren oder zu minimieren, sondern die Entstehung von Abfall zu vermeiden», betont Michael Braungart, einer der geistigen Väter des Konzepts. Lassen sich Stoffe in Gebrauchsgütern (noch) nicht durch kreislauffähige Alternativen ersetzen, gilt es, den Ressourcenverbrauch zumindest zu reduzieren und die Produkte länger zu gebrauchen.

Kreislaufwirtschaft ist ein ganzheitlicher Ansatz, der den gesamten Kreislauf von der Rohstoffgewinnung über die Design-, Produktions-, Distributions- und eine möglichst lange Nutzungsphase bis hin zum Recycling betrachtet. Gelingt es, Material- und Produktkreisläufe zu schliessen, können Rohstoffe immer wieder von neuem verwendet werden. © BAFU/regiosuisse

Ein globales interdisziplinäres Projekt

Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern bildet eine unabdingbare Voraussetzung für eine künftige Kreislaufwirtschaft. Mit der Energiewende ist die Schweiz diesbezüglich politisch auf Kurs, die Rück- beziehungsweise die Überführung sämtlicher Materialflüsse in einen Kreislauf bildet hingegen eine enorme Herausforderung. Damit die Transformation gelingt, bedarf es weiterer Weichenstellungen – auch auf politischer Ebene. «Es gibt für die Hersteller keine Notwendigkeit, freiwillig dem ‹Wiege-zur-Wiege›-Prinzip zu folgen, solange die Steuerzahlenden für die Entsorgung in den teuren Kehrichtverbrennungsanlagen aufkommen», bemängelt Braungart. Die Transformation der linearen in eine zirkuläre Wirtschaft ist ein globales interdisziplinäres Projekt, in das alle Akteurinnen und Akteure eingebunden werden müssen, von der Rohstoffgewinnung über die Entwicklung und das Design der Produkte, die Herstellung und Distribution/Logistik, den Konsum bis hin zum Abfallmanagement. Letzteres sorgt dafür, dass die Stoffe nicht länger «entsorgt» werden, sondern zwingend als Sekundärrohstoffe in den Kreislauf zurückfliessen. Doch betrifft die Kreislaufwirtschaft auch die Formen der Nutzung und damit der Geschäftsmodelle. Die Devise lautet: mieten (statt kaufen), teilen/sharing (statt besitzen), reparieren/wiederaufbereiten/erneuern (statt wegwerfen)! Die Konsumentinnen und Konsumenten können mit ihren Konsumgewohnheiten und Verhaltensmustern wesentlich zum Wandel beitragen.

Mit Kreislaufwirtschaft ökonomisch erfolgreich

Im Bereich der Produktion sind vor allem die Unternehmen gefordert. Verschiedene Pioniere
haben mit Produkten wie Stühlen, Turnschuhen oder Teppichböden bereits gezeigt, dass kreislaufähige Geschäftsmodelle wirtschaftlich erfolgreich sein können. Die Firma Forster Rohner in St.Gallen hat vor Jahren kompostierbare Polsterbezüge für Büro- und Flugzeugstühle entwickelt. Die strengen Vorgaben des Labels «Cradle to Cradle» erfüllen allerdings erst wenige Unternehmen. Vögeli Druck in Langnau im Emmental zum Beispiel hat 2016 als weltweit erste Druckerei die «Cradle-to-Cradle»-Goldzertifizierung (Cradle to Cradle Products Innovation Institute, c2ccertified.org) erhalten.

In der Metall- und Maschinenindustrie führt der Weg zur Kreislaufwirtschaft meist über einen mehrstufigen Optimierungsprozess. Der Schweizer Küchenhersteller Franke verbraucht für seine Edelstahlspülen dank Prozessverbesserungen heute drei Viertel weniger Energie als noch vor wenigen Jahren und bloss noch halb so viel Edelstahl. In der Industrie ist es heute Standard, dass viele Metalle, vor allem Platin, Gold und Palladium, rezykliert werden; einfach weil diese Stoffe zu wertvoll sind, um im Abfall zu landen, und sich viele Metalle ohne Qualitätseinbusse problemlos für einen nächsten Produktionszyklus aufbereiten lassen. Rund 1,6 Millionen Tonnen Eisen- und Stahlschrott werden so in der Schweiz jährlich zu Bau- und Edelstahl aufbereitet. Ausserdem gelangen 3,2 Millionen Tonnen separat gesammelte Siedlungsabfälle wieder in den Kreislauf. Im Hoch- und Tiefbau werden knapp 12 Millionen Tonnen oder zwei Drittel der Rückbaumaterialien wie Beton, Kies, Sand, Asphalt und Mauerwerk wiederverwertet. «Weitere 5 Millionen Tonnen Rückbaumaterialien sowie 2,8 Millionen Tonnen Siedlungsabfälle sind hingegen (noch) nicht im Kreislauf», sagt David Hiltbrunner von der Sektion Rohstoffkreisläufe des Bundesamtes für Umwelt (BAFU). Eine besondere Herausforderung bleiben vorderhand Textilfasern, Kunst- und Verbundstoffe, Elektroschrott, Chemikalien sowie gewisse biogene Abfälle. Es sind Stoffe, die sich – wenn überhaupt – nur mit enormem Aufwand zerlegen und wiederaufbereiten lassen. Allerdings wächst auch in diesen heiklen Bereichen die Zahl der Firmen, die nach Prinzipien der Kreislaufwirtschaft innovative Geschäftsmodelle entwickeln. So bietet etwa die Möbelhandelsfirma Pfister seit 2018 entsprechend zertifizierte Vorhänge an. Das Start-up trs (Tyre Recycling Solutions) in Yvonand VD macht alte Pneus wieder verkehrstüchtig, und die Firma Bauwerk in St. Margrethen SG bereitet alte Parkettböden auf.

© regiosuisse

Abschied von der Wegwerfgesellschaft

Damit auch komplexe Konsumgüter wie Waschmaschinen, Computer oder Autos kreislauffähig werden, sind griffige politische Rahmenbedingungen erforderlich. Die EU-Ökodesign- und Abfallrahmenrichtlinien verlangen ausdrücklich die Förderung nachhaltiger Produktions- und Konsummodelle, insbesondere eine Gestaltung, die auf Langlebigkeit ausgerichtet ist, sowie die Reparierbarkeit von Elektrogeräten, Massnahmen gegen Lebensmittelverschwendung und Informationskampagnen in der Bevölkerung. Einzelne Länder sind in der Umsetzung schon weit. Die Niederlande etwa setzen in der öffentlichen Beschaffung seit zehn Jahren gezielt auf Güter, die nach dem «Wiege-zur-Wiege»-Prinzip gefertigt sind, und geben für die öffentliche Beschaffung nach Kreislaufwirtschaft-Kriterien zweistellige Milliardenbeträge aus. Mit dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft («Circular Economy Action Plan») hat die EU ihre Bemühungen 2020 nochmals verstärkt. Derzeit wird darüber diskutiert, die Ökodesign-Richtlinien auf sämtliche Konsumgüter auszuweiten, denn die EU möchte sich dereinst definitiv vom System der Wegwerfgesellschaft verabschieden. Die EU-Richtlinien gelten auch für alle Schweizer Hersteller, die Produkte in die EU-Länder exportieren möchten.

Es ist kein Zufall, dass das Ökodesign im EU-Aktionsplan an erster Stelle steht: Bis zu 80 Prozent der späteren Umweltbelastung eines Produktes werden in der Design-Phase vorbestimmt, ebenso dessen Lebensdauer und Reparaturanfälligkeit. Zudem gilt die ökologische Faustregel: Suffizienz vor Kreislauf! Ein schonender Umgang mit Ressourcen, der sich auf das Notwendigste beschränkt, vermeidet Leerläufe und erspart viel späteren Aufwand. «Zur Kreislaufwirtschaft tragen alle Strategien bei, die helfen, die Stoffe und Materialien sparsamer, effizienter und länger zu verwenden», meint Hiltbrunner.

Die Agenda der Schweiz

Auch in der Schweiz steht die Kreislaufwirtschaft auf der politischen Agenda weit oben. Aus gutem Grund: In kaum einem anderen Land fällt – trotz hoher Recyclingquoten – pro Kopf der Bevölkerung so viel Siedlungsabfall an wie in der Schweiz.

Im Parlament sind mindestens acht Vorstösse hängig, die sich auf die Kreislaufwirtschaft beziehen, als wichtigste die parlamentarische Initiative 20.433 «Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken» und der Bericht der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrates vom 11. Oktober 2021. Eine aktuelle Standortbestimmung zur Kreislaufwirtschaft hat der Bundesrat in diesem Frühjahr vorgenommen. Relevante Potenziale für die Kreislaufwirtschaft gibt es demnach vor allem in den Bereichen «Bauen und Wohnen», «Land- und Ernährungswirtschaft», «Mobilität», «Maschinenbau» sowie «chemische Industrie».Die Bundesverwaltung hat eine ganze Reihe von Vorschriften und Normen identifiziert, die eine Kreislaufwirtschaft noch behindern. Wie sich diese Hürden beseitigen lassen, wird abgeklärt. Klar scheint, dass die Aspekte einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft künftig in die Sektoralpolitiken des Bundes einfliessen müssen. Laut Bundesrat geschieht dies am besten in Übereinstimmung mit der «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» (SNE 2030) des Bundes und mit den nationalen Langfriststrategien zur Klima-, Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik.

© regiosuisse

Weiterentwicklung der NRP

Die explizite Förderung der Kreislaufwirtschaft – bisher kein Programmpunkt der NRP – dürfte als ein Element in die nächste Programmperiode einfliessen. Dies deckt sich auch mit dem Anliegen von Romed Aschwanden, dem Geschäftsführer des Urner Instituts «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern, wonach die NRP radikal am Prinzip der Nachhaltigkeit auszurichten sei. «Denn die Lohnungleichheit ist nicht länger das eigentliche Problem in den Randregionen und Berggebieten, sondern der Klimawandel», argumentiert er.

Bei den zuständigen Ämtern, allen voran dem SECO und den kantonalen NRP-Fachstellen, laufen bereits die notwendigen Vorarbeiten. Den Rahmen für die Weichenstellung setzen die siebzehn Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDS) der Vereinten Nationen (UNO). Diese sogenannte «Agenda 2030» bildet für die Schweiz bereits heute den Orientierungsrahmen für die «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030». Entsprechend kann sich die Direktion für Standortförderung des SECO darauf stützen, wenn es gilt, die Ideen und Ziele der nachhaltigen Entwicklung in der NRP zu verankern. «Im Schwerpunktthema ‹nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion› wird die Kreislaufwirtschaft eine wichtige Rolle spielen», sagt Ueli Ramseier, der die Arbeiten für die Nachhaltigkeit in der NRP beim SECO koordiniert. Zudem fördert die NRP mit dem Schwerpunkt «Klima, Energie und Biodiversität» seit Jahren erneuerbare Energien und die Gestaltung nachhaltiger und resilienter Siedlungsräume.

Die Abstimmung der NRP auf die nachhaltige Entwicklung ist als Weiterentwicklung und Ergänzung der NRP zu verstehen, nicht als Systemwechsel. Die Beiträge zu den gesellschaftlichen und ökologischen Aspekten der nachhaltigen Entwicklung sollen in der Programmperiode 2024–2027 weiter ausgestaltet und stärker gewichtet werden. Die NRP wird jedoch auch in Zukunft ihren regionalwirtschaftlichen Fokus beibehalten, die kantonalen NRP-Fachstellen und das SECO sollen aber vermehrt NRP-Projekte mitfinanzieren, die die Kreislaufwirtschaft ins Zentrum stellen. «An den übergeordneten Zielen – die Wettbewerbsfähigkeit der Regionen zu stärken, Arbeitsplätze zu schaffen, eine dezentrale Besiedlung zu erhalten und regionale Disparitäten abzubauen – hält die NRP fest», betont Ramseier.

Stärken der Regionalpolitik nutzen

Bei der Förderung der Kreislaufwirtschaft spielen die Regionen eine wichtige Rolle, auch wenn sie sich nicht auf den ersten Blick erschliesst. Dieser Herausforderung hat sich im letzten Jahr regiosuisse – die Netzwerkstelle für Regionalentwicklung – angenommen. «Wir möchten Know-how aufbauen, das notwendige Wissen vermitteln und konkrete Hilfestellungen für Regionen entwickeln», erläutert Lorenz Kurtz, Projektleiter regiosuisse. Im Rahmen der regiosuisse-Wissensgemeinschaft «Kreislaufwirtschaft und Regionalentwicklung» wurde in den vergangenen Monaten relevantes Wissen in Form einer Praxistoolbox mitsamt inspirierenden Beispielen aufbereitet. Um das komplexe Thema für die Regionen umsetzungsreif weiterzuentwickeln, startete regiosuisse im März dieses Jahres mit dem «Kreislaufwirtschafts-RegioLab». Dessen Ziel ist es, aufzuzeigen, wie die Regionen die Kreislaufwirtschaft in ihre regionalen Strategien integrieren können.

Chancen eröffnen sich den Regionen mit der Kreislaufwirtschaft, wenn sie auf Themen und Bereiche fokussieren, die ohnehin bereits regional und weniger global strukturiert sind: Land- und Forstwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Holzverarbeitung, erneuerbare Energien, Infrastrukturen, regionale Dienstleistungen und damit auch der Tourismus. Eine systematische Analyse der Materialflüsse und Produktionsketten in diesen Bereichen zeigt, dass das regionale Potenzial für die Kreislaufwirtschaft riesig ist. Um die Kreislaufwirtschaft zu fördern, sind nebst der Bildungs- und Wissensvermittlung zusätzliche finanzielle Anreize notwendig. Geld braucht es für die Projekte an sich, aber auch für die professionelle Projektbegleitung und die Ausarbeitung regionaler Kreislaufwirtschaft-Entwicklungsstrategien. «Denkbar ist, für besonders anspruchsvolle Projekte der Kategorie ‹5-Sterne-Nachhaltigkeit› den Förderrahmen zu erweitern und dafür künftig mehr Bundesmittel zu sprechen», meint Ramseier.

Norman Quadroni, Leiter Regionalpolitik Arcjurassien, sieht in der Kreislaufwirtschaft eine grosse Chance, den natürlichen Reichtum der ländlichen Regionen, Grenz- und Berggebiete besser zu nutzen. Er ist überzeugt, dass sich damit Ressourcen in Wert setzen lassen, die unter einer rein exportorientierten Entwicklungsperspektive auf der Strecke bleiben würden. «Bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten, die heute international organisiert sind, könnten wieder in die Region zurückgeholt und in kurze Kreisläufe eingebunden werden», so Quadroni. Die Regionen sind dank ihrer Eigenschaften und Qualitäten wie Kleinräumigkeit, Überschaubarkeit und Nähe für die Initiierung von Kreislaufprozessen grundsätzlich prädestiniert. Denn die interdisziplinäre und überbetriebliche Zusammenarbeit in Netzwerken, wie sie die NRP seit Anbeginn praktiziert, ist in der Kreislaufwirtschaft besonders gefragt.

regiosuisse.ch/kreislaufwirtschaft

bafu.ch

Förderer der Kreislaufwirtschaft

Neben regiosuisse engagieren sich verschiedene Organisationen dafür, interessierten Akteurinnen und Akteuren Know-how, Empowerment und Coaching zur Kreislaufwirtschaft anzubieten:

Go for impact Der vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) mitinitiierte Verein «Go for impact» versteht sich als Impulsgeber für die Kreislaufwirtschaft in der Schweiz. Er setzt sich politisch und wirtschaftlich dafür ein, die Kreislaufzukunft der Schweizer Wirtschaft mitzugestalten.

Circular Economy Switzerland Das wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich breit abgestützte Netzwerk richtet sich mit seiner Plattform an alle an der Kreislaufwirtschaft interessierten Organisationen, Firmen und Personen. Es hat eine Charta zur KLW ausgearbeitet und unterstützt sämtliche Initiativen mit Wissen, Veranstaltungen und politischem Lobbying.

CircularHub Die Wissens- und Netzwerkplattform zur Kreislaufwirtschaft in der Schweiz adressiert innovative Unternehmen und Startups mit Ausbildungs-, Beratungs- und Projektbegleitungsangeboten.

Netzwerk Ressourceneffizienz Schweiz (Reffnet) Expertinnen und Experten des Reffnet beraten und begleiten Firmen bei der Erarbeitung eines Massnahmenplans für eine höhere Ressourceneffizienz.

Ressourcendruck-Designmethode Eine Forschungsgruppe an der Empa hat im Rahmen des NFP 73 «Nachhaltige Wirtschaft» die Ressourcendruck-Designmethode entwickelt. Der neue Ansatz soll beim Design von Produkten und Dienstleistungen zu nachhaltigeren Entscheidungen beitragen.

PRISMA Die Interessengemeinschaft von Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie und der Konsumgüterbranche sowie der Verpackungsindustrie strebt die Realisation der Kreislaufwirtschaft im Bereich der Verpackungen an.

Prozirkula Das Kompetenzzentrum engagiert sich für die Integration der KLW-Prinzipien in die öffentlichen und privaten Beschaffungsprozesse. Es bietet Beratung, Wissenstransfer und Networking (siehe auch Artikel Öffentliche Beschaffung – Hebelwirkung für die Kreislaufwirtschaft).

WÖB Wissensplattform des Bundes für nachhaltige öffentliche Beschaffung.

Kompass Nachhaltigkeit Vom SECO finanzierte und von der Stiftung Pusch zusammen mit dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften (öbu) betriebene Wissensplattform.

Die Ideenbörse – Initiativen und Projekte zur Kreislaufwirtschaft

Landwirtschaft/Lebensmittel

Star’Terre Regionale Produktion/regionale Vermarktung/kurze Kreisläufe, interkantonale Lebensmittel-Plattform in der Region Genfersee (vgl. Artikel Vernetzung von Landwirtschaft und Start-ups).

Gemüsebau Gebr. Meier Primanatura AG in Hinwil ZH CO2-freie Gewächshäuser mithilfe von Abwärme der Kehrichtverbrennungsanlage und aus der Luft gefiltertem CO2 – geschlossene Kreisläufe.

Bösiger Gemüsekulturen AG in Niederbipp BE zirkulärer Gemüsebau.

Aquaponik Verbindung von Fischzucht und bodenunabhängiger Landwirtschaft in einem Kreislauf. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW) forscht und lehrt auf diesem Gebiet und bietet Kurse für Einsteiger und Interessenten an.

Energie-Farming Tropenhaus Frutigen Aquakultur mit Fischzucht in Kreislaufanlage.

Food-Waste-Projekte: Start-up/App «Too good to go», Plattform «United against Waste».

«Kreislaufwirtschaft im Seeland» (NRP-Projekt 2021–2023): Restaurants, Bäckereien und Betriebe der Gemeinschaftsgastronomie versuchen zusammen mit weiteren Akteuren (Gemüseproduzenten, Konsumenten), die Kreisläufe der Wertschöpfungskette zu schliessen.

Centravo AG in Lyss BE Das Unternehmen verwertet seit 25 Jahren tierische Bestandteile, die von den Metzgereien nicht genutzt werden.

Fine Funghi AG Das Zürcher Unternehmen produziert Bio-Pilze aus dem Abfall (Weizenkleie) einer Getreidemühle.

RethinkResource Das Start-up hat den B2B-Marktplatz «Circado» aufgebaut, um industrielle Nebenprodukte der Lebensmittelproduktion zu verwerten.

Ricoter Erdaufbereitung AG Das 1981 gegründete Unternehmen produziert in Aarberg BE und Frauenfeld TG Gartenerde aus den organischen Abfällen der Zuckerraffinerien.

Brauerei Locher Appenzell AI agroindustrielles Projekt.

ortoloco – Hofkooperative in Dietikon ZH 500 Personen wirtschaften und entscheiden gemeinsam als Produzentinnen un Produzenten, Konsumentinnen und Konsumenten.

Einkaufsgemeinschaften, bei denen die Konsumenten direkt mit den Produzenten kooperieren: u.a. Tante Emmen, Koop Teiggi Kriens, Plattform Crowd Container, IG Foodcoops.

Qwstion Das Zürcher Taschenlabel hat ein neues textiles Material lanciert, das aus den Fasern der Bananenstaude «gewoben» wird.

Bauwirtschaft/Immobilien

Zirkuläres Bauen (Beat Bösiger, bluefactory), Rückbau, Recyclingbeton, Verwendung von lokalen, nachhaltigen, erneuerbaren Materialien usw., Ausbau Asphalt.

Eberhard Bau AG Das Unternehmen ist seit vier Jahrzehnten Pionier des Baurecyclings. Es verwandelt Bauschutt ohne Qualitätseinbusse in Sekundärrohstoffe.

Weitere Spezialisten des Baurecyclings Ronchi SA in Gland VD, Sotrag SA in Etoy VD, Kästli Bau AG in Rubigen BE,BOWA Recycling in Susten.

Neustark in Bern Die Berner Firma ist spezialisiert auf die Versteinerung von atmosphärischem CO2 in verwertetem Beton.

Integrierte Planung und gemeinsame Bewirtschaftung von Industrie- und Gewerbegebieten Projekte in Le Locle NE, St-Imier NE , im Val-de-Ruz NE, im Sensebezirk BE (Arbeitszonen), in Sierre VS (Ecoparc de Daval), Schattdorf UR usw.

enoki in Fribourg Das Freiburger Start-up entwirft und plant kreislauffähigere Quartiere und Städte.

Terrabloc in Genf Die Genfer Firma Terrabloc produziert Bau- und Dämmstoffe aus Lehm.

VADEME Das Interreg-Projekt zielt auf eine koordinierte Lösung für mineralische Bauabfälle in den Regionen Genf und Annecy ab (vgl. Artikel VADEME: mineralische Abfälle aufwerten).

ORRAP Interreg-Projekt (2016–2019) für das Recycling von Ausbauasphalt in der Region Basel.

Organisatorische und strategische Ansätze

AlpLinkBioEco Das im April 2021 abgeschlossene Interreg-Projekt hat einen Wertschöpfungskettengenerator und einen Masterplan entworfen für eine auf natürlichen lokalen Rohstoffen basierende Kreislaufwirtschaft im Alpenraum.

Sharely Das Start-up betreibt eine Miet- und Vermietungsplattform für Alltagsgegenstände.

Make furniture circular Eine Initiative der Stiftung Pusch und des Migros-Pionierfonds zur Förderung von «Kreislauf-Möbeln».

Reparatur- und Recyclingnetzwerke Verschiedene regionale Initiativen zur Förderung von Reparatur- und Recyclingstellen. Dazu zählen auch Secondhand-Days, Secondhand-Shops, Repair-Werkstätten, Up-Cycling-Stellen usw.

Kreislaufwirtschaft im Parc Naturel Régional Chasseral: Relokalisierung von Wertschöpfungsketten, Erhalt und Inwertsetzung von natürlichen lokalen Ressourcen.

Roadmap Kreislaufwirtschaft des Kantons Freiburg kantonale Strategie.

Plattform 1PEC Ideenbörse zur Förderung der Kreislaufwirtschaft im Wallis.

Kreislaufwirtschaft Oberwallis Kreislaufwirtschaft in einem ländlich abgeschlossenen Gebiet (gefördert durch das Programm «Nachhaltige Entwicklung», ARE, 2022).

Share Gallen Networking-Workshop und öffentlicher Markt in St. Gallen (Projekt aus Förderprogramm «Nachhaltige Entwicklung», ARE, 2018).

Erneuerbare Energien

Biogasanlagen: z.B. Kägiswil OW und Kompogasanlage Wauwil LU, beide durch die NRP gefördert, sowie BiogasTicino SA in der Magadino-Ebene.

Satom SA in Monthey VS Methanisierung von Bio-Abfällen.

Kantonales Programm «Wertschöpfungskette Holz» in der Waadt (NRP-Projekt): Holz wird als nachwachsender Energieträger vom Kanton direkt gefördert.

Programm «Smart Villages/Smart Regions»

Die Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche; auch Gemeinden und Regionen in Berggebieten eröffnet sie neue Möglichkeiten. Im Rahmen der NRP-Pilotmassnahmen für die Berggebiete haben das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) das Programm «Smart Villages/Smart Regions» lanciert. Das Programm bietet Beratung und finanzielle Unterstützung für Gemeinden und Regionen, die in einem partizipativen Prozess Massnahmen erarbeiten, mit denen sich die digitalen Möglichkeiten für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung nutzen lassen. Ziel ist es, jeweils einen von der Gemeindeexekutive verabschiedeten Aktionsplan mit konkreten Umsetzungsprojekten zu entwerfen. Die Möglichkeiten des Programms nutzen bereits mehr als ein Dutzend Gemeinden und Regio­nen. Weitere können teilnehmen.

Mehr zum Programm und zur Teilnahme

regiosuisse.ch/nrp-pilotmassnahmen-berggebiete