Kreislaufwirtschaft – die besonderen Chancen der Regionen

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Kreislaufwirtschaft (KLW) steht schon seit Jahrzehnten auf der ökologischen Agenda. Mittlerweile ist daraus ein ausgereiftes und umfassendes Konzept für nachhaltiges Wirtschaften entstanden. Es soll nun in der gesamten Wirtschaft umgesetzt werden und damit auch im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP) die regionale Entwicklung inspirieren.
Die Firma Basis 57 nachhaltige Wassernutzung AG nutzt in Erstfeld UR das warme und saubere Bergwasser aus dem NEAT- Gotthardtunnel für die Zander-Zucht. © regiosuisse

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In der globalen Wirtschaft stammen 90 Prozent der Materialien aus neu gewonnenen Rohstoffen, 40 Prozent davon sind fossile Energieträger. Angesichts dessen ist eine ressourcenschonende Wirtschaftsform vonnöten. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft bietet einen Lösungsansatz, der auf einem System aus erneuerbaren Energien und geschlossenen Materialkreisläufen basiert. Alle bedenklichen Stoffe, die die Umwelt belasten und die Gesundheit gefährden, sollten durch unbedenkliche ersetzt werden.

Das Prinzip der Kreislaufwirtschaft

Als Begründer der Kreislaufwirtschaft (KLW) gilt der britische Wirtschaftswissenschafter David W. Pearce. Zu Beginn der 1990er-Jahre leitete er das Konzept der Kreislaufwirtschaft aus der industriellen Ökologie ab. Der Deutsche Michael Braungart, Professor für chemische Verfahrenstechnik, und der amerikanische Architekt William McDonough entwickelten diesen Ansatz um die Jahrtausendwende konsequent weiter. In ihrem Buch «Cradle to Cradle»1 («Von der Wiege zur Wiege») propagierten sie ein fundamental neues Produktionssystem: Keine Stoffe landen mehr auf der Deponie oder in der Verbrennungsanlage. Alle nicht natürlich abbaubaren Stoffe werden stattdessen zur Produktion neuer Güter wiederverwendet.

In der Kreislaufwirtschaft nach dem «Cradle-to-Cradle»-Prinzip unterscheiden sie drei
Kategorien von Stoffen:


➊ Verbrauchsgüter wie Reinigungsmittel, Shampoos oder Verpackungsmaterialien sind in der Kreislaufwirtschaft konsequent aus biologischen Nährstoffen zu fertigen, sodass sie schliesslich kompostiert und getrost wieder der Umwelt überlassen werden können.


➋ Gebrauchsgüter wie Autos, Waschmaschinen oder Fernsehgeräte, die aus «technischen Nährstoffen» bestehen, sind so zu gestalten, dass sie am Ende ihres Lebenszyklus restlos in wiederverwertbare Bestandteile zerlegt werden können. Die Stoffe dieser Gebrauchsgüter zirkulieren also im industriellen Produktionssystem in einem ewigen Kreislauf.


➌ Ausgedient hat in der Kreislaufwirtschaft die dritte Kategorie, alle jene Stoffe, die wir heute als Abfall verbrennen oder deponieren.

«Es geht in der Kreislaufwirtschaft nicht einfach darum, Abfälle zu reduzieren oder zu minimieren, sondern die Entstehung von Abfall zu vermeiden», betont Michael Braungart, einer der geistigen Väter des Konzepts. Lassen sich Stoffe in Gebrauchsgütern (noch) nicht durch kreislauffähige Alternativen ersetzen, gilt es, den Ressourcenverbrauch zumindest zu reduzieren und die Produkte länger zu gebrauchen.

Kreislaufwirtschaft ist ein ganzheitlicher Ansatz, der den gesamten Kreislauf von der Rohstoffgewinnung über die Design-, Produktions-, Distributions- und eine möglichst lange Nutzungsphase bis hin zum Recycling betrachtet. Gelingt es, Material- und Produktkreisläufe zu schliessen, können Rohstoffe immer wieder von neuem verwendet werden. © BAFU/regiosuisse

Ein globales interdisziplinäres Projekt

Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern bildet eine unabdingbare Voraussetzung für eine künftige Kreislaufwirtschaft. Mit der Energiewende ist die Schweiz diesbezüglich politisch auf Kurs, die Rück- beziehungsweise die Überführung sämtlicher Materialflüsse in einen Kreislauf bildet hingegen eine enorme Herausforderung. Damit die Transformation gelingt, bedarf es weiterer Weichenstellungen – auch auf politischer Ebene. «Es gibt für die Hersteller keine Notwendigkeit, freiwillig dem ‹Wiege-zur-Wiege›-Prinzip zu folgen, solange die Steuerzahlenden für die Entsorgung in den teuren Kehrichtverbrennungsanlagen aufkommen», bemängelt Braungart. Die Transformation der linearen in eine zirkuläre Wirtschaft ist ein globales interdisziplinäres Projekt, in das alle Akteurinnen und Akteure eingebunden werden müssen, von der Rohstoffgewinnung über die Entwicklung und das Design der Produkte, die Herstellung und Distribution/Logistik, den Konsum bis hin zum Abfallmanagement. Letzteres sorgt dafür, dass die Stoffe nicht länger «entsorgt» werden, sondern zwingend als Sekundärrohstoffe in den Kreislauf zurückfliessen. Doch betrifft die Kreislaufwirtschaft auch die Formen der Nutzung und damit der Geschäftsmodelle. Die Devise lautet: mieten (statt kaufen), teilen/sharing (statt besitzen), reparieren/wiederaufbereiten/erneuern (statt wegwerfen)! Die Konsumentinnen und Konsumenten können mit ihren Konsumgewohnheiten und Verhaltensmustern wesentlich zum Wandel beitragen.

Mit Kreislaufwirtschaft ökonomisch erfolgreich

Im Bereich der Produktion sind vor allem die Unternehmen gefordert. Verschiedene Pioniere
haben mit Produkten wie Stühlen, Turnschuhen oder Teppichböden bereits gezeigt, dass kreislaufähige Geschäftsmodelle wirtschaftlich erfolgreich sein können. Die Firma Forster Rohner in St.Gallen hat vor Jahren kompostierbare Polsterbezüge für Büro- und Flugzeugstühle entwickelt. Die strengen Vorgaben des Labels «Cradle to Cradle» erfüllen allerdings erst wenige Unternehmen. Vögeli Druck in Langnau im Emmental zum Beispiel hat 2016 als weltweit erste Druckerei die «Cradle-to-Cradle»-Goldzertifizierung (Cradle to Cradle Products Innovation Institute, c2ccertified.org) erhalten.

In der Metall- und Maschinenindustrie führt der Weg zur Kreislaufwirtschaft meist über einen mehrstufigen Optimierungsprozess. Der Schweizer Küchenhersteller Franke verbraucht für seine Edelstahlspülen dank Prozessverbesserungen heute drei Viertel weniger Energie als noch vor wenigen Jahren und bloss noch halb so viel Edelstahl. In der Industrie ist es heute Standard, dass viele Metalle, vor allem Platin, Gold und Palladium, rezykliert werden; einfach weil diese Stoffe zu wertvoll sind, um im Abfall zu landen, und sich viele Metalle ohne Qualitätseinbusse problemlos für einen nächsten Produktionszyklus aufbereiten lassen. Rund 1,6 Millionen Tonnen Eisen- und Stahlschrott werden so in der Schweiz jährlich zu Bau- und Edelstahl aufbereitet. Ausserdem gelangen 3,2 Millionen Tonnen separat gesammelte Siedlungsabfälle wieder in den Kreislauf. Im Hoch- und Tiefbau werden knapp 12 Millionen Tonnen oder zwei Drittel der Rückbaumaterialien wie Beton, Kies, Sand, Asphalt und Mauerwerk wiederverwertet. «Weitere 5 Millionen Tonnen Rückbaumaterialien sowie 2,8 Millionen Tonnen Siedlungsabfälle sind hingegen (noch) nicht im Kreislauf», sagt David Hiltbrunner von der Sektion Rohstoffkreisläufe des Bundesamtes für Umwelt (BAFU). Eine besondere Herausforderung bleiben vorderhand Textilfasern, Kunst- und Verbundstoffe, Elektroschrott, Chemikalien sowie gewisse biogene Abfälle. Es sind Stoffe, die sich – wenn überhaupt – nur mit enormem Aufwand zerlegen und wiederaufbereiten lassen. Allerdings wächst auch in diesen heiklen Bereichen die Zahl der Firmen, die nach Prinzipien der Kreislaufwirtschaft innovative Geschäftsmodelle entwickeln. So bietet etwa die Möbelhandelsfirma Pfister seit 2018 entsprechend zertifizierte Vorhänge an. Das Start-up trs (Tyre Recycling Solutions) in Yvonand VD macht alte Pneus wieder verkehrstüchtig, und die Firma Bauwerk in St. Margrethen SG bereitet alte Parkettböden auf.

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Abschied von der Wegwerfgesellschaft

Damit auch komplexe Konsumgüter wie Waschmaschinen, Computer oder Autos kreislauffähig werden, sind griffige politische Rahmenbedingungen erforderlich. Die EU-Ökodesign- und Abfallrahmenrichtlinien verlangen ausdrücklich die Förderung nachhaltiger Produktions- und Konsummodelle, insbesondere eine Gestaltung, die auf Langlebigkeit ausgerichtet ist, sowie die Reparierbarkeit von Elektrogeräten, Massnahmen gegen Lebensmittelverschwendung und Informationskampagnen in der Bevölkerung. Einzelne Länder sind in der Umsetzung schon weit. Die Niederlande etwa setzen in der öffentlichen Beschaffung seit zehn Jahren gezielt auf Güter, die nach dem «Wiege-zur-Wiege»-Prinzip gefertigt sind, und geben für die öffentliche Beschaffung nach Kreislaufwirtschaft-Kriterien zweistellige Milliardenbeträge aus. Mit dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft («Circular Economy Action Plan») hat die EU ihre Bemühungen 2020 nochmals verstärkt. Derzeit wird darüber diskutiert, die Ökodesign-Richtlinien auf sämtliche Konsumgüter auszuweiten, denn die EU möchte sich dereinst definitiv vom System der Wegwerfgesellschaft verabschieden. Die EU-Richtlinien gelten auch für alle Schweizer Hersteller, die Produkte in die EU-Länder exportieren möchten.

Es ist kein Zufall, dass das Ökodesign im EU-Aktionsplan an erster Stelle steht: Bis zu 80 Prozent der späteren Umweltbelastung eines Produktes werden in der Design-Phase vorbestimmt, ebenso dessen Lebensdauer und Reparaturanfälligkeit. Zudem gilt die ökologische Faustregel: Suffizienz vor Kreislauf! Ein schonender Umgang mit Ressourcen, der sich auf das Notwendigste beschränkt, vermeidet Leerläufe und erspart viel späteren Aufwand. «Zur Kreislaufwirtschaft tragen alle Strategien bei, die helfen, die Stoffe und Materialien sparsamer, effizienter und länger zu verwenden», meint Hiltbrunner.

Die Agenda der Schweiz

Auch in der Schweiz steht die Kreislaufwirtschaft auf der politischen Agenda weit oben. Aus gutem Grund: In kaum einem anderen Land fällt – trotz hoher Recyclingquoten – pro Kopf der Bevölkerung so viel Siedlungsabfall an wie in der Schweiz.

Im Parlament sind mindestens acht Vorstösse hängig, die sich auf die Kreislaufwirtschaft beziehen, als wichtigste die parlamentarische Initiative 20.433 «Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken» und der Bericht der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrates vom 11. Oktober 2021. Eine aktuelle Standortbestimmung zur Kreislaufwirtschaft hat der Bundesrat in diesem Frühjahr vorgenommen. Relevante Potenziale für die Kreislaufwirtschaft gibt es demnach vor allem in den Bereichen «Bauen und Wohnen», «Land- und Ernährungswirtschaft», «Mobilität», «Maschinenbau» sowie «chemische Industrie».Die Bundesverwaltung hat eine ganze Reihe von Vorschriften und Normen identifiziert, die eine Kreislaufwirtschaft noch behindern. Wie sich diese Hürden beseitigen lassen, wird abgeklärt. Klar scheint, dass die Aspekte einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft künftig in die Sektoralpolitiken des Bundes einfliessen müssen. Laut Bundesrat geschieht dies am besten in Übereinstimmung mit der «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» (SNE 2030) des Bundes und mit den nationalen Langfriststrategien zur Klima-, Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik.

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Weiterentwicklung der NRP

Die explizite Förderung der Kreislaufwirtschaft – bisher kein Programmpunkt der NRP – dürfte als ein Element in die nächste Programmperiode einfliessen. Dies deckt sich auch mit dem Anliegen von Romed Aschwanden, dem Geschäftsführer des Urner Instituts «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern, wonach die NRP radikal am Prinzip der Nachhaltigkeit auszurichten sei. «Denn die Lohnungleichheit ist nicht länger das eigentliche Problem in den Randregionen und Berggebieten, sondern der Klimawandel», argumentiert er.

Bei den zuständigen Ämtern, allen voran dem SECO und den kantonalen NRP-Fachstellen, laufen bereits die notwendigen Vorarbeiten. Den Rahmen für die Weichenstellung setzen die siebzehn Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDS) der Vereinten Nationen (UNO). Diese sogenannte «Agenda 2030» bildet für die Schweiz bereits heute den Orientierungsrahmen für die «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030». Entsprechend kann sich die Direktion für Standortförderung des SECO darauf stützen, wenn es gilt, die Ideen und Ziele der nachhaltigen Entwicklung in der NRP zu verankern. «Im Schwerpunktthema ‹nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion› wird die Kreislaufwirtschaft eine wichtige Rolle spielen», sagt Ueli Ramseier, der die Arbeiten für die Nachhaltigkeit in der NRP beim SECO koordiniert. Zudem fördert die NRP mit dem Schwerpunkt «Klima, Energie und Biodiversität» seit Jahren erneuerbare Energien und die Gestaltung nachhaltiger und resilienter Siedlungsräume.

Die Abstimmung der NRP auf die nachhaltige Entwicklung ist als Weiterentwicklung und Ergänzung der NRP zu verstehen, nicht als Systemwechsel. Die Beiträge zu den gesellschaftlichen und ökologischen Aspekten der nachhaltigen Entwicklung sollen in der Programmperiode 2024–2027 weiter ausgestaltet und stärker gewichtet werden. Die NRP wird jedoch auch in Zukunft ihren regionalwirtschaftlichen Fokus beibehalten, die kantonalen NRP-Fachstellen und das SECO sollen aber vermehrt NRP-Projekte mitfinanzieren, die die Kreislaufwirtschaft ins Zentrum stellen. «An den übergeordneten Zielen – die Wettbewerbsfähigkeit der Regionen zu stärken, Arbeitsplätze zu schaffen, eine dezentrale Besiedlung zu erhalten und regionale Disparitäten abzubauen – hält die NRP fest», betont Ramseier.

Stärken der Regionalpolitik nutzen

Bei der Förderung der Kreislaufwirtschaft spielen die Regionen eine wichtige Rolle, auch wenn sie sich nicht auf den ersten Blick erschliesst. Dieser Herausforderung hat sich im letzten Jahr regiosuisse – die Netzwerkstelle für Regionalentwicklung – angenommen. «Wir möchten Know-how aufbauen, das notwendige Wissen vermitteln und konkrete Hilfestellungen für Regionen entwickeln», erläutert Lorenz Kurtz, Projektleiter regiosuisse. Im Rahmen der regiosuisse-Wissensgemeinschaft «Kreislaufwirtschaft und Regionalentwicklung» wurde in den vergangenen Monaten relevantes Wissen in Form einer Praxistoolbox mitsamt inspirierenden Beispielen aufbereitet. Um das komplexe Thema für die Regionen umsetzungsreif weiterzuentwickeln, startete regiosuisse im März dieses Jahres mit dem «Kreislaufwirtschafts-RegioLab». Dessen Ziel ist es, aufzuzeigen, wie die Regionen die Kreislaufwirtschaft in ihre regionalen Strategien integrieren können.

Chancen eröffnen sich den Regionen mit der Kreislaufwirtschaft, wenn sie auf Themen und Bereiche fokussieren, die ohnehin bereits regional und weniger global strukturiert sind: Land- und Forstwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Holzverarbeitung, erneuerbare Energien, Infrastrukturen, regionale Dienstleistungen und damit auch der Tourismus. Eine systematische Analyse der Materialflüsse und Produktionsketten in diesen Bereichen zeigt, dass das regionale Potenzial für die Kreislaufwirtschaft riesig ist. Um die Kreislaufwirtschaft zu fördern, sind nebst der Bildungs- und Wissensvermittlung zusätzliche finanzielle Anreize notwendig. Geld braucht es für die Projekte an sich, aber auch für die professionelle Projektbegleitung und die Ausarbeitung regionaler Kreislaufwirtschaft-Entwicklungsstrategien. «Denkbar ist, für besonders anspruchsvolle Projekte der Kategorie ‹5-Sterne-Nachhaltigkeit› den Förderrahmen zu erweitern und dafür künftig mehr Bundesmittel zu sprechen», meint Ramseier.

Norman Quadroni, Leiter Regionalpolitik Arcjurassien, sieht in der Kreislaufwirtschaft eine grosse Chance, den natürlichen Reichtum der ländlichen Regionen, Grenz- und Berggebiete besser zu nutzen. Er ist überzeugt, dass sich damit Ressourcen in Wert setzen lassen, die unter einer rein exportorientierten Entwicklungsperspektive auf der Strecke bleiben würden. «Bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten, die heute international organisiert sind, könnten wieder in die Region zurückgeholt und in kurze Kreisläufe eingebunden werden», so Quadroni. Die Regionen sind dank ihrer Eigenschaften und Qualitäten wie Kleinräumigkeit, Überschaubarkeit und Nähe für die Initiierung von Kreislaufprozessen grundsätzlich prädestiniert. Denn die interdisziplinäre und überbetriebliche Zusammenarbeit in Netzwerken, wie sie die NRP seit Anbeginn praktiziert, ist in der Kreislaufwirtschaft besonders gefragt.

regiosuisse.ch/kreislaufwirtschaft

bafu.ch

Förderer der Kreislaufwirtschaft

Neben regiosuisse engagieren sich verschiedene Organisationen dafür, interessierten Akteurinnen und Akteuren Know-how, Empowerment und Coaching zur Kreislaufwirtschaft anzubieten:

Go for impact Der vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) mitinitiierte Verein «Go for impact» versteht sich als Impulsgeber für die Kreislaufwirtschaft in der Schweiz. Er setzt sich politisch und wirtschaftlich dafür ein, die Kreislaufzukunft der Schweizer Wirtschaft mitzugestalten.

Circular Economy Switzerland Das wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich breit abgestützte Netzwerk richtet sich mit seiner Plattform an alle an der Kreislaufwirtschaft interessierten Organisationen, Firmen und Personen. Es hat eine Charta zur KLW ausgearbeitet und unterstützt sämtliche Initiativen mit Wissen, Veranstaltungen und politischem Lobbying.

CircularHub Die Wissens- und Netzwerkplattform zur Kreislaufwirtschaft in der Schweiz adressiert innovative Unternehmen und Startups mit Ausbildungs-, Beratungs- und Projektbegleitungsangeboten.

Netzwerk Ressourceneffizienz Schweiz (Reffnet) Expertinnen und Experten des Reffnet beraten und begleiten Firmen bei der Erarbeitung eines Massnahmenplans für eine höhere Ressourceneffizienz.

Ressourcendruck-Designmethode Eine Forschungsgruppe an der Empa hat im Rahmen des NFP 73 «Nachhaltige Wirtschaft» die Ressourcendruck-Designmethode entwickelt. Der neue Ansatz soll beim Design von Produkten und Dienstleistungen zu nachhaltigeren Entscheidungen beitragen.

PRISMA Die Interessengemeinschaft von Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie und der Konsumgüterbranche sowie der Verpackungsindustrie strebt die Realisation der Kreislaufwirtschaft im Bereich der Verpackungen an.

Prozirkula Das Kompetenzzentrum engagiert sich für die Integration der KLW-Prinzipien in die öffentlichen und privaten Beschaffungsprozesse. Es bietet Beratung, Wissenstransfer und Networking (siehe auch Artikel Öffentliche Beschaffung – Hebelwirkung für die Kreislaufwirtschaft).

WÖB Wissensplattform des Bundes für nachhaltige öffentliche Beschaffung.

Kompass Nachhaltigkeit Vom SECO finanzierte und von der Stiftung Pusch zusammen mit dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften (öbu) betriebene Wissensplattform.

Die Ideenbörse – Initiativen und Projekte zur Kreislaufwirtschaft

Landwirtschaft/Lebensmittel

Star’Terre Regionale Produktion/regionale Vermarktung/kurze Kreisläufe, interkantonale Lebensmittel-Plattform in der Region Genfersee (vgl. Artikel Vernetzung von Landwirtschaft und Start-ups).

Gemüsebau Gebr. Meier Primanatura AG in Hinwil ZH CO2-freie Gewächshäuser mithilfe von Abwärme der Kehrichtverbrennungsanlage und aus der Luft gefiltertem CO2 – geschlossene Kreisläufe.

Bösiger Gemüsekulturen AG in Niederbipp BE zirkulärer Gemüsebau.

Aquaponik Verbindung von Fischzucht und bodenunabhängiger Landwirtschaft in einem Kreislauf. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW) forscht und lehrt auf diesem Gebiet und bietet Kurse für Einsteiger und Interessenten an.

Energie-Farming Tropenhaus Frutigen Aquakultur mit Fischzucht in Kreislaufanlage.

Food-Waste-Projekte: Start-up/App «Too good to go», Plattform «United against Waste».

«Kreislaufwirtschaft im Seeland» (NRP-Projekt 2021–2023): Restaurants, Bäckereien und Betriebe der Gemeinschaftsgastronomie versuchen zusammen mit weiteren Akteuren (Gemüseproduzenten, Konsumenten), die Kreisläufe der Wertschöpfungskette zu schliessen.

Centravo AG in Lyss BE Das Unternehmen verwertet seit 25 Jahren tierische Bestandteile, die von den Metzgereien nicht genutzt werden.

Fine Funghi AG Das Zürcher Unternehmen produziert Bio-Pilze aus dem Abfall (Weizenkleie) einer Getreidemühle.

RethinkResource Das Start-up hat den B2B-Marktplatz «Circado» aufgebaut, um industrielle Nebenprodukte der Lebensmittelproduktion zu verwerten.

Ricoter Erdaufbereitung AG Das 1981 gegründete Unternehmen produziert in Aarberg BE und Frauenfeld TG Gartenerde aus den organischen Abfällen der Zuckerraffinerien.

Brauerei Locher Appenzell AI agroindustrielles Projekt.

ortoloco – Hofkooperative in Dietikon ZH 500 Personen wirtschaften und entscheiden gemeinsam als Produzentinnen un Produzenten, Konsumentinnen und Konsumenten.

Einkaufsgemeinschaften, bei denen die Konsumenten direkt mit den Produzenten kooperieren: u.a. Tante Emmen, Koop Teiggi Kriens, Plattform Crowd Container, IG Foodcoops.

Qwstion Das Zürcher Taschenlabel hat ein neues textiles Material lanciert, das aus den Fasern der Bananenstaude «gewoben» wird.

Bauwirtschaft/Immobilien

Zirkuläres Bauen (Beat Bösiger, bluefactory), Rückbau, Recyclingbeton, Verwendung von lokalen, nachhaltigen, erneuerbaren Materialien usw., Ausbau Asphalt.

Eberhard Bau AG Das Unternehmen ist seit vier Jahrzehnten Pionier des Baurecyclings. Es verwandelt Bauschutt ohne Qualitätseinbusse in Sekundärrohstoffe.

Weitere Spezialisten des Baurecyclings Ronchi SA in Gland VD, Sotrag SA in Etoy VD, Kästli Bau AG in Rubigen BE,BOWA Recycling in Susten.

Neustark in Bern Die Berner Firma ist spezialisiert auf die Versteinerung von atmosphärischem CO2 in verwertetem Beton.

Integrierte Planung und gemeinsame Bewirtschaftung von Industrie- und Gewerbegebieten Projekte in Le Locle NE, St-Imier NE , im Val-de-Ruz NE, im Sensebezirk BE (Arbeitszonen), in Sierre VS (Ecoparc de Daval), Schattdorf UR usw.

enoki in Fribourg Das Freiburger Start-up entwirft und plant kreislauffähigere Quartiere und Städte.

Terrabloc in Genf Die Genfer Firma Terrabloc produziert Bau- und Dämmstoffe aus Lehm.

VADEME Das Interreg-Projekt zielt auf eine koordinierte Lösung für mineralische Bauabfälle in den Regionen Genf und Annecy ab (vgl. Artikel VADEME: mineralische Abfälle aufwerten).

ORRAP Interreg-Projekt (2016–2019) für das Recycling von Ausbauasphalt in der Region Basel.

Organisatorische und strategische Ansätze

AlpLinkBioEco Das im April 2021 abgeschlossene Interreg-Projekt hat einen Wertschöpfungskettengenerator und einen Masterplan entworfen für eine auf natürlichen lokalen Rohstoffen basierende Kreislaufwirtschaft im Alpenraum.

Sharely Das Start-up betreibt eine Miet- und Vermietungsplattform für Alltagsgegenstände.

Make furniture circular Eine Initiative der Stiftung Pusch und des Migros-Pionierfonds zur Förderung von «Kreislauf-Möbeln».

Reparatur- und Recyclingnetzwerke Verschiedene regionale Initiativen zur Förderung von Reparatur- und Recyclingstellen. Dazu zählen auch Secondhand-Days, Secondhand-Shops, Repair-Werkstätten, Up-Cycling-Stellen usw.

Kreislaufwirtschaft im Parc Naturel Régional Chasseral: Relokalisierung von Wertschöpfungsketten, Erhalt und Inwertsetzung von natürlichen lokalen Ressourcen.

Roadmap Kreislaufwirtschaft des Kantons Freiburg kantonale Strategie.

Plattform 1PEC Ideenbörse zur Förderung der Kreislaufwirtschaft im Wallis.

Kreislaufwirtschaft Oberwallis Kreislaufwirtschaft in einem ländlich abgeschlossenen Gebiet (gefördert durch das Programm «Nachhaltige Entwicklung», ARE, 2022).

Share Gallen Networking-Workshop und öffentlicher Markt in St. Gallen (Projekt aus Förderprogramm «Nachhaltige Entwicklung», ARE, 2018).

Erneuerbare Energien

Biogasanlagen: z.B. Kägiswil OW und Kompogasanlage Wauwil LU, beide durch die NRP gefördert, sowie BiogasTicino SA in der Magadino-Ebene.

Satom SA in Monthey VS Methanisierung von Bio-Abfällen.

Kantonales Programm «Wertschöpfungskette Holz» in der Waadt (NRP-Projekt): Holz wird als nachwachsender Energieträger vom Kanton direkt gefördert.

Programm «Smart Villages/Smart Regions»

Die Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche; auch Gemeinden und Regionen in Berggebieten eröffnet sie neue Möglichkeiten. Im Rahmen der NRP-Pilotmassnahmen für die Berggebiete haben das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) das Programm «Smart Villages/Smart Regions» lanciert. Das Programm bietet Beratung und finanzielle Unterstützung für Gemeinden und Regionen, die in einem partizipativen Prozess Massnahmen erarbeiten, mit denen sich die digitalen Möglichkeiten für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung nutzen lassen. Ziel ist es, jeweils einen von der Gemeindeexekutive verabschiedeten Aktionsplan mit konkreten Umsetzungsprojekten zu entwerfen. Die Möglichkeiten des Programms nutzen bereits mehr als ein Dutzend Gemeinden und Regio­nen. Weitere können teilnehmen.

Mehr zum Programm und zur Teilnahme

regiosuisse.ch/nrp-pilotmassnahmen-berggebiete

Junge Ideen für die Regionalentwicklung

Lukas Denzler

Im «Next Generation Lab» von regiosuisse entwickeln junge Erwachsene Ideen für ihre Region. Dabei werden auch neue Ansätze wie das «Design Thinking» getestet. Die ersten Erfahrungen mit diesem Format sind vielversprechend. Entscheidend ist eine gute Begleitung durch mit der Region vertraute Innovations-Coaches und Mentoren. Das Vorgehen könnte Regionen als Ideengenerator dienen. Für eine konkrete Umsetzung der Projektideen sind jedoch weitere Anstrengungen notwendig.

Die Weichenstellungen von heute formen die Zukunft, in der die nächste Generation leben wird. Doch wie lassen sich junge Erwachsene in die Zukunftsgestaltung einbeziehen – Menschen der Generation Z, die um die Jahrtausendwende geboren wurden und zu den Digital Natives gehören? regiosuisse hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen dieser Generation aktiv in die ursprünglich für April 2020 geplante Konferenz «Schweiz 2040: Regional- und Raumentwicklung von morgen – Trends, Visionen, Entwicklungsfelder» einzubeziehen. Ein eigener Workshop sollte den jungen Erwachsenen und ihren Ideen an der Konferenz eine Plattform bieten.

Junge für die Zukunft der Region gewinnen
Die Idee klingt gut. Doch wie lassen sich junge Menschen für eine Fachkonferenz zur Zukunft der Regionalentwicklung begeistern? Was manche der Organisierenden geahnt hatten, bestätigte sich. «Es war äusserst schwierig, mit diesem Thema junge Erwachsene zu erreichen», sagt Thomas Probst von regiosuisse. «Wir mussten erkennen, dass wir eigentlich über keinen Draht zu den jungen Leuten verfügen.» Dank grosser Anstrengungen und der Unterstützung durch regionale Entwicklungsträger sowie Hochschulen ist es schliesslich doch gelungen, sieben Teams für die Teilnahme an der Konferenz zu gewinnen. Das Corona-Virus machte dem Vorhaben jedoch schliesslich einen Strich durch die Rechnung.

© regiosuisse

Corona zum Trotz entschieden sich die Initiatoren, das Pilotvorhaben «Next Generation Lab» noch 2020 durchzuführen. Teams von drei bis vier jungen Erwachsenen sollten im Rahmen eines innovativen und kreativen Formats Projektideen für ihre Region entwickeln. Der Ansatz des «Design Thinking» umfasst Methoden aus dem Innovationsmanagement und der Start-up-Szene. Der Ansatz stellt die Bedürfnisse und Motivationen der Nutzenden ins Zentrum. Stichworte sind zudem: kreativ, offen, multidisziplinär. Am ersten Tag, dem sogenannten «Design Sprint», nahmen vier Teams aus der Region Prättigau/Davos, dem Thurgau, dem Ober- und dem Unterwallis teil. Jedes Team wurde von einem Innovations-Coach und einem Mentor aus der entsprechenden Region betreut. Die Teams fanden sich vor Ort in ihrer Region zusammen, während der Austausch mit den Coaches und Mentoren und die Bewertung der Projektideen durch eine Jury, bestehend aus einem Vertreter des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), einer Vertreterin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) und einem Vertreter von regiosuisse, virtuell erfolgte.


Tourismusangebot und Direktvermarktung
Die Ergebnisse des ersten Tags überzeugten. Alle vier Teams hätten ihre Ideen an einem Folgetag im Rahmen eines «Deep Dive» vertiefen können. Persönliche Gründe wie neu gestartete Ausbildungen und Ortswechsel führten aber dazu, dass nur zwei Teams die Arbeit fortsetzten. Dabei entwickelten sie Geschäftsmodelle und Umsetzungspläne. Das Team aus dem Unterwallis verknüpfte seine Idee mit einem touristischen Angebot im Val d’Hérens. So sollen den Gästen mit einer Bustour die Naturschönheiten und kulturellen Besonderheiten des Tals nähergebracht werden. Die Gruppe aus Frauenfeld möchte regionale Produzenten mit Konsumenten zusammenbringen und strebt damit eine Direktvermarktung der Produkte im städtischen Umfeld sowie kurze Transportwege an.

Vlnr.: Sarah Michel, Raphael Zingg, Simon Vogel, Ina Schelling © regiosuisse

«Es war anstrengend, aber wir hatten am Schluss ein Ergebnis», sagt Simon Vogel von der Frauenfelder Gruppe. Der Ablauf sei sehr professionell gewesen, und er habe viel gelernt. Sie hätten sich überlegt, was im Kanton produziert werde. So sei die Idee entstanden, in der Stadt – über den Wochenmarkt hinaus – ein Angebot an landwirtschaftlichen Produkten aus der Region zu schaffen. «Wir wollen die Region mitgestalten», umreisst Simon Vogel die Motivation der Mitglieder seiner Gruppe. Beruflich arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent im Bereich Elektrotechnik an der ZHAW in Winterthur und sitzt seit wenigen Monaten auch im Thurgauer Kantonsrat.
Brigitte Fürer, bis im Sommer Geschäftsführerin der Regio Frauenfeld, betreute als regionale Mentorin die Gruppe am ersten Tag. «Die Regio Frauenfeld war stets offen für Projekte mit jungen Menschen», sagt sie. Regionalentwicklung und nachhaltige Entwicklung gehörten zusammen, und das habe immer auch mit der jungen Generation zu tun. Eine Initiative wie das «Next Generation Lab» gebe neue Impulse und sei inspirierend. «Es liegt nun an der Region, die Idee aufzunehmen und weiterzuentwickeln», findet Fürer.

Sherine Seppey hat mit zwei Kolleginnen am «Next Generation Lab» teilgenommen. Sie hätten das Val d’Hérens gewählt, weil sie das Tal schon kannten. Der erste Tag sei sehr produktiv gewesen. «Die Betreuung hat geholfen, dass wir uns auf den Kern unserer Idee konzentrieren konnten», sagt die Studentin der HES-SO Valais-Wallis. Am zweiten Tag habe man die Idee konkretisiert und die Etappen für eine Realisierung skizziert. Im Anschluss daran hätten sie auch einen potenziellen Partner gefunden, der sich vorstellen könnte, ihren Vorschlag in sein touristisches Angebot zu integrieren.

Von der Idee zur Umsetzung
Die Projektidee sei realistisch, meint François Parvex, Experte für Kommunal- und Regionalentwicklung, der das Team Unterwallis in Sion betreute. «Die jungen Leute haben Ideen, sind aber nicht gewohnt, diese in einem Projekt auch umzusetzen», sagt er. Das «Next Generation Lab» hätten sie wie ein Spiel erlebt. Laut Parvex könnten Regionalentwicklerinnen und -entwickler dieses Format für Ideenwettbewerbe anwenden. Ihm schwebt eine Art «Ideengenerator» für die Regionen vor. Um die Ideen weiter zu konkretisieren und umzusetzen, bräuchte es dann ein gewisses Startkapital.

Jury-Mitglied Maria-Pia Gennaio Franscini, im Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) Mitverantwortliche für die «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung», hat es in der Regel mit Fachleuten zu tun. Sie war denn auch neugierig, wie sich die Zusammenarbeit mit jungen Menschen gestalten würde, und meint: «Es war eindrücklich, wie engagiert die Teilnehmenden dabei gewesen sind.» Eine aktive Einbindung der Jungen und Experimente mit verschiedenen Methoden und Ansätzen könnte sie sich künftig auch bei den «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung» vorstellen.

Sherine Seppey und François Parvex © regiosuisse

«Das ‹Next Generation Lab› ist ein sehr guter Hebel, um junge Menschen für die Entwicklung ihrer Region zu sensibilisieren», findet Sherine Seppey. Wie es mit der von ihrer Gruppe entwickelten Idee weitergeht, ist noch offen. Es hängt davon ab, was man von der jungen Generation erwarte, bilanziert Simon Vogel von der Gruppe in Frauenfeld. «Ideen zu generieren, das geht gut.» Diese mit jungen Leuten auch umzusetzen, sei hingegen wenig realistisch, denn diese seien noch in der Ausbildung oder in anderen Bereichen stark engagiert. Vielleicht lasse sich eine Idee aber im Rahmen einer bestehenden Initiative realisieren. «Unsere Idee würde sehr gut zu einem Konzept passen, wie die Stadtkaserne in Frauenfeld künftig genutzt werden könnte», ist Simon Vogel überzeugt. Judith Janker, seit September Geschäftsführerin der Regio Frauenfeld, möchte die Idee denn auch weiterentwickeln. Das aufgegriffene Thema treffe einen Nerv der Zeit. Die Idee hätte am 25-Jahre-Jubiläum der Regio Frauenfeld Ende Oktober präsentiert werden sollen. Dieses musste aufgrund der Corona-Situation jedoch auf nächsten Frühling verschoben werden.

«Sowohl in Frauenfeld als auch im Unterwallis haben die Teams in zwei Tagen aus vagen Ideen konkrete Geschäftsmodelle entwickelt. Sie haben damit weit mehr erreicht, als wir bei der Konzeption ‹Next Generation Labs› erwartet haben» sagt Thomas Probst von den Initiatoren. Nun gelte es zu prüfen, wie die Pläne in die Umsetzung gebracht werden können. Dazu brauche es neben den jungen Erwachsenen auch die erfahrenen Akteurinnen und Akteure der Regionen.

Next Generation Lab: Design your future!
In einem Labor wird getüftelt, getestet. Es werden neue Verfahren geprobt, Ideen entwickelt, Ansätze verworfen und mit Kreativität und Teamwork noch bessere Lösungen entwickelt. Genau so funktioniert auch das Next Generation Lab – ein Innovationslabor zur Ideenentwicklung. Dabei testet regiosuisse einen co-kreativen Ansatz im virtuellen Raum: regiosuisse.ch/next-generation-lab

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Srinagar Gunasekaram, in der Küche des Restaurants «Paprika», ist Pionieranwender der Digital Arc Hub-Software.
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arcjurassien.chregiosuisse.ch/nrpdigitalarchub.ch«Digital Arc Hub» in der Projektdatenbank auf regiosuisse.ch

Sie finden hier die Langfassung in Italienisch.

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Covid-19 hat in diesem Jahr weltweit und in der Schweiz eine gravierende Krise ausgelöst. Sie ist noch längst nicht ausgestanden, vielmehr befinden wir uns mittendrin. Tangiert sind sämtliche Lebens- und Wirtschaftsbereiche, vor allem die Gesundheitsversorgung. Besonders betroffen sind in der Schweiz vielerorts der Tourismus und die Uhrenindustrie, die in mancher Region des Berggebiets und des ländlichen Raums das wirtschaftliche Rückgrat bilden. Für viele ist es ein harter Bewährungstest. Wie er ausgehen wird, ist ungewiss.
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Der Mitte März verhängte Lockdown versetzte den Tourismus schlagartig in einen Schockzustand. Schweizweit brachen die Logiernachtzahlen praktisch von einem Tag auf den anderen drastisch ein: minus 62 Prozent im März, minus 80 Prozent im April und minus 78 Prozent im Mai im Vergleich zum entsprechenden Vorjahresmonat. Im Juni, als erste Lockerungen erfolgten, erholten sie sich leicht und erreichten wieder das Märzniveau, womit sie aber erneut 62 Prozent unter Vorjahresniveau lagen. Nicht nur die ausländischen, auch die inländischen Gäste blieben den Tourismusorten in grosser Zahl fern. Leicht erholt hat sich die Auslastung im Juli und August. Das Minus bei den Logiernächten pendelte sich in diesen beiden Sommermonaten laut Bundesamt für Statistik (BFS) bei durchschnittlich 26 Prozent beziehungsweise 28 Prozent ein.

(Zwangs-)Ferien – in der Schweiz

Die regionalen Unterschiede waren jedoch beträchtlich. Einige Regionen konnten davon profitieren, dass Schweizerinnen und Schweizer auf Auslandreisen verzichteten und ihre Ferien stattdessen in den Schweizer Berggebieten verbrachten. Im Puschlav beispielsweise meldeten die Hotels früh schon «ausgebucht». Die Surselva steigerte die Logiernächte im Juli im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent, das Unterengadin um 43 Prozent und das italienischsprachige Bergell gar um 53 Prozent. Dieser Aufschwung setzte sich in diesen Gebieten über die gesamte Sommersaison bis in den Herbst hinein fort. Allerdings gab es innerhalb der «Boomregionen» auch Verlierer. «Dazu zählten vor allem Restaurants, die während des Lockdowns komplett schliessen mussten und in der Folge wegen der Schutzmassnahmen nur eingeschränkt weiterarbeiten konnten», erklärt Martina Schlapbach, Regionalentwicklerin der Regiun Engiadina Bassa/Val Müstair.

Auch im Appenzell, im Tessin sowie in gewissen Regionen des Jura lagen die Logiernachtzahlen im Sommer deutlich über der entsprechenden Vorjahresperiode. Die Destination Saignelégier-Le Noirmont konnte die Übernachtungen annähernd verdoppeln. Einzelne Hotspots wie das Maggia- und das Verzasca-Tal oder das Schwimmbad in Pruntrut wurden bei schönem Wetter geradezu überrannt. Das Appenzellerland vermochte sich der Wandernden aus der ganzen Schweiz kaum mehr zu erwehren. Dieser Ansturm wurde von den Medien genüsslich ausgeschlachtet. Andreas Frey, Geschäftsführer von Appenzellerland Tourismus AR, relativiert allerdings: «Das Ganze war überhaupt kein Problem.» Er möchte jedenfalls nicht von «Overtourism» sprechen. «An Spitzentagen haben wir jeweils versucht, die Wandergruppen auf weniger begangene Routen umzulenken – mit gutem Erfolg», betont er.

Ebenfalls zu den Gewinnern gehörten die Vermieterinnen und Vermieter von Ferienwohnungen. Abgelegene Domizile waren besonders gefragt. Auf der Plattform von Graubünden Tourismus wurden zum Beispiel im Oktober, als das sommerliche Zwischenhoch in vielen anderen Regionen längst abgeflaut war, immer noch über 70 Prozent mehr Ferienwohnungen gebucht, dies bei einem Angebot von 3000 Wohnungen in zehn Destinationen.

Im Städtetourismus läuft (fast) nichts mehr

Zum grossen Verlierer geriet der Städtetourismus. In den urbanen Zentren fehlten die internationalen Gäste, und der Geschäfts- und Kongresstourismus kam fast vollständig zum Erliegen. Zürich (–77%), Genf (–75%), Luzern (–66%), Basel (–63%) und Bern (–59%) büssten in den Sommermonaten am meisten bei den Logiernächtezahlen ein. Da sich im Oktober die Situation nach einer kurzen Besserung im Frühherbst wieder verschärft hat, ist die Lage inzwischen ausgesprochen düster. Laut einer Umfrage von Hotelleriesuisse bereiten zwei Drittel der Stadthotels Entlassungen vor. Hunderte grösserer Stadthotels sind unmittelbar vom Konkurs bedroht.

Neben dem Städtetourismus litten jene Bergregionen besonders unter der Krise, die stark auf ausländische Gäste, insbesondere auf Gruppenreisende aus dem asiatischen Raum, ausgerichtet sind. Dazu zählt die Destination Engelberg/Titlis. Bei den Titlis Bergbahnen sank der Umsatz in den Sommermonaten auf 20 bis 30 Prozent des Vorjahresniveaus. Geschäftsführer Norbert Patt, der sofort mit rigorosen Kostensenkungsmassnahmen reagierte, hat inzwischen einen Stellenabbau angekündigt. Auch den Jungfraubahnen fehlten plötzlich die internationalen Gäste, die bisher zu 70 Prozent aus Asien stammten. Die Marketingverantwortlichen versuchten zwar, mit Massnahmen wie dem «Jungfrau Corona-Pass» für freie Fahrt auf dem Streckennetz der Jungfraubahnen schnell gegenzusteuern – mit dem Resultat, dass das Jungfraujoch plötzlich zu 95 Prozent in Schweizer Hand war. Doch im Gegensatz zu den asiatischen Gästen kamen die Schweizerinnen und Schweizer nur bei schönem Wetter. Und sie gaben im Schnitt weniger Geld aus als die Touristinnen und Touristen aus dem Fernen Osten.

Zu den Gewinnern, die es im Berner Oberland auch gab, zählten wie in den meisten Regionen der Schweiz jene Ausflugsziele und Hotels, die primär auf den schweizerischen und den europäischen Markt setzen. «Auch die Campingbetriebe profitierten, ebenso die traditionell weniger international ausgerichtete Teilregion Haslital-Brienz», sagt Stefan Schweizer, Geschäftsführer der Regionalkonferenz Oberland Ost. Trotz der sommerlichen Lichtblicke fällt die touristische Bilanz insgesamt aber auch im Berner Oberland negativ aus. Die Region Interlaken zum Beispiel verzeichnete im Juli in der Hotellerie bei den Schweizer Gästen zwar ein Plus von 192 Prozent. Trotzdem halbierte sich die Logiernächtezahl insgesamt, weil die Destination in einer normalen Saison hauptsächlich vom globalen Geschäft lebt. In ähnlicher Situation befinden sich auch andere bekannte Orte wie Wengen, Davos in Graubünden oder verschiedene Destinationen im Wallis, allen voran Zermatt.

Appenzell © regiosuisse

Im Jura werden böse Erinnerungen wach

Ein ähnliches wirtschaftliches Rückgrat wie der Tourismus für grosse Teile der Berggebiete ist die Uhrenindustrie für den Jura. Zusammen mit dem Tourismus gehört sie in der Schweiz zu jenen Wirtschaftszweigen, die unter der Corona-Krise am stärksten leiden müssen. Der Umsatz in der Uhrenindustrie brach im zweiten Quartal um 35 Prozent ein. Von diesem Schock vermochte sich die Branche im dritten Quartal zwar leicht zu erholen, doch der Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie rechnet für das ganze Jahr mit einem Minus von 25 bis 30 Prozent. Bis im Oktober wurden über ein Drittel weniger Uhren exportiert als im letzten Jahr.

Die Situation weckt in den sogenannten «Villes Horlogères» – den Uhrenstädten des Jurabogens – schlechte Erinnerungen an vergangene Zeiten. Städte wie Le Locle haben aus der «Uhrenkrise» in den 1970er-Jahren zwar gelernt und ihre Wirtschaft seither breiter ausgerichtet; die Abhängigkeit von der Uhrenindustrie ist vielerorts jedoch weiterhin gross. Paradebeispiel ist das Vallée de Joux: Im Hochtal an der Grenze zu Frankreich leben 7000 Leute, und es gibt dort 8000 Arbeitsplätze, grösstenteils in der Uhrenindustrie. «Die Corona-Pandemie hat uns hart getroffen», sagt Eric Duruz, Direktor der ADAEV (Association pour le Développement des Activités Economiques de la Vallée de Joux). Die Uhrenfabriken ergriffen zwar frühzeitig Schutzmassnahmen für das Personal, noch bevor der Bund solche verordnete. Doch nach dem Lockdown standen die meisten Betriebe eineinhalb Monate still. Die Pandemie war im Vallée de Joux auch nicht einfach ein fernes Donnergrollen, sondern forderte überdurchschnittlich viele Todesopfer. Die Behörden der verschiedenen Ebenen arbeiteten koordiniert zusammen mit dem Ziel, die Gesundheitsversorgung im Tal auch während der schlimmsten Phase einigermassen aufrechtzuerhalten. «Elementar für unsere Wirtschaft und für die Gesundheitsversorgung sind die Grenzgängerinnen und Grenzgänger», so Duruz. Entscheidend war folglich, dass die Grenze zu Frankreich für diese Pendler weiterhin offenblieb.

Auch wenn jetzt noch längst nicht alles ausgestanden ist, so keimt im Vallée de Joux mittlerweile die Hoffnung auf, dass es diesmal doch nicht so schlimm kommen wird wie in den 1970er-Jahren, als mehr als ein Viertel der Einwohnerinnen und Einwohner das Tal verliessen. «Wir sind inzwischen krisenerprobt und viel widerstandsfähiger», sagt Duruz. Er ist überzeugt, dass das Tal sogar gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wird, «dank dem Innovationsgeist unserer Bevölkerung, der Solidarität, einer gewissen Hartnäckigkeit und einem unerbittlichen Kampfgeist».

Der Zwischenstand

Wie wird das Corona-Jahr 2020 letztlich enden? Und wie rasch wird sich die Wirtschaft erholen? Noch am 12. Oktober machten die Ökonomen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) eine zuversichtliche Prognose. Sie rechneten zu jenem Zeitpunkt für das laufende Jahr beim Bruttoinlandprodukt mit einem Minus von 3,8 Prozent. Das tönte deutlich optimistischer als im Frühjahr, als sie im schlimmsten Negativszenario einen Rückschlag bis zu 10 Prozent nicht ausschliessen wollten. Trotzdem, auch mit dem milderen Oktober-Szenario wären die Auswirkungen der Pandemie immer noch sehr gravierend: Ein BIP-Rückgang von 3,8 Prozent würde die stärkste Rezession seit der Erdölkrise Mitte der 1970er-Jahre bedeuten.

Regionalökonomische Auswirkungen von Covid-19
Im Rahmen des «Regionenmonitorings» beobachtet regiosuisse die regionalwirtschaftliche Entwicklung in den Regionen, spezifisch auch in Bezug auf die Auswirkungen der Corona-Krise. Die Berichterstattung zu den aktuellen Auswertungen erfolgt jeweils auf regiosuisse.ch/coronakrise

Die Situation hat sich inzwischen mit der zweiten Welle drastisch verändert. Eine Bilanz lässt sich folglich schwerlich ziehen, und Prognosen sind jeweils schnell wieder veraltet. Ende Oktober, bei Redaktionsschluss, rechneten vier Fünftel der im Tourismus tätigen Unternehmen mit einer weiteren Verschlechterung der Situation in der Wintersaison. Diese ist bekanntlich vor allem für die Skidestinationen weitaus wichtiger als die Sommersaison. Martin Nydegger, Chef von Schweiz Tourismus, bereitet den Sektor auf eine lange Durststrecke vor. Er meint: «Eine vollständige Erholung wird es erst 2023 oder 2024 geben». Vor allem für die Städte werde es «brutal», betont er. Ein etwas optimistischeres Bild zeichnet Nydegger für die klassischen Wintersportgebiete. Monika Bandi Tanner, Co-Leiterin der Forschungsstelle Tourismus im Zentrum für Regionalentwicklung der Universität Bern, verweist darauf, dass nun vieles davon abhänge, wie sich die Situation an der Pandemie-Front weiterentwickeln werde und welche Massnahmen und Schutzkonzepte in den Skigebieten damit verbunden sein würden. Wie das Jahr 2020 für den Tourismus enden wird, lässt sich aufgrund der zahlreichen Unsicherheitsfaktoren derzeit also schwer abschätzen.

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«Remote Work» und der Rückzug in die Berge

Nicht nur die einseitige, stark auf besonders betroffene Wirtschaftsbereiche wie der Tourismus oder die Uhrenindustrie ausgerichtete Branchenstruktur erhöhte in der aktuellen Krise die Verwundbarkeit vieler Regionen. Eine Rolle spielt auch die Grösse der Unternehmen, ganz unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Branche. Gemäss einer Umfrage der UBS musste während des Lockdowns jedes fünfte Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten den Betrieb einstellen. Bei den Unternehmen mit 10 bis 49 Beschäftigten war es jeder zehnte Betrieb. Hingegen mussten «nur» drei Prozent der Grossunternehmen schliessen. Das wirkte sich besonders negativ in Kantonen wie Appenzell Innerrhoden, Graubünden und Wallis aus, die einen hohen Anteil an Klein- und Mikrobetrieben aufweisen. Aufgrund verschiedener weiterer Indikatoren kommt die UBS zum Schluss, dass die Bergkantone von der Krise generell viel stärker betroffen sind und nun auch eine längere Erholungsphase benötigen.

Bestätigt hat sich während der Pandemie, dass eine Krise bestehende Trends beschleunigt und verstärkt. Mit Blick auf die vielerorts erfolgte Umstellung auf Homeoffice kommt eine Studie der Universität Basel zum Schluss, dass diese Transformation für die ländliche Wirtschaft offenbar eine grössere Herausforderung darstellte als für die städtische Wirtschaft. Was die Studie allerdings ausser Acht lässt: Manche Beschäftigte haben sich während des Lockdowns aus der Stadt in ihr Refugium in den Bergen zurückgezogen. Dort haben sie ihr Feriendomizil kurzerhand in ein Homeoffice verwandelt. Wie viele der rund 500 000 Zweitwohnungen während Corona tatsächlich so genutzt wurden, ist jedoch nicht bekannt. «Unsere Region war diesen Sommer sehr belebt, nicht zuletzt wegen der vielen ‹Remote Worker› [Mitarbeitende im Homeoffice, Anm. der Red.]», meint Rudolf Büchi, Regionalentwickler bei der Regiun Surselva. Ein Indiz für deren Präsenz sei die starke Zunahme der Netznutzung und der telefonischen Gesprächsminuten in der Region. «Die Surselva profitiert bei diesem Trend eindeutig von einer sehr guten Breitbandinfrastruktur und von aktiv bewirtschafteten Ferienwohnungen, die in Kombination mit Co-Working-Spaces, so zum Beispiel im Rocks Resort Laax, hervorragende Bedingungen für ‹Remote Work› bieten», so Büchi.

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Die meisten «Remote Worker» sind nach dem Lockdown zwar wieder in ihre städtischen Erstwohnsitze zurückgekehrt. Doch manche werden auf den Geschmack gekommen sein und sich überlegen, ob sie das Krisen- und Ferienrefugium künftig nicht auch in ganz normalen Zeiten als Arbeitsstätte nutzen möchten. Dies wäre ganz im Sinne jener Entwicklungsstrategen, die die Zukunft der Berggebiete in der residenziellen Ökonomie sehen, begünstigt durch Homeoffice sowie die hybriden und flexiblen neuen Arbeitsformen, die ein Wohnen und Arbeiten fernab der städtischen Zentren ermöglichen und begünstigen (vgl. «regioS 18»).

Die NRP hat als Organisation auch in den schwierigsten Momenten gut weiterfunktioniert.

Die NRP im Krisenmodus

Wie haben die NRP-Verantwortlichen in den Regionen auf die Corona-Krise reagiert? Hatten sie überhaupt Handlungsspielraum? Stefan Schweizer stellt klar, dass es nicht Aufgabe der NRP sei, in einer solchen Ausnahmesituation hektischen Aktivismus zu entfalten und Krisenintervention oder gar Notfallhilfe zu betreiben. Die Regionalpolitik sei vielmehr langfristig darauf ausgerichtet, die Regionen darin zu unterstützen, die Herausforderungen des Strukturwandels zu bewältigen. Ähnlich äussert sich Rudolf Büchi: «Unsere Möglichkeiten, direkt etwas zur Linderung der Corona-Krise zu leisten, sind beschränkt.» Auf die kurzfristige Lancierung von NRP-Projekten zur Bekämpfung der Krise wurde folglich in den meisten NRP-Regionen der Schweiz verzichtet.

Das heisst aber nicht, dass die Akteurinnen und Akteure untätig geblieben wären, im Gegenteil: Die Regiun Engiadina Bassa/Val Müstair, die Regiun Surselva sowie die Regionen Imboden und Viamala beispielsweise beteiligten sich an einer überregionalen Initiative im Kanton Graubünden. In deren Rahmen wurde eine Online-Plattform als digitaler Marktplatz für die während der Krise noch lieferbaren regionalen Produkte und Dienstleistungen aufgeschaltet. «Diese Plattform wurde sehr geschätzt und ist weiterhin sehr beliebt. Wir klären nun ab, ob sie über die Corona-Krise hinaus dauerhaft betrieben werden sollte», erklärt Martina Schlapbach, Regionalentwicklerin der Regiun Engiadina Bassa/Val Müstair. Ähnliche Plattformen wurden in vielen weiteren Regionen lanciert, so «mehr-uri.ch» im Kanton Uri, die über die NRP finanziert wurde, oder «favj.ch/c19/» im Valleé de Joux, um nur zwei weitere Beispiele zu nennen.

Viele Tourismusdestinationen starteten – vor allem über das aufgestockte Budget von Schweiz Tourismus – kurzfristig Werbeaktionen. Destinationen und Hotels, die bislang von Seminar- und Gruppengästen lebten, stellten auf Individualtouristen aus der Schweiz um. Restaurants vergrösserten ihre Aussenterrassen, «wobei die Behörden plötzlich viel pragmatischer Bewilligungen erteilten», wie Andreas Frey von Appenzellerland Tourismus AR erfreut feststellt. Verschiedene Dienstleistungen wurden, damit sie unter Einhaltung der Distanzregeln angeboten und erbracht werden konnten, notfallmässig digitalisiert. Der Kanton Wallis und The Ark, eine Stiftung zur Wirtschaftsförderung, lancierten zu diesem Zweck Anfang Mai die Initiative «Digitourism», an der sich rund dreissig Jungunternehmen mit Vorschlägen beteiligten. Eine Jury wählte schliesslich acht Projekte aus, die mit Unterstützung von CimArk, dem verlängerten Arm der RIS (Regionale Innovationssysteme) Westschweiz im Wallis, umgesetzt wurden. Der gemeinsame Nenner: Sämtliche Vorhaben zielen darauf ab, den Tourismus im Kanton mithilfe digitaler Lösungen neu anzukurbeln. Ein Beispiel: Das Start-up Guidos.bike hat den digitalen und personalisierten Tourguide «Guidos» innerhalb von wenigen Wochen zur Marktreife entwickelt. Es handelt sich um ein intelligentes GPS, das auf dem Bike montiert wird und den User auf einer individuell gestalteten Tour begleitet. Mehr als fünfzig Outdoor-Anbieter wenden den Tourguide inzwischen an, mit Verbier auch eine grosse Tourismusdestination.

Die Krise als Chance

Die RIS stellten mit dem Lockdown im März ihre Coaching-Programme sofort um. RIS Mittelland schaltete unverzüglich eine Website auf, die alle wichtigen Informationen zu den Unterstützungsangeboten des Bundes, des Kantons Bern und weiterer Institutionen im Zusammenhang mit der Pandemie auflistete. Diesem Beispiel folgten wenig später die RIS in allen übrigen Landesregionen. Ausserdem verlagerten die Beraterinnen und Berater ihren Fokus vom Innovationscoaching auf das Krisenmanagement. Zudem unterstützten sie einige Unternehmen im Bemühen, die Krise als Chance für Prozessoptimierungen und Transformations- und Innovationsprojekte zu nutzen. Beispiel Sensopro AG in Münsingen BE: Die Firma produziert seit ein paar Jahren Fitnessgeräte für ein gelenkschonendes Koordinationstraining. Die krisenbedingt ruhigeren Zeiten hat sie genutzt, um ein neues Produkt zu entwickeln, das noch in diesem Jahr marktreif sein könnte. Das Projekt wurde mit Unterstützung des RIS-Coachs Nicolas Perrenoud vorangetrieben.

Die Leistungen der NRP in der Krise halfen vielen Unternehmen, besser über die Runden zu kommen. Die entscheidende Hilfe aber, die unzählige Firmen vor dem Untergang bewahrte, kam letztlich vom Bundesrat, der ein Sonderpaket aus erleichterter Kurzarbeit, Erwerbsausfallentschädigungen und notfallmässig gesprochenen, verbürgten Krediten schnürte. Ohne diese Unterstützung sähe es in vielen Regionen um einiges düsterer aus. Die NRP-Massnahmen konnten naturgemäss nur ergänzend wirken. Die schnell geschaffene Möglichkeit, die Rückzahlung von Darlehen der NRP uns der Investitionshilfe für Berggebiete (IHG) aufzuschieben, hat jedoch die Liquidität mancher Projektträger erhöht und so den wirtschaftlichen Druck reduziert.

Angesichts der von vielen NRP-Verantwortlichen in dieser schwierigen Zeit geleisteten Sonderschichten sollte nicht vergessen werden, welche enorme Herausforderung es war, die NRP während des Lockdowns operationell überhaupt am Laufen zu halten. Viele Sitzungen, Workshops und Tagungen mussten notfallmässig in den Remote-Modus umgestellt oder abgesagt werden. Einiges hat sich verzögert, weil sich die digitale Kommunikation nicht für alles eignet, oder musste auf später verschoben werden. Insgesamt haben die Beteiligten der NRP aber eine steile Lernkurve durchlaufen. Die NRP hat als Organisation auch in den schwierigsten Momenten gut weiterfunktioniert.

regiosuisse.ch/coronakrise-nrpmehr-uri.chfavj.ch/c19/

Das Virus als Innovationsbeschleuniger

Auswirkungen der Corona-Krise auf Schweizer KMU. Sebastian Gurtner, Nadine Hietschold. BFH Gestion, 2020.

Editorial

Fiona Spycher
Bundesamt für Raumentwicklung (ARE)

Béla Filep
Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO)

Die vergangenen Wochen und Monate, in denen dieses Heft entstanden ist, haben die Arbeitswelt radikal umgekrempelt und den bisher zaghaften Bemühungen zur Flexibilisierung der Arbeitsformen einen gewaltigen Schub verliehen. Über Nacht haben Hunderttausende von Arbeitnehmenden und Tausende von Unternehmen vielfältige Erfahrungen mit Homeoffice gemacht – Erfahrungen, die ihnen bei der künftigen Gestaltung ihrer Arbeitswelt helfen, aber auch sichtbar gemacht haben, dass nebst der technischen Infrastruktur die sozialen Rahmenbedingungen zu Hause oder am Wohnort entscheidend dafür sind, ob flexible, dezentral gelegene Arbeitsplätze eine attraktive Alternative zu unternehmenseigenen darstellen. Es bestätigen sich Erkenntnisse, die Akteurinnen und Akteure aus Wissenschaft, Beratung und Praxis gewonnen haben: Die Regionen können die Chancen, die flexibilisiertes Arbeiten bietet, nur dann zu ihren Gunsten nutzen, wenn sie sich auch um die Attraktivität des Lebensumfelds kümmern. Nicht nur unsere Gesprächsrunde (vgl. S. 18) ist sich darin einig, dass dazu nebst einer funktionierenden Grundversorgung auch Angebote in den Bereichen Kinder- und Altenbetreuung, Kultur usw. gehören. Sollen Neuzuzügerinnen und -zuzüger angelockt werden, braucht es darüber hinaus Arbeitsmöglichkeiten für die Partnerinnen und Partner.

Mit dieser Ausgabe macht «regioS» selbst einen Digitalisierungsschritt. Ab sofort ist regioS.ch online. Die «regioS»-Inhalte sind somit nicht mehr nur als pdf-Datei verfügbar, sondern auch im Web einzeln aufbereitet. Dies erleichtert die Suche nach Inhalten und erlaubt eine noch bessere Streuung unter potenziell Interessierten. Viel Spass bei der Lektüre!

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«Es braucht einen Kulturwandel – in den Betrieben und bei der Bevölkerung»

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Welche Chancen eröffnen sich den ländlichen Räumen und den Berggebieten mit den neuen, flexiblen Arbeitsformen? Diese Frage diskutierten im Rahmen einer Videokonferenz drei Expertinnen und Experten der Raumplanung und Regionalentwicklung: Rahel Meili, Projektleiterin bei der Regions- und Wirtschaftszentrum Oberwallis AG, Peder Plaz, Geschäftsführer des Wirtschaftsforums Graubünden, und Daniel Studer, Initiator und Präsident der Träger-Genossenschaft der «Plattform Haslital». Fazit: Die flexiblen Arbeitsformen bieten nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten unter der Voraussetzung, dass die einzelnen Regionen jeweils eigenständige Lösungen entwickeln.

regioS: Über die Bedeutung des Strukturwandels aufgrund flexibler Arbeitsformen für den ländlichen Raum und die Berggebiete lässt sich mangels Daten vorderhand nur spekulieren. Was beobachten Sie, Rahel Meili, zum Beispiel in Ihrer Region, im Oberwallis? Welches Gewicht haben dort die flexiblen neuen Arbeitsformen bereits?

Rahel Meili: Das Thema kommt im Oberwallis erst langsam auf. In Saas-Fee gibt es zum Beispiel eine Initiative, die ein Co-Working-Space aufbauen will. Auch in Visp und Brig ist Co-Working ein Thema, aber das sind auch eher die städtischeren Zentren. Fokussieren wir uns auf die Berggebiete, fällt mir Fiesch ein. Dort soll eine Art Businesscenter, unter anderem mit einem Co-Working-Space, aufgebaut werden. Die Digitalisierung insgesamt ist überall ein Thema, etwa mit dem Interreg-Projekt «Smart Villages» der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB), an dem auch einige Oberwalliser Gemeinden beteiligt sind.   

Sind die flexiblen Arbeitsformen im Kanton Graubünden bereits ein wirtschaftlicher Faktor?

Peder Plaz: Nein, als wirtschaftlicher Faktor sind die Co-Working-Spaces noch irrelevant. Wir sollten unterscheiden zwischen dem, was medial Aufmerksamkeit erzeugt, und dem, was tatsächlich passiert. Wir gehen davon aus, dass es eine Chance gibt, für das Berggebiet Menschen zu gewinnen, die dort wohnen und ein Arbeitsleben zwischen dem Wohnort und den städtischen Zentren führen möchten. Die Co-Working-Spaces sind lediglich ein kleiner Mosaikstein in diesem System. Sie geniessen viel Aufmerksamkeit, weil das Phänomen bei diesen Räumen am ehesten fassbar und erlebbar ist. Wichtiger und bedeutsamer ist, dass mit den flexiblen Arbeitsformen jede Hotellobby und jede Zweitwohnung schnell und problemlos zum Working-Space werden kann.

Peder Plaz © regiosuisse

Was schätzen Sie denn: Wie viele Personen pflegen bereits diese Arbeitsform?

Peder Plaz: Für die Schweiz gibt es noch keine Statistiken. Wir sehen aber anhand einiger Zahlen, dass es seit zehn bis fünfzehn Jahren eine Altersmigration gibt. Leute ziehen zunehmend nach der Pensionierung in die Berge. Entweder handelt es sich um Rückkehrer, die in ihren späteren Jahren wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurück möchten, oder es sind Leute, die eine Ferienwohnung als festen Alterssitz wählen.

Welches Gewicht hat die in Meiringen schon etablierte «Plattform Haslital»?

Daniel Studer: Es wäre übertrieben, bereits von einem Wirtschaftsfaktor zu sprechen. Immerhin stelle ich fest, dass wir mit unseren Nachfrageberechnungen, die wir im Vorfeld des Projekts «Plattform Haslital» gemacht haben, gar nicht so schlecht liegen. Wir zählen heute auf mehr als ein Dutzend Abonnenten – wir nennen sie auch «Plattformerinnen» und «Plattformer» –, die hier regelmässig ein- und ausgehen. Dazu gehört auch das Startup-Unternehmen InnovEnergy, das in der «Plattform Haslital» seinen Hauptsitz hat und mittlerweile mehrere Personen beschäftigt. Wir beobachten, dass eine spannende Vernetzung stattfindet zwischen Leuten unterschiedlicher Herkunft, aus unterschiedlichen Branchen und in unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen. Das freut uns sehr, denn diese Vernetzung ist Teil unseres Konzeptes, und wir sehen darin grosses Entwicklungspotenzial.

Was hilft es den Berggebieten, wenn sie dank flexibler Arbeitsformen neue Bewohnerinnen und Bewohner gewinnen?

Rahel Meili: Grundsätzlich ist es für eine Region ein Gewinn, wenn mehr Leute vor Ort wohnen, konsumieren und Steuern zahlen. Zudem ist es ein Vorteil, wenn die Dörfer auch tagsüber belebt sind und nicht nur kurz während der Pendlerzeiten.

Peder Plaz: In den Kernalpen, die für Städtependler zu abgelegen sind, bildet der Tourismus das ökonomische Rückgrat. Dieser ist aber in den letzten dreissig Jahren ins Stottern geraten. In dieser Situation kommt das neue Phänomen, dass sich der Arbeitsplatz ein bisschen flexibler gestalten und zum Beispiel auch in einer Zweitwohnung in diesem Kernalpenraum einrichten lässt, gerade richtig. Das weckt Hoffnungen, dass sich das wirtschaftliche Gewicht vom kommerziellen Tourismus in Richtung residenzielle Ökonomie verlagern könnte. Ein wichtiges Thema sind dabei die Zweitwohnungen. Wenn Zweitwohnungsbesitzer nicht nur zum Skifahren in die Berge fahren, sondern auch zum Arbeiten, verschieben sich die Kräfte. Zu den am Ferienort nebenbei arbeitenden Skifahrerinnen und Skifahrern gesellen sich die erwähnten Altersmigranten, die ihren Wohnsitz in die Zweitwohnung verlegen. Noch entscheidender wird allerdings sein, ob es gelingt, mit den flexiblen Arbeitsformen auch Familien für die Berggebiete zu rekrutieren. Die digitalen Voraussetzungen wären gegeben, wie wir während der Corona-Pandemie gesehen haben. Mängel und Lücken gibt es jedoch bei den gesellschaftlichen Strukturen, zum Beispiel in der Kinderbetreuung. Ausserdem möchten beide Elternteile in vernünftiger Distanz zum Wohnort einen qualifizierten Job finden.

Rahel Meili: Die Auswertung einer Studie der Universität Basel zeigt, dass es eher gut ausgebildete Leute aus bestimmten Branchen wie Finanzen und Versicherungen sind, die flexibel arbeiten können. Wollen wir diese Leute gezielt ansprechen, müssen wir ihre Bedürfnisse genau analysieren. Wir müssen wissen, ob sie nebst Kinderkrippen noch andere Infrastrukturen benötigen, damit sie sich in den Berggebieten wirklich wohlfühlen und dort auch arbeiten möchten. Und was wünschen sie im Detail: Wollen sie überhaupt einen spezifischen Co-Working-Space? Oder bevorzugen sie ein Co-Working-Café, wo sie spontan einen Kaffee trinken, zwei Stunden arbeiten und dann zurück in die Ferienwohnung können? Diese Bedürfnisabklärung muss noch viel gründlicher stattfinden.

Welches sind die Erfolgsfaktoren der offensichtlich gut gestarteten «Plattform Haslital»?

Daniel Studer: Das Haslital ist im Unterschied zum Engadin nicht nur auf den Tourismus angewiesen. Es gibt in Meiringen und den umliegenden Gemeinden auch andere Branchen. Diese durchmischte Wirtschaftsstruktur haben wir bei der Bedarfsabklärung berücksichtigt. Beim Blick auf die Pendlerstatistik haben wir festgestellt, dass es in Meiringen rund 190 Langzeitwegpendler gibt, die für einen Arbeitsweg länger als eine Stunde unterwegs sind. In unserem Fall pendeln sie weiter als nach Thun. Sie arbeiten ein oder zwei Tage pro Woche zum Beispiel in Bern, Luzern oder Zürich und drei oder vier Tage in Meiringen. Diese Langzeitpendler haben wir gezielt angesprochen, und mittlerweile sind mehrere von ihnen Abonnenten der Plattform. Beherzigt haben wir in der Konzeptphase weiter, dass ein Co-Working-Space nicht nur praktisch sein soll. Das A und O ist eine gute Atmosphäre, und dafür kann die räumliche Ausstattung einiges leisten. Zudem war uns wichtig, ein bisschen Urbanität in das ländliche Zentrum zu bringen. Damit meine ich vor allem eine gewisse soziale Dichte, Vielfalt und neue Geschichten. Diesen Anspruch versuchen wir mit Treffpunktangeboten, kulturellen und gesellschaftlichen Anlässen, Referaten, Seminaren, Ausstellungen usw. umzusetzen. Nicht zuletzt reduzieren wir mit unserem Angebot den Pendlerverkehr. Damit leisten wir einen Beitrag zum Klimaschutz und verbessern die Lebensqualität der Pendlerinnen und Pendler.

Daniel Studer © regiosuisse

regioS: Wie eruieren Sie im Oberwallis potenzielle Zielgruppen, und womit versuchen Sie diese zu erreichen?

Rahel Meili: Wir müssen unterscheiden, ob die Leute wirklich im Berggebiet leben und dort ihren Hauptwohnsitz haben oder ob sie nur einen Teil ihrer Arbeit im Berggebiet erledigen möchten. Für jene Leute, die wirklich im Berggebiet wohnen möchten, versuchen wir die Lebensqualität vor Ort zu verbessern. Notwendig sind vor allem gute soziale Infrastrukturen. Für die eher temporär im Berggebiet weilenden Co-Working- oder Homeoffice-Leute bleibt das touristische Angebot mitsamt den Erholungsmöglichkeiten weiterhin wichtig. Tagestouristen etwa wünschen sich am Bahnhof Schliessfächer, damit sie den Laptop deponieren können, während sie am Langlaufen oder Wandern sind, um am Abend bei der Rückfahrt in die Stadt wieder zwei Stunden im Zug arbeiten zu können.

Wie sprechen Sie, Herr Plaz, potenzielle Zuzüger aus dem Unterland an?

Peder Plaz: Ich würde drei Gruppen unterscheiden. Da gibt es jene, die während ihrer Ferien den Co-Working-Space, beispielsweise in Laax, nutzen und einfach nur diese Infrastruktur erwarten. Bei den Pensionierten geht es primär darum, eine Willkommenskultur zu schaffen. Die Berggebiete müssen den Senioren signalisieren, dass sie erwünscht sind. Ausserdem müssen sie ihnen einen guten Zugang zur Gesundheitsversorgung, inklusive Spitex, anbieten. Nicht zuletzt ist auch der Steuersatz ein entscheidendes Kriterium, ob jemand gewillt ist, den Wohnsitz zu verschieben. Am schwierigsten ist es, die dritte Gruppe, die Familien, zu erreichen. Denn das Einzige, was die Berggebiete ihnen mit Sicherheit bieten können, ist die digitale Infrastruktur. Gute Jobs hingegen für beide Elternteile sind oft der eigentliche Knackpunkt. Sobald Kinder im Spiel sind, stellt sich auch die Frage, ob die Eltern sie im Kanton Graubünden einschulen möchten oder doch lieber vielleicht im Kanton Zürich. Das hat dann wieder mit Durchlässigkeiten im Bildungssystem zu tun. Bei der Rekrutierung von Familien stehen wir erst am Anfang. Dazu benötigen wir auch eine Bewusstseins- und eine Kulturänderung. Wir müssen eine echte Willkommenssituation schaffen, und zwar über eine gemeinsame Identität von Einheimischen und Zuzügern. Da reden wir über Dinge wie Mitbestimmungsrechte, Mitfinanzierungsrechte, Mitbeteiligung am Vereinsleben usw.

Rahel Meili: Im Oberwallis ist die Situation etwas speziell, denn im Haupttal verzeichnen wir derzeit ein sehr starkes Wirtschaftswachstum. Die Unternehmen Lonza, Matterhorn Gotthard Bahn, Scintilla und das Spitalzentrum Oberwallis schaffen viele neue Arbeitsplätze. Es stellt sich die Frage, wie nicht nur die Talgemeinden, sondern auch die Bergdörfer davon profitieren können. Um deren Standortattraktivität zu erhöhen und sie bei der Integration neuer ausserkantonaler und ausländischer Mitbewohner zu unterstützen, haben wir am Regions- und Wirtschaftszentrum Oberwallisdas Regionalentwicklungsprogramm WIWA lanciert, zusammen mit diesen Unternehmen, den Gemeinden, der Standortförderung Valais/Wallis Promotion, der Walliser Tourismuskammer und mit Business Valais.

Rahel Meili © regiosuisse

Welche Akteurinnen und Akteure sind besonders gefordert, wenn es gilt, die flexiblen Arbeitsformen für die Berggebiete und umgekehrt die Berggebiete für die flexiblen Arbeitsformen zu erschliessen?

Rahel Meili: Als Regionalentwicklerinnen und -entwickler können wir zusammen mit den Gemeinden die notwendigen Infrastrukturen aufbauen, und wir können dazu passende Businesspläne erstellen. Am wichtigsten ist aber, dass in der Wirtschaft ein Kulturwandel stattfindet. Das Bewusstsein, dass die Angestellten mehrere Tage pro Woche ausserhalb des Arbeitsbetriebs, zu Hause oder irgendwo sonst, arbeiten können, muss in den einzelnen Firmen wachgerüttelt, akzeptiert und verankert werden. Wir können für diesen Prozess sensibilisieren und die entsprechenden Angebote kommunizieren. Der Kulturwandel muss aber in den Betrieben stattfinden.

Peder Plaz: Mittel- und langfristig können die Gemeinden viel bewirken, indem sie gute Rahmenbedingungen schaffen bezüglich Steuerstrategie, Familien-Infrastruktur und Willkommensmentalität. Aus aktueller Sicht ist die Corona-Krise ein beschleunigender Faktor in Richtung Homeoffice. Die meisten Firmen dürften gemerkt haben, dass man auch ganz gut von zuhause aus arbeiten kann. Ausserdem haben viele Beschäftigte den Umgang mit Videokonferenzen gelernt. Zudem stellen wir fest, wie schön es ist, mit weniger Pendlerverkehr zu leben.

Könnte es mit den flexiblen Arbeitsformen in den Berggebieten letztlich genauso enden wie vor Jahrzehnten mit der Telearbeit: grosse Hoffnungen, und schliesslich umso grössere Enttäuschungen?

Peder Plaz: Die flexiblen Arbeitsformen sind nicht mit der Telearbeit der 1980er-Jahre vergleichbar. Damals dachte man vor allem an Heimarbeit für Callcenter-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter. Heute geht es hingegen um spezialisierte Dienstleistungen und Beratungen. Es geht um Juristinnen und um Ingenieure, um Startup-Unternehmerinnen und Selbständige im Homeoffice. Wobei ich nicht glaube, dass jemand fünf Tage die Woche in den Bergen im Homeoffice verbringen wird. Gefragt ist vielmehr ein Mix aus Präsenz-, Homeoffice- und Familienbetreuungsarbeit. Denn der Trend hin zu den flexiblen Arbeitsformen ist verknüpft mit dem gesellschaftlichen Trend, dass Familie, Freizeit und moderne Rollenteilung einen stets höheren Stellenwert erhalten.

Daniel Studer: Ich sehe das ähnlich, zumal ich die neuen Arbeitsformen selbst praktiziere. Zwei bis drei Tage pro Woche arbeite ich in Bern, weil ich meine Arbeitskolleginnen und -kollegen sehen und ihnen physisch begegnen möchte. Den Rest der Arbeitszeit verbringe ich in Meiringen mit ganz anderen Leuten in der «Plattform Haslital». Dabei erfahre ich, wie wichtig motivierte Leute vor Ort sind, die die Vorteile der flexiblen Arbeitsformen und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten kennen und umsetzen. Wir tun das hier als Genossenschaft ehrenamtlich. Wir tun es sehr gerne, weil wir den allgemeinen Nutzen sehen, Spass haben und von verschiedenen Seiten Zustimmung und Support spüren. 

Rahel Meili: Die Berggebiete werden von den flexiblen neuen Arbeitsformen nachhaltig profitieren, wobei der Wandel allmählich erfolgen wird. Bis wir in der Peripherie in dieser digitalen Arbeitswelt wirklich angekommen sind, werden wohl noch einige Jahre vergehen. Das Tempo des Prozesses hängt entscheidend von den Ideen lokaler Akteurinnen und Akteure ab. Der Weg zum Erfolg führt nicht über beliebige, sondern über unverwechselbare ortsspezifische Projekte.

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Flexible Arbeitsformen – Chance für die ländlichen Räume?

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
In der Arbeitswelt findet ein fundamentaler Strukturwandel statt, bei dem flexible Arbeitsformen zusehends im Trend liegen. Sie sind weniger hierarchisch und können zeitlich unabhängig, eigenverantwortlich, ortsungebunden und folglich dezentral praktiziert werden. Diese Neuorganisation der Arbeitswelt, die seit Mitte März durch den Corona-Lockdown zusätzlich beschleunigt wurde, eröffnet neue Entwicklungschancen auch für die ländlichen und peripheren Räume. Um davon profitieren zu können, benötigen diese allerdings eine leistungsfähige Infrastruktur mit Co-Working-Spaces und schnellen Kommunikationsnetzen. Zudem müssen die ländlichen Räume und die Berggebiete ihre Attraktivität als Wohn- und Lebensort steigern, indem sie ihr Dienstleistungs- und Versorgungsangebot verbessern.
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Viele ländliche und periphere Räume in der Schweiz wachsen deutlich langsamer als die urbanen Regionen. Einige verlieren gar seit Jahrzehnten Arbeitsplätze und Einwohnerinnen und Einwohner. Dieser Verlust ist ein mehr oder weniger schleichender Prozess, der sich zuweilen punktuell stoppen lässt. Das gelingt vor allem in grösseren alpinen Tourismusdestinationen, in den regionalen Zentren der alpinen Haupttäler oder im lokalen Umfeld grösserer Unternehmen. Auch eine bessere Verkehrsanbindung hilft manchmal, den Abwärtstrend zu drehen. Bislang periphere Gemeinden werden dadurch auf einen Schlag als Wohnort für Pendlerinnen und Pendler attraktiv. Allerdings sind lange Pendlerwege keine nachhaltige Lösung.

In Dörfern und Gemeinden aber, in denen sich der Schrumpfungsprozess nicht stoppen lässt, dünnt mit dem Bevölkerungsverlust auch das Versorgungsnetz aus: Öffentliche und private Dienste – von der Post über die Schule bis zum Dorfladen – lassen sich mangels Grösse und Nachfrage kaum mehr wirtschaftlich betreiben. Die betroffenen Dörfer driften in eine Abwärtsspirale. Mit dem wegfallenden Versorgungsnetz verlieren sie auch ihre Attraktivität als Wohnort. Sind zu viele Bewohnerinnen und Bewohner weggezogen, kommt schliesslich auch das gesellschaftliche Leben zum Erliegen.

Dieser Teufelskreis ist seit Jahrzehnten bekannt und ein zentrales Thema der Regionalentwicklung. Jedoch gibt es – auch unterstützt von der Neuen Regionalpolitik (NRP) – immer wieder gelungene Versuche, ihn mit Projekten und Entwicklungskonzepten und -strategien zu durchbrechen.

Flexibles Arbeiten und Wohnen im Berggebiet

Die Akteurinnen und Akteure der Regionalentwicklung ebenso wie die betroffenen Gemeinden schöpfen in jüngster Zeit neue Hoffnungen mit Blick auf flexible Arbeitsformen. Diese haben sich im Soge der Digitalisierung herausgebildet; praktiziert werden sie bislang vor allem in grossen IT- und Dienstleistungszentren im städtischen Umfeld. Nun könnten sie sich über weitere Branchen und Sektoren möglichst flächendeckend ausbreiten und sogar der vom wirtschaftlichen Niedergang am stärksten gebeutelten Peripherie zu neuem Aufschwung verhelfen. Solche und ähnliche Erwartungen hegen viele an der Regionalentwicklung Beteiligte auf sämtlichen Stufen. Dass das damit verbundene Entwicklungsrezept aber wirklich taugt, ist noch nicht schlüssig bewiesen, auch wenn die wegen der Corona-Pandemie in vielen Betrieben verordnete Homeoffice-Kultur in den letzten Wochen und Monaten einiges ins Rollen gebracht hat.

Fallen dank der Digitalisierung Raum und Zeit als Hürden weg, rücken peripherste Räume tatsächlich in Zentrumsnähe. Der dezentral organisierte Arbeitsmarkt kann mit seinen flexiblen Arbeitsformen seine Fühler in die entferntesten Winkel ausstrecken. Alles scheint plötzlich sehr einfach, zumindest in jenen Branchen, in denen die Beschäftigten den grössten Teil ihrer Tätigkeit am PC verrichten. Im Berggebiet wohnen und arbeiten? Warum eigentlich nicht? Mit Hilfe von digitaler Vernetzung, virtuellen Kontakten, Homeoffice, Co-Working-Spaces und 3-D-Produktion!

1000 Co-Working-Spaces als Ziel

Die zahlreichen Co-Working-Spaces, die in den letzten Jahren auch abseits der urbanen Zentren entstanden sind, beweisen, dass dieses Szenario mehr ist als eine Wunschvorstellung. Laut einer Umfrage der Hochschule Luzern (HSLU) gibt es im ländlichen Raum der Schweiz mittlerweile fünfzig derartige Arbeitsräume, die von rund 2500 Erwerbstätigen flexibel genutzt werden. Die Zahl scheint zwar bescheiden, doch das Phänomen ist ja noch jung.

Eine Treiberin der Entwicklung in der Schweiz ist die Genossenschaft VillageOffice. Sie hat den Aufbau von drei Dutzend Co-Working-Spaces im ländlichen, peripheren und alpinen Raum beratend begleitet, in acht Fällen im Rahmen von NRP-Projekten. Fabienne Stoll, Kommunikationsverantwortliche von VillageOffice, spricht von einem Trend, der noch am Anfang stehe. «Über drei Millionen Erwerbstätige könnten heute schon mobil arbeiten», stellt sie fest, «allerdings macht erst eine Million davon bereits Gebrauch und arbeitet gelegentlich von zu Hause aus. Ich glaube aber, dass es jetzt einen gewaltigen Schub geben wird, denn mit der Corona-Krise sind sehr viele Firmen mitsamt ihren Beschäftigten gerade auf den Geschmack gekommen.» Stoll schätzt, dass mittelfristig rund ein Drittel der traditionell organisierten Büroarbeitsplätze verschwinden wird. Ein bedeutender Teil der Arbeit dürfte in temporär genutzte Arbeitsplätze in ländliche Gemeinden und Berggebiete ausgelagert werden. VillageOffice hat sich zum Ziel gesetzt, im Laufe der nächsten Jahre die ganze ländliche Schweiz mit rund tausend Co-Working-Spaces abzudecken, nicht zuletzt auch aus ökologischen Gründen. Mit einem solchen Angebot liessen sich, so die Berechnungen, jährlich 4,4 Milliarden Pendlerkilometer und damit Zehntausende Tonnen Kohlendioxid-Emissionen einsparen.

Etwas vorsichtiger sind die Prognosen von HSLU-Professor Timo Ohnmacht. Er hat das noch junge Phänomen im Rahmen einer Nationalfonds-Studie erforscht. «Bis jetzt gibt es zwar Erfolgsgeschichten, doch die lokalen Co-Working-Standorte haben noch keinen messbaren regionalökonomischen Nutzen», bilanziert er. «Aus der Co-Working-Bewegung könnte aber bald schon mehr werden, mittels öffentlich unterstützter Co-Working-Spaces, die als Instrumente der Regionalentwicklung nachhaltige Impulse im ländlichen Raum auslösen», so Ohnmacht.

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Die Co-Working Spaces von Voisins in und um Genf verfügen alle über ein Café. © regiosuisse

Zudem müssen die ländlichen Räume und die Berggebeite ihre Attraktiviät als Wohn- und Lebensort steigern, indem sie ihr Dienstleistungs- und Versorgungsangebot verbessern.

Wo es erschwinglicher ist, wird es auch attraktiver

Die Co-Working-Spaces sind so etwas wie die Speerspitze der flexiblen Arbeitsformen im ländlichen Raum. Wirtschaftlich bedeutsamer ist aber die wachsende Zahl von Teilzeitpendlerinnen und -pendlern, die ihre Arbeit immer häufiger und länger im Homeoffice erledigen. Die aktuelle Situation auf dem Wohnungsmarkt befeuert diese arbeitsorganisatorische Entwicklung. Forschende der Credit Suisse haben in der jüngsten Studie zum Immobilienmarkt Schweiz1 den Zusammenhang zwischen Pendlerströmen und Wohnortwahl untersucht und einen Trend hin zum sesshaften ländlichen Wohnen festgestellt. Fredy Hasenmaile, Leiter Immobilien-Research bei der CS, erklärt: «Den Wohnort suchen immer weniger Menschen direkt dort, wo sie den Beruf ausüben, sondern dort, wo es erschwingliche Wohnungen gibt. Und sie halten dem einmal gewählten Wohnort in der Regel die Treue. Er wird zur Konstante in einem Leben mit immer häufigeren Jobwechseln und einem sich stetig verändernden Arbeitsumfeld.» Die durchschnittliche 110-m²-Vierzimmerwohnung kostet in der Stadt Zürich über 1,5 Millionen Franken. In einer Pendlerdistanz von 60 Bahnminuten ist sie laut CS-Studie für weniger als die Hälfte davon zu haben.

Kein Wunder, haben immer mehr Menschen genug von der teuren Wohnung in der Stadt. Sowieso möchten sie lieber naturnah wohnen, wenn sich dies mit ihrer Arbeit verknüpfen liesse. Die Berufspendlerinnen und -pendler – dazu zählen neun von zehn Beschäftigten in der Schweiz – zieht es angesichts der Preissituation immer weiter in die Peripherie hinaus. «Das wird die Etablierung der neuen Arbeitsformen im ländlichen Raum zusätzlich begünstigen», folgern die Autoren der CS-Studie. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch eine Umfrage der gfs-zürich im Auftrag des SECO.2 Das grösste Interesse an den neuen Arbeitsformen bekunden die Fernpendlerinnen und -pendler, die Fahrzeiten von einer Stunde und mehr pro Arbeitsweg auf sich nehmen. Es ist eine in letzter Zeit stark wachsende Gruppe, die mittlerweile 20 Prozent der Pendlerinnen und Pendler ausmacht. Fast alle wären froh, wenn sie tageweise oder auch länger am Wohnort arbeiten könnten.

Notwendige Infrastruktur

Zusammen mit den veränderten Wohnbedürfnissen ist das Entwicklungspotenzial der flexiblen Arbeitsformen für den ländlichen und peripheren Raum also unbestritten gross. Damit es sich ausschöpfen lässt, braucht es zunächst einmal eine gewisse Infrastruktur.

  • Immobilien: Die geringste Herausforderung ist wohl die Bereitstellung der notwendigen Immobilien. Angebot und Nachfrage, etwa für Co-Working-Spaces, halten sich laut VillageOffice derzeit im Gleichgewicht. Ausserdem gibt es gerade in ländlichen Regionen leerstehende Gebäude, die sich bei Bedarf rasch und mit einem vergleichsweise geringen Aufwand umnutzen und entsprechend aufrüsten lassen. Ausserdem haben sich viele Beschäftigte längst ihr Homeoffice eingerichtet.
  •  Telekommunikationsnetze: Die Schweiz ist zwar im Vergleich zu ihren Nachbarländern schon relativ gut mit leistungsfähigen Internetanschlüssen versorgt. Doch im Infrastrukturbereich weitet sich vielerorts der Stadt-Land-Graben.3 Im Hinblick auf eine stärkere Verbreitung der flexiblen Arbeitsformen ist der Ruf nach möglichst guter Erschliessung aller Gebiete der Schweiz nachvollziehbar. Um periphere Regionen und alpine Tourismuszentren so leistungsfähig zu vernetzen wie die städtischen Zentren, sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. Mit seinem «Förderkonzept Ultrahochbreitband Graubünden» treibt zum Beispiel der Kanton Graubünden den Ausbau der Datenautobahn voran. Die NRP finanziert die konzeptionellen Arbeiten im Rahmen regionaler Erschliessungsprojekte mit. Auch die 5G-Mobilfunktechnologie stellt eine Chance dar für die ländlichen Räume und Berggebiete. Deren Ausbau ist aber aufgrund von Einsprachen und aus politischen Gründen vielerorts blockiert.
  • Mobilität: Die neuen flexiblen Arbeitskräfte bleiben mehrheitlich Teilzeitpendlerinnen und -pendler. Sie möchten ihr Pensum zwischen dem Home- oder dem Co-Working-Office am Wohnort und dem Arbeitsplatz im städtischen Zentrum frei aufteilen können. Gute Verkehrsverbindungen sind dafür die entscheidende Voraussetzung. Verschiedene Projekte, deren planerische und konzeptionelle Vorarbeiten auch die NRP unterstützt hat, haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, die Lücken in diesem Bereich zu schliessen. Sie dienten – im Rahmen von Interreg – vor allem der Verbesserung des grenzüberschreitenden ÖV in den Regionen Basel, Genf, Jura und Tessin. Hinzu kamen Pilotversuche zur klugen Nutzung unterschiedlicher Verkehrsträger, inklusive neuer Formen der «Sharing Mobility». Doch dies reicht aus Sicht der Promotoren der Regionalentwicklung längst nicht aus. «Jede Person in der Schweiz sollte das nächstgelegene Co-Working-Büro innert 15 Minuten per Velo oder ÖV erreichen können», lautet ein Ziel von VillageOffice. Da die flexiblen Arbeitskräfte meist Teilzeitpendlerinnen und -pendler bleiben, meint Peder Plaz, Geschäftsführer des Wirtschaftsforums Graubünden: «Die Schaffung von zumutbaren Pendlerdistanzen im gesamten Gebiet der Schweiz wäre wohl die wirksamste Massnahme, die neuen Arbeitsformen auch im ländlichen Raum zu etablieren und die dezentrale Besiedlung zu sichern.»

Bewirtschaftung und Vernetzung von Co-Working-Spaces

Die neue digitale Multilokalität im Zusammenhang mit Co-Working-Spaces in den Schweizer Alpenregionen untersucht der Wirtschaftsgeograf Reto Bürgin von der Universität Bern unter anderem mittels Geotracking. Sein Eindruck: «Co-Working-Spaces allein helfen bestenfalls, den Pendlerverkehr zu reduzieren. Damit sie als Entwicklungsmotoren eine Gemeinde sozial und wirtschaftlich wiederbeleben, braucht es allerdings mehr: Das noch junge Phänomen muss sich in den Köpfen verankern, und die Co-Working-Spaces müssen intensiv bewirtschaftet werden.» Ein gutes Angebot an Arbeitsräumen mit perfekter Infrastruktur ist also bloss ein guter Anfang. Damit das verheissungsvolle Zukunftsszenario für die ländlichen und peripheren Räume voll aufblüht, müssen sich die flexiblen Arbeitskräfte zur «Community» vernetzen. In den gemeinsamen Arbeitsräumen können sie Ideen entwickeln, sich über ihre Probleme austauschen, weitere Konzepte kreieren und allenfalls in neuen Kooperationen zusammenarbeiten. «Aus dem gegenseitigen Austausch entstehen oft innovative Projekte, neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle bis hin zu Forschungs- und Entwicklungsprozessen ausserhalb der traditionellen Institutionen», skizziert HSLU-Professor Timo Ohnmacht die mögliche Entwicklung.

Die Bewirtschafterinnen und Bewirtschafter der Co-Working-Spaces können entscheidende Impulse vermitteln, um eine «Community» zu schaffen. «Informelle ‹Community›-Meetings sind gefragt, Inputreferate, Netzwerkanlässe mit externen Unternehmerinnen und Unternehmern, Seminare, öffentliche Events», regt Ohnmacht an. Co-Working-Spaces, die auf diese Weise bewirtschaftet werden, können zu einem attraktiven Mikrocluster der lokalen Standortförderung heranwachsen. Diesen Ansatz verfolgt auch die NRP. Das zeigen inzwischen mehr als ein Dutzend Beispiele im Rahmen von NRP-Projekten. Hier eine Auswahl: das Macherzentrum Lichtensteig SG, der Co-Working-Space Steckborn TG, das Mountain Co-Working Mia Engiadina in Scuol GR (vgl. «regioS» 14), die «Plattform Haslital» BE, die Working Station Saint-Imier BE und das Interreg-Projekt «GE-NetWork». Im Umfeld dieser Mikrocluster ergeben sich verschiedene vor- und nachgelagerte Effekte. Denn die Homeoffice- und Co-Worker tragen zur Belebung der Dörfer bei und nutzen die lokalen Dienstleistungsangebote, von der Gastronomie über den Detailhandel, die Post und den Coiffeursalon bis hin zu den Freizeiteinrichtungen und dem Gewerbe, woraus wiederum mehr lokale Wertschöpfung und weitere Arbeitsplätze entstehen.

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Co-Working-Spaces – Keimzellen der Dorfentwicklung

Noch einen Schritt weiter geht die Ökonomin Jana Z’Rotz vom Institut für Betriebs- und Regionalökonomie (IBR) der HSLU. «In unseren Studien hat sich gezeigt, dass im ländlichen Raum die rein arbeitsorientierten Co-Working-Spaces schwieriger zu betreiben sind», erklärt sie. Z’Rotz fordert deshalb multifunktionale Co-Working-Spaces, die auch kulturelle, gesellschaftliche und soziale Dienstleistungen erbringen. Sie wünscht sich Orte, die jüngere und ältere Menschen gemeinsam nutzen. Co-Working-Spaces sollen unter anderem auch Quartier- oder Dorftreff sein, öffentliche Werkstatt, Atelier, soziale Anlauf- und Beratungsstellen mit Cafés und Kindertagesstätten – kurzum Keimzellen belebter Dörfer.

Auch dafür kann die NRP schon gute Beispiele liefern: Das Swiss-Escape-Projekt «Co-Living/Co-Working» in Grimentz VS, das partizipative Dorfentwicklungsprojekt Saint-Martin VS und das «Generationehuus in Schwarzenburg (BE)». Letzteres befindet sich in der Startphase und hat wegen seiner inhaltlichen Breite Modellcharakter für die ganze Schweiz. Es verfügt über einen Co-Working-Space mitsamt Werkstatt und Atelier, zwei Wohnungen für Mehrgenerationen-Wohngemeinschaften, Kindertagesstätte, Bistro, verschiedene soziale Einrichtungen, Räumlichkeiten für Gesundheitsberatung und Veranstaltungen usw. Die Konzeptphase haben der Bund und der Kanton Bern im Rahmen eines NRP-Projektes mit 140 000 Franken unterstützt. Mittlerweile hat die Trägerorganisation – eine gemeinnützige Aktiengesellschaft – über grösstenteils private Spenden 3,5 Millionen Franken gesammelt, um das Konzept zu verwirklichen. Derzeit nimmt das «Generationehuus» in einer von der Aktiengesellschaft erworbenen alten Villa mitten im Dorf schrittweise seinen Betrieb auf. Das Raumangebot ist im sanft renovierten Gebäude vorläufig beschränkt. «In Vollbetrieb gehen wir, sobald wir auch noch unseren geplanten Neubau errichten und beziehen können», erläutert Geschäftsführerin Linda Zwahlen Riesen.

Ein unterschätzter Wirtschaftsfaktor

Fest steht: Die «Arbeitswelt 4.0» erhöht das Potenzial der ländlichen und peripheren Räume als Wirtschafts- und Lebensraum. Mit ihr steigen die Chancen, die Versorgung der Dörfer und Gemeinden zu verbessern und so die durch lokale Dienstleistungen erzielte Wertschöpfung im Ort zu behalten. Diese Chancen werden bislang aber erst in wenigen Gemeinden gezielt wahrgenommen und systematisch ausgeschöpft. «Umso notwendiger ist eine breite Diskussion, wie die Regionalpolitik in peripheren Regionen vermehrt Projekte auch zur Stärkung der Wohnattraktivität im Sinne des Zusammenspiels zwischen Wohnen und Arbeiten mitberücksichtigen kann», erklärt Peder Plaz. Damit fordert er einen Paradigmenwechsel in der Standortförderung und der NRP, die heute – wie er bemängelt – «zu einseitig auf die Ansiedlung von Arbeitsplätzen setzt und die Bedeutung der Wohnortattraktivität als Rekrutierungs- und Wirtschaftsfaktor unterschätzt».

Wichtige Denkanstösse, in welche Richtung die Entwicklung zielen könnte, vermittelte etwa Olivier Crevoisier, Professor für Soziologie an der Universität Neuenburg, im Rahmen seiner Studien zur «residenziellen und präsenziellen» Ökonomie.4 Seine Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Projektförderung der NRP die Wohnortattraktivität als Rekrutierungs- und Wirtschaftsfaktor sowie die lokalen Wirtschaftskreisläufe stärker berücksichtigen sollte. Dieses Anliegen widerspiegelt sich auch in den NRP-Pilotmassnahmen für die Berggebiete 2020–2023, mit denen neue Wege für die Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung in den Berggebieten getestet werden.5 Die Erfahrungen aus diesen Pilotmassnahmen werden in die Weiterentwicklung der NRP ab 2024 einfliessen.

regiosuisse.ch/nrpvillageoffice.chgenerationehuus.chswissescape.co

1 Zyklus ohne Ende – Schweizer Immobilienmarkt 2020, Credit Suisse

2 Umfrage der gfs-zürich im Auftrag des SECO; regiosuisse.ch/news/umfrage-berggebiete

3 Breitband-Atlas, Bundesamt für Kommunikation (BAKOM)

4 Crevoisier O., Segessemann A. (2015): L’économie résidentielle en Suisse : identification et mise en perspective

5 Wirtschaftliche Entwicklung der Berggebiete: Instrumente und Massnahmen des Bundes, Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 15.3228 Brand vom 19. März 2015

Lichtensteig – Zentrum für Macherinnen und Macher

Lukas Denzler

In den ehemaligen Räumen der Post in Lichtensteig SG etablierte sich in den letzten drei Jahren das «Macherzentrum Toggenburg» als Co-Working-Space. Dieser entwickelt sich seither zu einem Knotenpunkt für Jungunternehmerinnen und Selbständige aus der Region. Moderne Kommunikation und Digitalisierung schaffen neue Möglichkeiten – gerade auch unter dem Eindruck der Corona-Krise. Der «Ort für Macher*innen», eine regionale Initiative, bildet schliesslich eine Klammer um verschiedene Aktivitäten in der Region Toggenburg.

Einst Postbüro, heute Co-Working-Space: Seit der offiziellen Eröffnung im August 2018 stehen im stattlichen Gebäude mitten in Lichtensteig SG flexibel nutzbare Arbeitsplätze und Sitzungszimmer zur Verfügung – ein Angebot, das inzwischen zehn Personen regelmässig nutzen. Der Austausch von Ideen und Erfahrungen in einem inspirierenden Umfeld ist ein wichtiger Teil des Konzepts. Wie im ganzen Land läuft der Betrieb Ende März 2020 jedoch auf Sparflamme. Den Erfordernissen der Corona-Krise entsprechend erfolgte die Recherche für diesen Artikel nicht vor Ort, sondern per Telefon und Videogespräch. Sie zeigte: Es ist kein Zufall, dass eine solche Initiative für neue Arbeitsformen gerade in Lichtensteig entstanden ist.

Lichtensteig im Toggenburg: Ein kleines Städtchen mit stolzer Vergangenheit. Während Jahrhunderten war der Ort mit Stadt- und Marktrecht Verwaltungszentrum des Toggenburgs. In den letzten Jahrzehnten haben sich jedoch die regionalen Verwaltungsaktivitäten und der Detailhandel immer mehr ins benachbarte Wattwil verschoben. Infolge stetiger Abwanderung ist die Bevölkerungszahl auf unter 2000 Einwohnerinnen und Einwohner gefallen. Die Textilindustrie, einst wirtschaftliche Stütze im Tal, hat ihre Tore geschlossen. Leere Fabriken und Gebäude warten auf neue Nutzungen.

Aufbruchstimmung dank kommunaler Strategie

Die Gemeindebehörden erkannten das Problem der fatalen Abwärtsspirale bereits vor Jahren. Sichtbar war der Niedergang vor allem in der Altstadt, in der einst das Leben pulsierte. Um Gegensteuer zu geben, suchten die Lichtensteiger den Kontakt zum «Netzwerk Altstadt», einem Beratungsangebot von EspaceSuisse. Nach einer tiefgreifenden Analyse erarbeitete der Gemeinderat zusammen mit der Bevölkerung 2013 die kommunale Strategie «Mini.Stadt 2025». «140 interessierte Bürgerinnen und Bürger brachten sich in den Prozess ein», erinnert sich Mathias Müller, der kurz zuvor als Stadtpräsident gewählt worden war. Der Prozess löste zahlreiche Aktivitäten aus: Das Rathaus wandelte sich – nach dem Umzug der Gemeindeverwaltung ins ehemalige UBS-Gebäude – zu einem Ort der Kultur. Die Kalberhalle, in der bis 2005 Kälber zum Verkauf standen, wurde zusammen mit den Vereinen zu einem Veranstaltungsort umfunktioniert.

2016 schloss die Post. Die Gemeinde packte die Gelegenheit beim Schopf und erwarb die Räumlichkeiten. «An dieser zentralen Lage wollten wir unbedingt neue Publikumsnutzungen ermöglichen», erklärt Stadtpräsident Müller. In jener Zeit las er in einer Gratiszeitung einen Artikel über «VillageOffice», eine junge Organisation, die neue Arbeitsformen wie Co-Working auch im ländlichen Raum voranbringen will (vgl. Hintergrundartikel). Kontakte wurden geknüpft – der Funke zündete, Ideen wurden entwickelt. In den Räumen sollte ein inspirierender Ort entstehen für Menschen mit neuen Ideen, für Leute, die eigene Projekte realisieren wollen.

Thomas Kobelt und Céline Rolli (Mitarbeiterin des Co-Working-Spaces) bei der Arbeit im «Macherzentrum Toggenburg» © regiosuisse

Weil die Idee sehr gut zur kommunalen Strategie passte, suchte Müller Leute, die mitziehen würden. Er fand Tobias Kobelt, der im Begriff stand, sich im Bereich der betriebswirtschaftlichen Beratung und Unternehmensentwicklung selbständig zu machen. «Als ich gefragt wurde, realisierte ich, dass genau so ein Angebot fehlt», erinnert sich Kobelt. Im Oktober 2017 habe man klein angefangen. Allmählich formte sich ein Kernteam. «In der ersten Phase mussten wir immer wieder erklären, um was es geht beim Co-Working.» Eineinhalb Jahre später ist da «Macherzentrum Toggenburg» weit über Lichtensteig hinaus bekannt. Durch die Vermietung der Arbeitsplätze erwirtschaftet die Genossenschaft inzwischen genügend, um den ortsüblichen Mietzins und die Nebenkosten bezahlen zu können.

Co-Working und Digitalisierung

In normalen Zeiten geht das Angebot des «Macherzentrums Toggenburg» weit über die gemeinsame Nutzung der Infrastruktur hinaus. Kontakte und eine inspirierende Atmosphäre sind für Jungunternehmerinnen und -unternehmer wichtig. Dazu beitragen soll auch der monatliche «Macher-Treff», für den jeweils Persönlichkeiten eingeladen werden, die über Themen aus dem Bereich «Unternehmertum und Innovation» sprechen. «Wir möchten noch stärker mit Firmen kooperieren», erläutert Kobelt. Sie könnten beispielsweise im «Macherzentrum Toggenburg» Arbeitsplätze «sponsern» und ihren Angestellten tageweise zur Verfügung stellen.

Verschiedene Jungunternehmerinnen und Jungunternehmer haben sich in den ehemaligen Räumlickeiten der Post einen festen Arbeitsplatz eingerichtet. © regiosuisse

«In letzter Zeit melden sich vermehrt auch Leute aus den kleinen Dörfern des Tals, die wissen wollen, wie der Co-Working-Space funktioniert», stellt Kobelt fest. «Das ist ein gutes Zeichen. In den Köpfen im Toggenburg beginnt sich etwas zu ändern.» Der Aufbruch könnte gelingen. Nach dem Vorbild des «Macherzentrums Toggenburg» entstehen nun ähnliche Angebote in den Toggenburger Gemeinden Kirchberg, Nesslau und Degersheim.

Die Niederschwelligkeit des Angebots sei zentral, ist Mathias Müller überzeugt. In der ersten Phase brauche es zudem eine gewisse Unterstützung und einen Vertrauensvorschuss seitens der Behörden. «Stellt man Räume zur Verfügung und schafft man für die Menschen neue Möglichkeiten, so investiert man immer auch in diese Menschen.»

Lokal starten – regional entwickeln

Gelder der Neuen Regionalpolitik (NRP) erhielt das «Macherzentrum Toggenburg» nicht. Der Kanton St. Gallen entschied, Co-Working-Initiativen grundsätzlich nicht über die NRP zu unterstützen. Anders verhält es sich bei der übergeordneten Initiative «Ort für Macher*innen». Diese hat zwar ihren Ursprung in Lichtensteig, ist aber regional auf das ganze Toggenburg ausgerichtet und bildet eine Klammer um verschiedene Aktivitäten. Unter ihrem Dach findet das «Macherzentrum Toggenburg» ebenso Platz wie das «Rathaus für Kultur», Gesellschaftsprojekte wie die «Familienzentren Toggenburg», die Nachbarschaftshilfe und Freiwilligenarbeit unter dem Namen «Zeitgut Toggenburg» sowie ein «Zukunftsbüro».

Das Rathaus für Kultur in Lichtensteig © regiosuisse

Im Jahr 2019 bewarb man sich für ein «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung», die der Bund unterstützt. Da aber ein solches nicht zustande kam, stellte der Kanton St. Gallen eine Unterstützung im Rahmen der NRP in Aussicht. In der Diskussion dazu habe man sich schliesslich auf zwei Themenfelder fokussiert, sagt Markus Schmid von der Standortförderung im Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons St. Gallen: zum einen auf den Fach- und Arbeitskräftemangel – besonders auf neue Arbeitsformen («NewWork»), Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Wiedereinstieg, Teilzeit) und das Arbeitskräftepotenzial 50+ (neue Arbeitsmodelle, innovative Ansätze) – und zum anderen auf die Arealentwicklung. In Lichtensteig gebe es dafür geeignete Areale, etwa eine leerstehende Fabrik. Zudem schmiedet man Pläne für eine Gewerbe- und Kreativwerkstatt als Ergänzung zum «Macherzentrum Toggenburg». Die lokalen Initiativen, ausgelöst primär durch die kommunale Strategie, gewinnen an Dynamik und strahlen immer stärker regional aus.

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Weniger Pendlerverkehr dank Co-Working-Spaces

Raphaël Chabloz

Mit dem Projekt «GE-NetWork» sollen in der Agglomeration Genf bis 2025 in Co-Working-Spaces dezentrale Arbeitsplätze für rund 35 000 Nutzerinnen und Nutzer entstehen. So könnten die Pendlerströme in dr Agglomeration reduziert und die Gebiete belebt werden. Beim Aufbau dieses Netzes sollen sich insbesondere die grossen Arbeitgeber engagieren, die von Effizienzsteigerungen ihrer dezentral tätigen Mitarbeitenden profitieren. Das Projekt wurde bis 2018 von Interreg finanziert, seither engagieren sich das Amt für Umwelt und das Amt für Verkehr des Kantons Genf. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Co-Working-Spaces und die Telearbeit in der Agglomeration Genf im Aufwind sind. Bisher profitieren davon aber vor allem die Innenstädte.

Bis 2025 ein Netzwerk von 150 bis 200 Standorten mit fast 7000 Arbeitsplätzen schaffen, das den gesamten Grossraum Genf abdeckt und von rund 35 000 Personen genutzt wird: Das ist das erklärte Ziel von «GE-NetWork», der zweiten Etappe eines mit Unterstützung durch Interreg lancierten Projekts zur Förderung von Telearbeit und Co-Working am Zipfel des Genfersees. Das Projekt wird seit 2018 vom Amt für Umwelt und jenem für Verkehr des Kantons Genf und von der kantonalen Abteilung für nachhaltige Entwicklung finanziert und konzentriert sich vor allem auf die Auswirkungen der flexiblen Arbeitsform auf Mobilität und Umwelt. Das Ziel der 150 bis 200 Standorte dürfte tatsächlich erreicht werden: «Wir waren in unseren Szenarien eher vorsichtig», erklärt Projektleiter Luc Jaquet von der Sofies-Gruppe. 2014 waren rund zwanzig Co-Working-Spaces Teil des Netzes, 2018 waren es bereits über fünfzig.

12 Millionen weniger Pendlerfahrten pro Jahr

Studien aus der ersten Projektphase zeigen, dass durch «GE-NetWork» der Pendlerverkehr in der Agglomeration um 6 Prozent verringert werden konnte. Dies entspricht einer Reduktion von fast 12 Millionen Pendlerfahrten pro Jahr. Ein weiteres Ziel des französisch-schweizerischen Netzwerks ist die Belebung der umliegenden Gemeinden. Damit dies gelingt, muss ein anderes Publikum angesprochen werden als jenes, das bereits an solchen «dritten Orten» – neben dem Unternehmen und dem Homeoffice – tätig ist. Co-Working-Spaces werden bisher nämlich mehrheitlich von Start-up-Unternehmen genutzt, die die damit verbundenen Vernetzungsmöglichkeiten schätzen, aber meist nach Lokalitäten in der Innenstadt Ausschau halten. Eine Studie, die 2018 nach Abschluss der Interreg-Finanzierung durchgeführt wurde, hat dies bestätigt und gezeigt, dass die entstandenen Co-Working-Spaces noch sehr stark im Schweizer Teil des Grossraums Genf und im Zentrum der Agglomeration konzentriert sind.

La Conciergerie — eine Servicestelle im Co-Working-Space in La Roche-sur-Foron (F) © regiosuisse

Effizienz steigern dank flexibler Arbeitsformen

Die Arbeit am dezentralen Arbeitsplatz kann jedoch auch für das Personal grosser Unternehmen zum Thema werden, wie die Corona-Krise deutlich gemacht hat. Ein Aspekt, der die Träger des «GE-NetWork»-Projekts besonders interessiert, ist die Effizienz. «Die Mitarbeitenden sparen dank dieser flexiblen Arbeitsform Zeit und Energie und gewinnen an Produktivität. Dies haben viele Studien belegt», so Jaquet, «vorausgesetzt allerdings, die Leute arbeiten nicht Vollzeit am dezentralen Arbeitsplatz, da dies demotivierend wirkt.»

Insbesondere im Rahmen des verwaltungsinternen Programms «EquiLibre» haben die Initianten eng mit den industriellen Werken Genfs (Services industriels genevois, SIG) zusammengearbeitet. Ziel dieses Programms ist es, den Mitarbeitenden mehr Wohlbefinden bei der Arbeit und eine ausgewogenere Balance zwischen Berufs- und Privatleben zu bieten, indem Vertrauensarbeitszeit eingeführt und flexibles Arbeiten breit gefördert wird. «Egal, ob Sie im Büro, zu Hause oder in einem Zug sitzen, der durch den Jura tuckert: Was zählt, ist, dass Sie erreichbar sind und die Arbeit erledigt wird», erklärt SIG-Sprecherin Isabelle Dupont Zamperini. Für Luc Jaquet sind es genau solche Ansätze, die einen Arbeitgeber attraktiver machen und den Unternehmen die Möglichkeit bieten, ökologisch und gesellschaftlich Einfluss zu nehmen. Pragmatischer betrachtet können durch eine Neugestaltung der Arbeitsorganisation zudem die Ressourcen im Bereich Immobilien optimiert werden. «Das ist zwar nicht das prioritäre Ziel, aber wir haben zweifellos viel Platz gewonnen», stellt Isabelle Dupont Zamperini fest.

«La Conciergerie» © regiosuisse

Vorteile für alle Beteiligten

Für den Projektleiter bieten Arbeitsplätze in Co-Working-Spaces viele Vorteile gegenüber dem Homeoffice: «Sie ermöglichen eine klare Trennung zwischen Privat- und Berufsleben; sie vermitteln das Gefühl eines ‹echten› Arbeitsplatzes und ermöglichen die wichtigen sozialen Kontakte. All das steigert die Motivation.»

Mehrere Lösungen sind angedacht, um neue Co-Working-Spaces vermehrt auch in Umlandgemeinden zu initiieren und tragfähig zu machen: öffentlich-private Partnerschaften oder auch Modelle, die nicht nur dezentrale Arbeitsplätze, sondern auch andere Dienstleistungen umfassen. Ein Beispiel dafür ist «La Conciergerie» in La Roche-sur-Foron in Frankreich, wo zusätzlich verschiedene Alltagsdienstleistungen angeboten werden – von der Kinderbetreuung über Veloreparaturen bis hin zu Lieferservices.

Die Co-Working-Spaces von Voisins bieten auch Sitzungszimmer. Zwei der Gründer von Voisins (Vater und Sohn, Gérald und Renaud Langel) nutzen eines davon für ihre Besprechung. © regiosuisse

Für Städte und Gemeinden, die sich für die Lancierung von Co-Working-Spaces auf ihrem Gebiet interessieren, gibt es mehrere Handlungsoptionen. «Grosse Arbeitgeber können eine Vorreiterrolle übernehmen und von den Behörden motiviert und unterstützt werden, Pilotprojekte durchzuführen», erklärt Jaquet und verweist auf das Beispiel Amsterdam, wo der Verkehrsstau dank der Bereitschaft der Behörden, Co-Working-Spaces zu fördern, innert fünf Jahren um 20 Prozent abgenommen hat. Ein zweites Instrument ist die Bereitstellung entsprechender Nutzflächen. Der dritte Ansatz sind eigentliche Pilotprojekte: Die Gemeinden könnten, so Jaquet, in Co-Working-Spaces investieren, um das Startrisiko zu vermindern; letztlich sollten diese aber finanziell selbsttragend werden.

Bereits in der Interreg-Phase des Projekts wurden die Gemeinden im Grossraum Genf einbezogen. Nun wollen die Initianten sie an einen Tisch bringen – auch wenn unterschiedliche Ansichten und divergierende Governance-Strukturen im Kanton Genf, in der Region Nyon und im benachbarten Frankreich dieses Vorhaben schwierig machen dürften.

Die Krise als Chance nutzen

Im März 2020 mussten viele Unternehmen in aller Eile Lösungen für die dezentralisierte Arbeit finden. Gleichzeitig waren Angestellte oft dazu gezwungen, ihr Lebensumfeld und ihr Familienleben neu zu organisieren – ein Notstand, der sich aus der Krise ergab, der aber langfristig positive Auswirkungen haben könnte. «Die neuen Arbeitsformen, die in der Krise entwickelt wurden, müssen auch in normalen Zeiten erhalten bleiben. Diese Chance gilt es zu nutzen», bekräftigt Luc Jaquet.

interreg.ch teletravail-geneve.com«GE-NetWork» in der Projektdatenbank auf regiosuisse.ch

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