Der Minibus bis zur Haustür

Peter Jankovsky

Im Tessiner Verzascatal läuft das ÖV-Vorzeigeprojekt «Verzasca Mobile»: Via Mobile-App können Einheimische und Gäste kollektive Fahrten mit einem Elektro-Minibus ordern, der sie wortwörtlich von Tür zu Tür bringt – nicht nur im Tal selbst, sondern auch zu den Zügen und Bussen unten in der Magadino-Ebene. Die Mobile-App funktioniert reibungslos, die Koordination der Fahrtbestellungen und die Durchführung müssen allerdings noch optimiert werden.

Giovanna R. ist berufstätige Mutter und lebt im Verzascatal. Es ist Hochsommer, und sie möchte von ihrem Wohnort Brione-Gerra nach Cadenazzo in der Magadino-Ebene hinunterfahren. Dort lebt in einer Seniorenresidenz ihr Vater, den sie mit ihren zwei Kindern besuchen will. Soll Giovanna das Postauto nehmen, das sie zum nächsten SBB-Bahnhof bringt? Der Fahrplan weist zeitlich Lücken auf, etwa am frühen Nachmittag und abends. Hinzu kommt, dass gerade im Sommer die Busse im Verzascatal oft voll sind mit Feriengästen, die zur berühmten Römerbrücke in Lavertezzo strömen und von dort ins grüne Wasser der Verzasca springen. Überfüllte Busse sind stressig, und schliesslich liegt die Postauto-Haltestelle recht weit von Giovannas Wohnung entfernt.

Soll sie also für die mindestens vierzigminütige Fahrt ihr Auto benutzen? Auch die enge Kantonsstrasse durchs Tal ist im Sommer überlastet. Die Fahrt erfordert deshalb viel Geduld und ist nicht nachhaltig.

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Buchen und zu Hause warten

Diese Probleme plagen die Bewohnerinnen und Bewohner des Verzascatals schon seit Jahren. Seit Oktober 2021 bietet sich Giovanna jedoch eine weitere Möglichkeit: Sie kann eine Fahrt in einem der zwei Elektro-Minibusse buchen, die im Rahmen des Projekts «Verzasca Mobile» zirkulieren. Dazu nutzt sie die entsprechende Mobile-App. Hat sie ihren Reisewunsch eingegeben und eine Fahrt reserviert, kann sie bequem zu Hause warten.

Der Minibus holt sie schliesslich an der Haustür ab und setzt sie direkt am Bahnhof von Tenero ab, damit sie den Zug nach Cadenazzo nehmen kann. So schont Giovanna ihre Nerven – und die Umwelt. Ausserdem kann sie ab 7 Uhr morgens mit den Minibussen rechnen, die abends bis etwa 22.30 Uhr unterwegs sind.

«Das Angebot an kollektiven Fahrten mit den Minibussen soll helfen, die Lebensqualität in unserem Tal zu steigern», sagt Alessandro Speziali. Er fungiert als Koordinator des Masterplans der Fondazione Verzasca, in dessen Rahmen das Pilotprojekt «Verzasca Mobile» mit den Bussen läuft. «Verzasca Mobile», das vor allem für die Einwohnerinnen und Einwohner sowie für Gäste gedacht ist, die im Tal übernachten, erweist sich als eine der Massnahmen, die den Menschen im Bergtal im Sinne des Masterplans zu einer guten Lebensqualität verhelfen und dazu beitragen sollen, die Abwanderung zu stoppen, aber auch jüngere Leute mit Kindern anzuregen, ins Tal zu ziehen.

Bedürfnisgerechtes Mobilitätsangebot

Die Fahrzeuge von «Verzasca Mobile» sind den ganzen Tag über verfügbar. Der Fokus liegt jedoch auf den Randstunden, in denen die Fahrpläne Lücken aufweisen, als Komplementärangebot zum Postauto, das die individuellen Bedürfnisse der Einheimischen abdeckt. Am späteren Nachmittag – wenn Berufspendlerinnen und -pendler sowie Schülerinnen und Schüler auf dem Heimweg sind – entlastet das Angebot auch die Postautokurse. Während die Mini-Elektrobusse im Verzascatal selber alle möglichen Destinationen bedienen, ist der Service in der Magadino-Ebene auf eine Handvoll Bahnhöfe und Einkaufszentren beschränkt.

Die beiden Minibusse mit je acht Sitzplätzen fahren im Sommerhalbjahr täglich, im Winter sonntags nicht. Während der Fahrten können freundschaftliche Kontakte entstehen, zumal sich die Chauffeure offen und hilfsbereit zeigen. «Die Leute schätzen das persönliche Element bei uns», stellt Minibus-Fahrer Marcel Bisi fest. Er ist einer der acht Chauffeure, die neben den zwei in Vollzeit angestellten Fahrern in Teilzeit eingesetzt werden.

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Zunehmend genutzt

Im 26 Kilometer langen Verzascatal leben rund 900 Menschen. Das Pilotprojekt mit den Minibussen startete Anfang Oktober 2021 und soll bis September 2023 dauern. Bis Ende Januar 2022 transportierten sie 483 Fahrgäste, bis Ende November 2022 waren es schon 3275. Bis dahin hatten 1279 Personen einen Account angelegt und die Hälfte von ihnen eine Fahrtbestellung aufgegeben.

Die Mobile-App für die Buchung werde stetig verwendet, hält Projektleiter Lorenzo Sonognini fest. Zudem wachse die Zahl der App-Nutzerinnen und -Nutzer  kontinuierlich,  nachdem das Interesse nach einem anfänglichen «Neugier-Peak» etwas nachgelassen hatte. Die App wurde von der Firma ioki, einer Tochter der Deutschen Bahn, für die Postauto AG konzipiert.

Die Pläne für die Anwendung im Verzascatal und das Geschäftsmodell erarbeitete das Schweizer Entwicklungsbüro Conim. Die Fondazione Verzasca verfeinerte das Modell weiter und führt auch die Fahrten aus. Die Postauto AG betreut die aktuelle Weiterentwicklung und den Betrieb der App, den sie auch finanziert.

Will also Giovanna R. in die Magadino-Ebene mitfahren, gibt sie in der App Fahrziel und Datum ein. Die Applikation gleicht die Fahrtbestellung mit den Buchungen der potenziellen Mitfahrenden ab und offeriert ihr einen Zeitplan. Giovanna kann zudem sehen, wo sich der betreffende Minibus befindet. Hat sie sich definitiv für die Fahrt entschieden, ordert sie und bezahlt auch gleich per App oder im Notfall beim Fahrer. Es existieren drei Tarifzonen; mit einem Fahrpreis von fünf Franken pro Zone sind die Minibusse etwas teurer als das Postauto – dafür ist der Service massgeschneidert.

Ist der Minibus noch weit weg oder bereits voll, müssen die Fahrgäste – vor allem, wenn sie kurzfristig buchen – mit einer längeren Wartezeit rechnen. Auch das signalisiert die App der Bestellerin. «Wir passen die Parameter für die Koordination der Buchungen und Zeitfenster laufend an, wobei uns die Feedbacks der Fahrgäste helfen», erklärt dazu Projektleiter Sonognini.

Pilotprojekt für Randgebiete

«Verzasca Mobile» ist ein Leuchtturmprojekt des «Masterplans Verzasca». Dies bot die Möglichkeit, das Projekt auch durch die Neue Regionalpolitik des Kantons Tessin zu unterstützen. Während zweier Jahre kann so ein innovatives Mobilitätsmodell für periphere Regionen getestet werden, das auch für andere Masterpläne des Kantons infrage kommen könnte. Das Projekt stiess auf breites Interesse und konnte dadurch substanzielle Finanzierungsbeiträge generieren – von der Gemeinde Verzasca, der Stiftung Verzasca, der Postauto AG, den sbb, der Tourismusorganisation Ascona-Locarno und dem Verkehrsclub der Schweiz (vcs).

«Verzasca Mobile» ist ein Vorzeigeprojekt. Zwar laufen auch anderswo Versuche mit Minibussen, das Verzasca-Projekt ist jedoch das grösste in Bezug auf Umfang und Komplexität – insbesondere hinsichtlich Logistik und Digitalisierung. Ist das Konzept perfektioniert, will es die Postauto AG auch in anderen Regionen umsetzen. Das Verzasca-Projekt wird so zum Pilotprojekt für andere periphere Gebiete der Schweiz.

verzasca.ch/de/verzasca-mobile

regiosuisse.ch/projects-nrp

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Mobilität am nachhaltigen Reiseziel

Pirmin Schilliger

In der Ferienregion Engadin Samnaun Val Müstair ist nachhaltige Mobilität ein wichtiger Attraktivitätsfaktor und ein touristisches Markenzeichen. Den Weg dazu ebnete eine Reihe von Pionier- und Pilotprojekten, die in den letzten Jahren lanciert und – je nach Projekt – von der Neuen Regionalpolitik (NRP), Interreg oder Innotour unterstützt wurden. Der in der östlichsten Ferienregion der Schweiz erfolgreich eingeschlagene Nachhaltigkeitskurs ist allerdings noch nicht am Ziel.

«Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair AG» (TESSVM) ist die touristische Marketingorganisation für die Ferienregion Unterengadin / Samnaun / Val Müstair. Sie umfasst eine Fläche von 1200 Quadratkilometern, fünf politische Gemeinden mit rund 9400 Einwohnerinnen und Einwohnern und 26 Ferienorte. Der Perimeter deckt sich mit der «Regiun Engiadina Bassa/Val Müstair» (EBVM), die für die Regionalentwicklung zuständig ist. Die beiden Organisationen arbeiten in der Standortentwicklung und Tourismusförderung eng zusammen. Die strategischen Entwicklungsziele der Regiun sind in der «Agenda 2030» festgehalten. «Ein wichtiges Thema darin ist die nachhaltige Mobilität», erklärt Regionalentwicklerin Martina Schlapbach.

Mit der Eröffnung des Vereina-Tunnels der Rhätischen Bahn im November 1999 hat die Region vor über zwanzig Jahren bezüglich Erschliessung einen Quantensprung erlebt. Seither ist das Unterengadin via Schiene oder Strasse ganzjährig schnell erreichbar. «An unserer peripheren Lage mitten im Hochgebirge, am östlichen Rand der Schweiz, hat sich mit dem Tunnel nichts verändert. Die Mobilität in unserer Region hat sich damit aber massiv verbessert», betont Schlapbach.

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«ÖV-inklusive» für alle Gäste

Für die begehrte Ferienregion, die sich ambitionierte Nachhaltigkeitsziele gesteckt hat, wird es immer entscheidender, welche Verkehrsmittel die Besucherinnen und Besucher benutzen. «Wir möchten, dass unsere Gäste möglichst mit dem Zug anreisen und während ihres Urlaubs innerhalb der Region mit dem ÖV unterwegs sind», sagt Martina Hollenstein, ehemalige Tourismus-Direktorin (2017 bis August 2022) und heutige Projektleiterin der «Gästekarte mit ÖV-inklusive». Der Name steht für ein Angebot, das die Destination 2022 für alle Gäste eingeführt hat, unabhängig davon, ob sie im Hotel oder in einer Ferienwohnung übernachten. Die Gästekarte, die sich als QR-Code aufs Handy laden lässt, ermöglicht die freie Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr innerhalb der Region – und zwar zu sämtlichen Angebotspunkten und Attraktionen, und dies auch am An- und Abreisetag.

«ÖV-inklusive» ist bloss der jüngste, aber einer der wichtigsten Nachhaltigkeitsschritte der TESSVM. Zusammen mit den Bahnen lancierte die Ferienregion vor knapp zehn Jahren ein Projekt, das inzwischen an vielen anderen Wintersportorten Schule gemacht hat. «Wir übernehmen beim Gepäcktransport für die Gäste die letzte Meile, also den Transport zwischen Bahnhof und Hotel oder Ferienwohnung», sagt Hollenstein. Für ihre Nachhaltigkeitsstrategie wurde der Tourismusorganisation 2011 der Tourismuspreis milestone verliehen, eine von der «Hotelrevue» geschaffene Auszeichnung für Innovationen im Schweizer Tourismus. Neuerdings, für die Periode 2022–2025, kann sich die Ferienregion als erste Destination der Schweiz mit dem «TourCert»-Label «Nachhaltiges Reiseziel» schmücken, nicht zuletzt dank «ÖV-inklusive».

In der PLUS-Version berechtigt der Mobilitätspass auch zur Fahrt in die Nachbarländer. Die drei Grenzregionen EBVM, Tirol und Südtirol arbeiten seit über 15 Jahren im Rahmen der Interreg-Kooperation «Terra Raetica» systematisch zusammen. Ein Fokus der Bemühungen liegt auf der internationalen Mobilität im Dreiländereck Schweiz Österreich / Italien – mit dem Ergebnis, dass seit einigen Jahren koordiniert und regelmässig ÖV-Busse über den Reschen- und den Ofenpass nach Mals (Vinschgau / Südtirol) sowie nach Nauders und Landeck (Tirol) verkehren.

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Bike-Routen und Wanderwege attraktiv machen

In der Destinationsentwicklung versucht die TESSVM, zusammen mit der Regiun EBVM vor allem den Sommertourismus weiter zu beleben. Zu den Kernangeboten gehören Bike-Routen und Wanderwege, die auf einer Länge von über 2300 Kilometern durch die Gegend führen. Die Pflege, der Unterhalt und die Anpassung der Bike-Trails an aktuelle Bedürfnisse bleiben eine Daueraufgabe. Mit dem Mountainbike-Masterplan TRAI(L)S VALS entwickelt die Region verschiedene Bike-Angebote und Trails weiter, und zwar abgestimmt auf das kantonale, NRP-geförderte Projekt «graubünden bike». Die Umsetzung im Zeitraum 2019–2025 liegt hauptsächlich bei den Gemeinden. «Es geht dabei um die Aufwertung und den punktuellen Ausbau von Trails und um ein attraktives Gesamtangebot», meint Schlapbach.

In Koordination mit dem kantonalen Projekt «graubünden trailrun» wird die «Trailrunning Regiun EBVM» gefördert und mit Partnerangeboten im Terra-Raetica-Dreieck verbunden. Ein weiteres aktuelles Projekt widmet sich der E-Bike-Infrastruktur beziehungsweise dem Aufbau eines Netzes von Batterieladestationen.

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Die Reise geht weiter

Ob Bikerin, Wanderer, Joggerin, Kletterer oder Skifahrerin, alle kommen auf ihre Rechnung – sommers wie winters. Es gibt Angebote für alle Ansprüche und Schwierigkeitsgrade, vom gemütlichen Spaziergang über Themen- und Erlebniswege bis hin zu anspruchsvollen Touren, rasanten Abfahrten oder Mehrtageswanderungen, beispielsweise auf der Via Engiadina oder im Nationalpark, mitsamt Gepäcktransport von einem Ort zum nächsten. «Alle Ausgangs- und Zielpunkte sind gut erschlossen und für die Gäste mit dem ÖV bequem, gratis und dank abgestimmtem Fahrplan pünktlich erreichbar», so Gästekarte-Projektleiterin Hollenstein.

Die Bemühungen, die Mobilität nachhaltiger zu gestalten, trägt Früchte: Jeder vierte Feriengast reist inzwischen mit dem ÖV ins Unterengadin. Die Gratisverbindungen innerhalb der Region sind zudem zu einem entscheidenden Vermarktungsargument geworden. Abgeklärt wird nun, ob «ÖV-inklusive» künftig auch für die Zweitwohnungsbesitzenden gelten soll. Ausserdem sollen mittels weiterer Massnahmen der ÖV und der Langsamverkehr auch bei den Einheimischen Anteile am Modalsplit gewinnen. Hollenstein und Regionalentwicklerin Schlapbach betonen einstimmig, dass die Weiterentwicklung der nachhaltigen Mobilität in einen strategischen Dauerprozess eingebunden sein müsse. So ist die Regiun EBVM laut Schlapbach gerade damit beschäftigt, die «Agenda 2030» zu aktualisieren. Hollenstein ihrerseits verweist auf den Leitfaden «Nachhaltigkeit in Schweizer Tourismusdestinationen», den die TESSVM, unterstützt von Innotour mit weiteren Destinationen und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), erarbeitet hat und der nun als Inspirationsquelle für weitere Ideen dient.

engadin.com/de/gaestekarte

regiunebvm.ch

tourcert.org

seco.admin.ch/innotour

regiosuisse.ch/projects-nrp

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«langsamer, leichter und lokaler»

Jana Avanzini

Es war nicht immer leicht, in den vergangenen Jahren auf Reisen zu gehen. Doch die Entwicklung vor und auch nach der Pandemie zeigt in der Schweiz einen Trend zu immer längeren und emissionsreicheren Reisen. Mit dem Projekt «bleib hier» wollte die Mobilitätsakademie des TCS, unterstützt durch die Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO), dieser Entwicklung entgegentreten. Das Projekt fördert langsameres, leichteres und lokaleres Reisen und stellt dabei Angebote für Ferien zuhause, Mikroabenteuer in der Region oder Camping-Angebote mit Cargo-Bikes ins Zentrum. Als erfolgversprechend für die Zukunft haben sich Camping-Ferien mit dem Lastenvelo herausgestellt.

Ein Ausflug mit dem hübschen alten VW-Bus, mit dem Car die Familie in Ungarn besuchen, zum Skifahren mit dem Auto in die Berge fahren oder für die Ferien nach Irland fliegen: Es ist nicht der tägliche Pendlerstau für die Arbeit, es sind die Reisen, die wir in der Freizeit unternehmen, die in der Schweiz den grössten Teil des Gesamtverkehrs ausmachen. Besonders der Flugverkehr dominiert die Emissionen im Mobilitätsbereich. Für ganze 18 Prozent des Treibhausgasausstosses ist er verantwortlich. Ferienreisen – der alltägliche Freizeitverkehr ausgenommen – machen 55 Prozent der zurückgelegten Distanzen des gesamten Freizeitverkehrs aus. Und es wird immer mehr.
Im Vergleich zu den regelmässigen Pendlerwegen sind die Freizeitwege extrem vielfältig, wechseln spontan und ganz spezifisch je nach Freizeitaktivität. Dies macht es komplexer, Strategien und Planungen für einen nachhaltigen Freizeitverkehr zu entwickeln. Auch wenn eine Sache bleibt: Beim Freizeitverkehr dominiert bei praktisch allen Aktivitäten der motorisierte Individualverkehr. Die gute Nachricht: Es entwickelt sich ein neues Reiseverhalten: Schweizerinnen und Schweizer küren immer häufiger das eigene Land und die Nachbarstaaten zur Feriendestination.

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Das Projekt «bleib hier»

Aufgrund dieser Fakten und Entwicklungen lancierte die Mobilitätsakademie des TCS, eine Tochtergesellschaft des TCS in Bern, auf das Jahr 2020 das Projekt «bleib hier». Sie setzte sich damit zum Ziel, in der dreijährigen Projektphase suffiziente Geschäftsmodelle für die Freizeitmobilität zu entwickeln. Im Zentrum stand die Frage, wie sich das Reisen in der Freizeit mit weniger Verkehr persönlich erfüllend und ökonomisch sinnvoll gestalten lässt. Das Projekt wurde unter dem Motto «langsamer, leichter und lokaler» lanciert.

Gemeint ist damit erstens die Entschleunigung, indem der Langsamverkehr als ressourcenschonende Form des Reisens propagiert wird. Dazu kommt der Aspekt des leichteren Reisens durch die Reduktion des Materialaufwands und einen genügsamen Umgang mit Konsum. Schliesslich ist der Aspekt des Lokalen mit Fokus auf kurze Wege und regionale Angebote. Projektleiter Jonas Schmid betont: «Spannende Freizeit muss nicht mit grossen Distanzen und viel Konsum verbunden sein.»

«Homelidays» und Camping mit Cargo-Bikes

Das Projekt begann 2020 mit einer Reihe von Experteninterviews und Befragungen zum Freizeitverhalten der Schweizerinnen und Schweizer. Daraus wurden drei Felder von Angeboten entwickelt. Dabei ging es um Dienstleistungen für die Ferien zuhause, um Mikroabenteuer und u alternative Campingmöglichkeiten in der Region. Das Angebot von Ferien zuhause, die sogenannten «Homelidays», wurde jedoch mangels Nachfrage während der ersten Testphase wieder fallengelassen.

Der Fokus lag somit bald auf dem «alternativen Camping» und den «Mikroabenteuern mit Carvelos». «Bleib hier» setzte intensiv auf E-Bikes und E-Cargo-Bikes. Zum Angebot gehörten Carvelo-Touren durch die Schweiz, Familienferien mit Übernachtungen, Camping mit dem Lastenvelo und Mikroabenteuer mit den E-Cargo-Bikes. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Läden in der Stadt Bern wurden «Themen-Bikes» lanciert: Cargo-Bikes, ausgerüstet mit Stand-up-Paddle-Boards, Campingequipment, Barbecue, grossen Lastenanhängern und vielen anderen Ausstattungen konnten gebucht werden. Bestimmt ein Dutzend verschiedene Carvelo-Angebote wurden getestet.
In Kooperation mit dem Campingplatz Eymatt in Bern entstand zudem ein Angebot zur Buchung von Carvelos und Mikrowohnwagen, samt Camping-Equipment und Tipps für Routen und Übernachtungsmöglichkeiten. «Die Camping-Angebote mit E-Cargo-Bikes waren definitiv der grösste Erfolg des Projekts», stellt Jonas Schmid rückblickend fest.

Emanuel Freudiger, TCS

Durchzogene Bilanz

Das Projekt wurde im Herbst 2022 abgeschlossen, die Erfahrungen und Erkenntnisse wurden ausgewertet. Mit Ausnahme der Angebote auf Campingplätzen und ein paar Angeboten mit lokalen Freizeit-Cargo-Bikes gelang es während der Projektlaufzeit allerdings nicht, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Äusserst positiv fiel hingegen das Echo auf das Camping-Angebot mit dem Lastenvelo aus. Dieses wird nun schweizweit auf TCS-Campings ausgebaut und weiterentwickelt.

Jonas Schmid blickt auf eine aussergewöhnliche Zeit zurück. Die Pandemie, die die drei Jahre des Projekts intensiv prägte, habe es massiv beeinflusst. «Wir hatten für das Projekt einerseits Vorteile durch die Covid-Situation, andererseits gab es auch massive Einschränkungen», so Schmid. Natürlich sei die Bevölkerung durch die Reisebeschränkungen sehr stark auf regionale Angebote ausgewichen, gleichzeitig habe sich auch das Konkurrenzangebot massiv vergrössert. Zudem sei es schwierig gewesen, das Projekt in den Medien bekanntzumachen, da diese hauptsächlich Pandemiethemen im Fokus hatten. «Und nach der Pandemie hat das Pendel auf die andere Seite ausgeschlagen. Sobald man wieder uneingeschränkt fliegen und reisen konnte, wurde das wieder stark genutzt.»

Emanuel Freudiger, TCS

Für Städte interessant

Als Erkenntnis für zukünftige ähnliche Projekte betont Schmid, wie zentral die kommunikative Power sei. «Ohne Präsenz in den Medien und ohne Plattformen, die die Angebote verbreiten, ist es äusserst schwierig.» Wichtig ist dafür auch eine intensive Vernetzung von touristischen Angeboten mit Anbietern aktiver Mobilität, beispielsweise die Vernetzung lokaler Freizeitangebote mit den in den Städten bereits stark genutzten Bike- und Trottisharing-Angeboten.
«Wir haben uns für den Vertrieb der Angebote intensiv bemüht, Partnerschaften mit touristischen Akteuren aufzugleisen», so Schmid. Die touristischen Vermarktungsorganisationen hätten wenig Interesse, lokale Angebote für die lokale Bevölkerung zu bewerben. «Die müssen Übernachtungszahlen generieren», so Schmid. «Interessant für uns sind kleine, lokale Partner wie die in Bern, die nun eigene Angebote mit den Freizeit-Cargo-Bikes weiterführen.» Das Zentrale an «bleib hier» sei die Nähe der Nutzerinnen und Nutzer und des Angebots. So sei auch die direkte Zusammenarbeit mit Städten besonders attraktiv, sagt Schmid. «Erstens wollen die Städte attraktiv für ihre Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch für Gäste sein und bleiben, zweitens sind solche Angebote im Interesse der Städte aufgrund gesteckter Klimaziele.» Ein Punkt, dessen Ausstrahlung in den kommenden Jahren nur zunehmen kann.

bleibhier.ch

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Mit Carpooling die Regionen erschliessen

Patricia Michaud

«Interreg Alpine Space», das Interreg-Programm zur Stärkung des Alpenraums, strebte mit dem Projekt «MELINDA» (Mobility Ecosystem for Low-carbon and INnovative moDAl shift in the Alps) an, das Potenzial der Datenerhebung und -auswertung besser zu nutzen, um die Entwicklung einer umweltfreundlicheren und nachhaltigeren Mobilität in Städten und ländlichen Gebieten zu fördern. Das Projekt wurde 2018 gestartet und 2021 abgeschlossen. Auf Schweizer Seite verantwortlich war die Hochschule Luzern (HSLU). Sie führte unter Leitung von Timo Ohnmacht zwei Pilotprojekte durch, die sich auf Fahrgemeinschaften (Carpooling) konzentrierten. Deren Ziel war es, Modelle zu testen, die die Erreichbarkeit ländlicher Gebiete verbessern und gleichzeitig die Abhängigkeit der lokalen Bevölkerung vom motorisierten Individualverkehr verringern könnten.

«Taxito» wurde zwischen Chur und Maladers (GR) entwickelt. Schilder an strategischen Punkten zeigen Haltestellen an, an denen Autofahrerinnen und Autofahrer Mitreisende abholen können, die sich zuvor per SMS für eine Mitfahrmöglichkeit interessiert haben.

«HitchHike», bereits bestehend seit 2011, startete im Naturpark Thal (SO) eine erste öffentliche Plattform für Mitfahrgemeinschaften. Sie verbindet Personen, die regelmässig ähnliche Strecken zurücklegen, zu Fahrgemeinschaften.

Gemäss Timo Ohnmacht, an der HSLU für «MELINDA» zuständig, wollte der Schweizer Teil des Programms «die Gleichung ‹soziale Teilhabe in ländlichen Gebieten = Privatfahrzeug› auflösen». Allerdings zeigte sich, dass die Zahl der «Taxito»- und «HitchHike»-Nutzerinnen und -Nutzer bei weitem nicht ausreicht, die CO2-Emissionen wesentlich zu reduzieren. Denn: «Es reicht nicht, einfach nur neue Tools einzuführen und die Bevölkerung zu informieren; parallel dazu braucht es Good-Governance-Regeln, um die Attraktivität von Privatfahrzeugen einzuschränken.» Dennoch erfreuen sich die Angebote wachsenden Zuspruchs. «Taxito» gibt es inzwischen in 6 Regionen mit 38 Haltestellen und «HitchHike» expandierte im vergangenen Jahr ins europäische Ausland.

alpine-space.eu/project/melinda

regiosuisse.ch/projects-nrp

taxito.ch

hitchhike.ch

Hier finden Sie die Langversion in Französisch.

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Verzasca 2030

«regioS 17» (Dezember 2019) berichtete über den Masterplan «Verzasca 2030», der in einem partizipativen Prozess entwickelt wurde.

Erste Projekte sind realisiert

Seit 2019 läuft im Tessiner Verzascatal die Umsetzung von Projekten im Rahmen des Masterplans «Verzasca 2030». Neben dem Minibus-Projekt ist auch jenes des «Albergo diffuso» realisiert worden. Der dezentral organisierte Gasthof in Corippo öffnete im Mai 2022 seine Tore. Er umfasst eine zentrale Réception und 25 Betten, die auf fünf restaurierte historische Häuser im Dorfkern verteilt sind. Das ebenfalls realisierte Projekt «Vera Verzasca» fördert den Vertrieb lokaler Nahrungsmittel und handwerklicher Produkte. Kurz bevor steht der Start zum Bau des Alpin-Campingplatzes in Brione: Er soll sechzig Stellplätze aufweisen und über eine Wellness-Zone sowie Lodges für anspruchsvollere Kundinnen und Kunden verfügen. Für das grösste Projekt, das multifunktionale Sportzentrum in Sonogno, laufen die Arbeiten am Businessplan; die Bauarbeiten sollen 2024 starten.

Nachhaltige Mobilität in den Regionen

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Mobilität spielt für die regionale Entwicklung unbestritten eine wichtige Rolle. Die Erreichbarkeit der Räume ist in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft – ob für urbane oder ländliche Gebiete – ein entscheidender Standortfaktor.
© regiosuisse

Mit den Strategischen Entwicklungsprogrammen (STEP) für die Nationalstrassen und die Bahn und den entsprechenden Finanzierungsfonds sorgt die Verkehrspolitik für die grundlegende Infrastruktur, fördert aber auch die Entwicklung nachhaltiger Verkehrs- und Mobilitätslösungen. Letztere unterstützen aber auch eine Reihe von Förderprogrammen wie das Programm Agglomerationsverkehr (PAV), die Neue Regionalpolitik (NRP), Interreg, die Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo), Innotour oder die Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO). regioS skizziert nachfolgend die Herausforderungen bei der Entwicklung zukunftsträchtiger Verkehrs- und Mobilitätslösungen und zeigt das Spektrum von Förderinstrumenten auf, das vor allem regionalen Akteurinnen und Akteure zur Verfügung steht.

Ein leistungsfähiges und leicht zugängliches Verkehrssystem ist in der global vernetzten Gesellschaft unbestritten ein entscheidender Standortvorteil und ein Wettbewerbsfaktor. Ohne effiziente Verkehrserschliessung verlieren Regionen schnell den Anschluss an die Zentren. Mit dem politischen Bekenntnis zur dezentralen Besiedlung gemäss Raumplanungsgesetz (RPG) geniesst die Erschliessung der Regionen einen besonderen politischen und sozialen Stellenwert, der über alle gesellschaftlichen und kulturellen Gräben hinweg zum Zusammenhalt des Landes beiträgt. Laut dem «Sachplan Verkehr», der Mobilitätsstrategie des Bundesrats, sollen sich alle Regionen «angemessen weiterentwickeln».

Eine chancengleiche Mobilität ist in der Schweiz nicht einfach ein Lippenbekenntnis, sondern ein nationales Anliegen – ob in den Kernstädten, Agglomerationen, ländlichen Räumen des Mittellandes oder in den Berggebieten. «Nicht zufällig verfügt die Schweiz heute über eines der dichtesten Verkehrsnetze der Welt mit etwa 83 300 Kilometern Strassen und Eisenbahnlinien von 5200 Kilometern», sagt Nicole A. Mathys, Chefin der Sektion Grundlagen des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). Landesweit finden sich kaum Orte, die nicht auch durch den öffentlichen Verkehr (ÖV) erschlossen sind. Selbst nach Juf GR, der höchstgelegenen Siedlung Europas mit rund dreissig Einwohnerinnen und Einwohnern, fährt täglich das Postauto mindestens im Zweistundentakt.

Von diesen umfassenden Angeboten macht die Schweizer Bevölkerung regen Gebrauch: Acht von zehn beschäftigten Personen pendeln zur Arbeit, wobei sie im Schnitt insgesamt rund eine Stunde pro Arbeitstag unterwegs sind. Noch wichtiger ist der Freizeitverkehr, der laut dem «Mikrozensus Mobilität und Verkehr» (MZMV) für annähernd die Hälfte (44 %) aller zurückgelegten Tagesdistanzen verantwortlich ist. Ob beruflich oder zum Freizeitvergnügen – Mobilität ist für die moderne Gesellschaft in jedem Fall selbstverständlich. Doch die Strassen, Schienen, Wege und Transportmittel von heute sind nicht einfach so aus dem Boden gesprossen, sondern über Jahrzehnte entstanden. Sie sind das Resultat unzähliger Bemühungen im Spannungsfeld von Raum, Technik, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik.

Die Aufgabe ist äusserst komplex

Den Verkehr und die Mobilität weiterzuentwickeln und in zukunftsfähige Bahnen zu lenken, ist eine komplexe Aufgabe. Die «Verkehrsperspektiven 2050» (VP 2050) des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) basieren auf mindestens sieben entscheidenden Trends, rund drei Dutzend wesentlichen Einflussfaktoren und über hundert sogenannten Stellgrössen. «Logischerweise sind in die Gestaltung von Verkehrs- und Mobilitätslösungen viele Akteurinnen und Akteure des Bundes, der Kantone, Regionen und Gemeinden eingebunden», so Nicole A. Mathys. Dies erfordert Fachwissen in unterschiedlichen Bereichen wie Verkehr, Raumentwicklung, Umwelt, Wohnungswesen und Energie. Auf nationaler Ebene ist das UVEK für den Verkehr zuständig. In der Pflicht stehen aber auch die Kantone und Gemeinden, vor allem beim Bau und Unterhalt von Kantons- und Gemeindestrassen, beim öffentlichen Nah- und Regionalverkehr sowie beim Ausbau des Langsamverkehrs. Alle diese Beteiligten sind gefordert, bei der Entwicklung einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Mobilität sämtliche Interessen von Gesellschaft und Wirtschaft mit Rücksicht auf die Siedlungsentwicklung und die Umwelt möglichst harmonisch aufeinander abzustimmen.

In welche Richtung sich Mobilität und Verkehr bis zum Jahr 2050 in der Schweiz bewegen könnten, skizzieren die VP 2050 mittels verschiedener Szenarien (siehe Kasten). Klar scheint: Der Verkehr insgesamt wird weiter zunehmen, jedoch langsamer als die Bevölkerung. Bereits heute sind die Auslastungsgrenzen verschiedenenorts erreicht. Gemäss dem «Sachplan Verkehr» müssen daher die Transportkapazitäten für Personen und Waren künftig effizienter genutzt und punktuell ausgebaut werden. Darüber hinaus sind über sämtliche Verkehrssysteme hinweg energetische Verbesserungen erforderlich, um die Treibhausgasemissionen im Kampf gegen den Klimawandel bis 2050 auf netto null zu senken. Dies kann nur mittels eines Transformationsprozesses gelingen. «Die Mobilitätsangebote der Zukunft müssen nachhaltiger, transparenter, flexibler, vernetzter, komfortabler, bedienerfreundlicher und eben CO2-neutral werden», betont Nicole A. Mathys. Ausserdem muss der motorisierte Individualverkehr (MIV) reduziert und der öffentliche Verkehr (ÖV) weiter ausgebaut werden.

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Mehr und bessere Mobilität – mit weniger Verkehr

Fördermöglichkeiten im Bereich nachhaltige Mobilität gibt es in der Schweiz viele, wie der Querschnitt durch die Förderprogramme belegt. Im Mittelpunkt stehen auf regionaler Ebene nicht grosse Infrastrukturvorhaben wie der A1 Rosenbergtunnel in St.Gallen, der Ausbau der Jurasüdfuss-Strecke der Bahn oder die Beschaffung neuer Transportmittel; dafür ist primär der Bund im Rahmen der Verkehrspolitik zuständig. Die regionalen Förderbemühungen unterstützen vor allem neue Mobilitätslösungen und Dienstleistungsangebote zur Optimierung der bestehenden Systeme. Sie betreffen den Berufs- oder Pendler- genauso wie den Freizeit- und Tourismusverkehr. «Es sind Initiativen zur Verkehrsreduktion und zu Verhaltensänderungen notwendig, und zwar zugunsten von mehr Velo- und Fusswegen sowie des Umstiegs auf den ÖV», erklärt Nicole A. Mathys. Hinzu kommen raumplanerische Massnahmen, die die Aufenthaltsqualität und Attraktivität der Siedlungsgebiete erhöhen und so der Bevölkerung ermöglichen, ihre Lebensbedürfnisse grösstenteils im nächsten Umfeld abzudecken. Die mit zunehmendem Wohlstand trotz allem weiterwachsenden Mobilitätsbedürfnisse sollen nicht nur effizienter und besser, sondern auch sauberer und umweltschonender gedeckt werden.

Die grösste planerische Herausforderung ist, die Interessen aller Beteiligten aufeinander abzustimmen und mit vereinten Kräften auf eine kohärente Entwicklung hinzuarbeiten. Ergänzend zur übergeordneten Verkehrsplanung des Bundes über den «Sachplan Verkehr», die Entwicklungsinstrumente STEP-Nationalstrassen, STEP-Bahn und die Agglomerationsprogramme, finanziert über den Bahninfrastrukturfonds (BIF) und den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) verfügen alle Kantone über ihre eigenen Mobilitätsstrategien, Richtpläne und Planungsinstrumente. Luzern beispielsweise stützt sich in der Umsetzung auf das Bauprogramm für die Kantonsstrassen, den ÖV-Bericht sowie die kantonale Veloplanung. Alle diese Instrumente sollen nun in einem neuen «Programm Gesamtmobilität» zusammengeführt werden, damit der Kanton mit den Regionen und Gemeinden koordiniert handeln kann. «Über alle erwähnten Gremien und Ebenen hinweg zeichnet sich ein inhaltlicher Konsens zu einer zukunftsfähigen Mobilitätsplanung ab, der da lautet: ‹Verkehr vermeiden, Verkehr verlagern, Verkehr verträglich abwickeln und vernetzen›», stellt Nicole A. Mathys fest.

Unterschiedliche Prioritäten

In der Umsetzung werden je nach Region und Art des Verkehrs andere Prioritäten gesetzt: In Städten und Agglomerationen bleiben Massnahmen zur Bekämpfung von Verkehrsspitzen und Stauzeiten ein zentrales Anliegen. In vielen Gemeinden des Mittellandes, ob Niederbipp BE, Obergösgen SO oder Winznau SO, sind hingegen der Pendlerverkehr und die Siedlungsplanung die grössten Herausforderungen. Die drei Ortschaften stehen laut einer Analyse von Pricehubble, einem auf Immobiliendaten spezialisierten Unternehmen, für eine vielerorts in der Schweiz zu beobachtende Entwicklung: Obwohl mitten auf dem Land gelegen, werden sie dank relativ «günstiger Häuser» und der Pendlernähe zu Zürich (maximal eine Stunde Fahrzeit) mehr und mehr zu Pendlergemeinden. Noch günstiger lässt es sich in Basel arbeiten und im Jura wohnen, etwa in Haute-Sorne, Moutier oder Develier. Eine ähnliche Mobilitäts- und Siedlungsdynamik hat auch die Einzugsgebiete gewisser inneralpiner Zentren wie Visp oder St. Moritz erfasst. In der Hauptsaison sehen sich die grossen alpinen Tourismusdestinationen zudem mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Agglomerationen und Städte: mit Stau und überfüllten Parkplätzen. In den peripheren Berggebieten und abgelegenen Seitentälern wiederum ist die Herausforderung nochmals ganz anders: Sie kämpfen gegen die Abwanderung und um den Erhalt des ÖV-Anschlusses.

Nicht absehbar ist zum heutigen Zeitpunkt, welche künftigen politischen Weichenstellungen die Transformation der Mobilität in Richtung Nachhaltigkeit weiter beschleunigen werden. Der grösste Hebel ist zweifellos der Strassenverkehr, auf den derzeit rund ein Drittel des gesamten Energieverbrauchs entfällt. Der Motorisierungsgrad der Schweiz ist mit rund 550 Autos auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner hoch, die Energieeffizienz ausgesprochen schlecht. Hauptsächlich dafür verantwortlich sind die vielen PS-starken Fahrzeuge, in denen meistens nur eine Person sitzt. Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Neuwagen in der Schweiz gehören heute zu den höchsten in Europa. «Wir kommen nicht darum herum, den Strassenverkehr energieeffizienter und klimaschonender zu machen», ist Nicole A. Mathys überzeugt. Der Bund möchte mit der «Roadmap Elektromobilität» in einer ersten Etappe erreichen, dass bis 2025 rund die Hälfte der neu zugelassenen Autos mit Elektro- oder Hybridantrieb ausgerüstet sind. Ein weiteres, weitgehend unausgeschöpftes Potenzial ist das datenbasierte Verkehrsmanagement für eine effizientere Nutzung der Verkehrsmittel und -infrastrukturen. 

«Im Bereich des motorisierten Individualverkehrs (MIV), auf den derzeit 70 % der externen Kosten des Verkehrs oder jährlich rund 14 Milliarden Franken entfallen, liegt noch viel Optimierungspotenzial», gibt Nicole A. Mathys zu bedenken. Mit der angestrebten Elektrifizierung der Schweizer Fahrzeugflotte ist allerdings bestenfalls ein Teil des Problems gelöst. Schliesslich stehen auch Elektrofahrzeuge im Stau, benötigen Strassenraum und Strom, der längst nicht immer sauber produziert ist.

Innovative Mobilitätslösungen fördern

Die zentralen Instrumente der Mobilitätsinfrastruktur sind die Strategischen Entwicklungsprogramme Nationalstrassen (STEP-NS) und Bahn (STEP Bahn). Die Finanzierung erfolgt über den der Bahninfrastrukturfonds (BIF) mit einem Volumen von 19,3 Milliarden Franken für die beiden Ausbauschritte bis 2025 beziehungsweise 2035 sowie der Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) mit einem Volumen für die Nationalstrassen (STEP-NS) von 11,6 Milliarden Franken bis 2030 und für den Agglomerationsverkehr von bisher 7,18 Milliarden Franken (seit 2008) beziehungsweis rund 1,6 Milliarden Franken für die vierte Generation ab 2024. Diese Instrumente tragen auch wesentlich zur Erschliessung der Regionen bei. Sie unterstützen aber auch die Akteurinnen und Akteure dabei, den Prozess hin zu einer nachhaltigen Mobilität zu beschleunigen und die dazu erforderlichen innovativen Lösungen zu entwickeln.

Ergänzend zu den infrastrukturorientierten Instrumenten der Verkehrspolitik kommen Förderinstrumente und Programme, die diesen Prozess auf regionaler Ebene verfeinern und unterstützen. Diese regionalen, nachfolgend skizzierten Fördergefässe sind das eigentliche Thema dieser «regioS»-Ausgabe.

Programm Agglomerationsverkehr (PAV)

Über das PAV beteiligt sich der Bund an der Finanzierung von Verkehrsprojekten zur Verbesserung des Agglomerationsverkehrs. Die Schwerpunkte der Förderung liegen auf dem Kapazitätsausbau des ÖV, der Elektrifizierung der Verkehrsträger, der besseren Vernetzung über Verkehrsdrehscheiben sowie einer sicheren und attraktiven Fuss- und Veloverkehrsinfrastruktur. Bei MIV-Projekten spielen Verkehrs- und Quartierberuhigungsmassnahmen, Begegnungszonen und gezielte Zentrumsentlastungen eine entscheidende Rolle. Der Förderperimeter umfasst beitragsberechtigte Gemeinden, die in einer Trägerschaft organisiert sind, inklusive der inneralpinen Agglomerationsräume Chur, Davos, St. Moritz, Altdorf, Glarus, Oberwallis (Brig-Visp-Naters), Zentralwallis (Sitten) und Rhoneknie (Martigny) und Chablais (Monthey-Aigle-Bex) sowie der Interreg-Programmgebiete in den Grenzregionen.

Das PAV ist das finanzielle Schwergewicht unter den Förderprogrammen. In der Vernehmlassung zur vierten Programmperiode hat sich der Bund für die Finanzierung von 1,6 Milliarden Franken (37 % Mitfinanzierung) ausgesprochen. Kantone, Städte und Gemeinden steuern zusammen weitere 2,7 Milliarden Franken (63 %) bei. Das PAV entfaltet seine Wirkung primär in der urbanen Schweiz. Bei Mobilitätslösungen im Pendler- oder Freizeitverkehr strahlt das Programm jedoch weit in die ländlichen Räume und Berggebiete sowie ins grenznahe Ausland aus. Die PAV-Projekte verdeutlichen, dass sich die Wirkung von Verkehrsmassnahmen in der kleinräumigen Schweiz selten räumlich eingrenzen lässt.

➜ Projektbeispiele (der aktuellen Programmperiode):

© regiosuisse

Neue Regionalpolitik (NRP)

Die NRP unter der Leitung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und in Zusammenarbeit mit den Kantonen unterstützt innerhalb ihres Förderrahmens Verkehrs- und Mobilitätsprojekte, die konkret zur Wettbewerbsfähigkeit der Regionen – etwa im Tourismus – beitragen. An den NRP-Projekten beteiligen sich der Bund und die Kantone je zur Hälfte. Viele Mobilitätsprojekte werden im Rahmen einer Verkehrserschliessungspolitik angestossen, die Teil der jeweiligen regionalen Entwicklungsstrategie ist.

➜ Projektbeispiele:

Interreg-Programme

Ähnliche Ziele wie die NRP verfolgt Interreg, an dem die Schweiz via NRP in grenzüberschreitenden Räumen teilnimmt. Verkehrs- und Mobilitätsprojekte bilden dabei einen klaren Förderschwerpunkt, dies besonders in den immer stärker kooperierenden vier Grenzregionen Nordwestschweiz / Deutschland / Frankreich, Genf / Westschweiz / Frankreich, Bodenseeraum / Deutschland / Österreich und Tessin / Graubünden / Wallis / Italien.

➜ Projektbeispiele:

Attila Kartal in der Werkstatt von Rent a Bike in Willisau LU. Dienstleistungen stärken das Velo als Verkehrsmittel sowohl im Alltag als auch in der Freizeit. © regiosuisse

Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo)

Mit den MoVo fördern acht Bundesstellen unter der Leitung des ARE neue Ansätze und Methoden zur nachhaltigen Raumentwicklung. Dazu gehören auch neue Mobilitätslösungen. In der laufenden, vierten Programmperiode (2020–2024) unterstützt der Bund insgesamt 31 Vorhaben mit rund 3,9 Millionen Franken. Davon befassen sich acht Projekte explizit mit Mobilität. Sie zielen hauptsächlich darauf ab, «kurze Wege, Bewegung und Begegnung» zu fördern.

➜ Aktuelle oder kürzlich abgeschlossene Projektbeispiele:

Innotour

Der Bund unterstützt die aktuelle Programmperiode 2020–2023 zur Förderung von Innovation, Zusammenarbeit und Wissensaufbau im Tourismus (Innotour) mit 30 Millionen Franken. Schwerpunkte des vom SECO koordinierten Programms liegen nebst neuen touristischen Dienstleistungen auf der Beherbergung, Verpflegung und der Gästebetreuung sowie dem Transport und Verkehr. Schliesslich entlasten nachhaltige touristische Mobilitätslösungen das Gesamtverkehrssystem Schweiz, in dem der Freizeitverkehr bekanntlich eine dominante Rolle spielt.

➜ Projektbeispiele:

Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO)

Die KOMO ist beim Bundesamt für Energie angesiedelt. Sie unterstützt jährlich bis zu einem Dutzend Projekte für zukunftsfähige Mobilitätslösungen. Die finanziellen Mittel stammen aus dem Programm «EnergieSchweiz». KOMO-Projekte werden von den Bundesämtern ARE, Astra, BAV, BAFU und BAG mitfinanziert. Im Mittelpunkt der Förderung stehen Lösungen für umwelt-, ressourcenschonende und gesunde Fortbewegungsarten. Das Spektrum der Projekte reicht von der App für ein einfacheres Parkplatzmanagement bis hin zu Massnahmen zur Förderung des ÖV und des Langsamverkehrs.

➜ Aktuelle Projektbeispiele:

Weitere Projekte finden Sie in der regiosuisse-Datenbank: regiosuisse.ch/projektdatenbank

© regiosuisse

Verkehrsperspektiven 2050

Die «Verkehrsperspektiven 2050» skizzieren vier mögliche Entwicklungsszenarien, wobei das Basisszenario im Zentrum der künftigen Planung steht. Demzufolge wird der Personenverkehr in der Schweiz über sämtliche Verkehrskategorien hinweg bis 2050 um 11 Prozent (gemessen in Personenkilometern) wachsen. Der Hauptgrund dafür: Auch die Bevölkerung wird im selben Zeitraum weiterwachsen, und zwar um über 20 Prozent auf 10,4 Millionen Menschen. Deutlich höhere Steigerungsraten erwartet das UVEK im Freizeitverkehr, der bereits heute für 44 Prozent aller Tagesdistanzen verantwortlich ist. Beim Einkaufsverkehr wird mit einem Plus von 15 Prozent gerechnet, derweilen der Arbeitsverkehr gegenüber heute um 13 Prozent schrumpfen soll. Treiber dieser Entwicklung sind die demografische Alterung beziehungsweise der sinkende Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung und vor allem weniger Pendlerverkehr dank mehr Homeoffice.

Veränderungen zeichnen sich auch beim Modalsplit ab: Die fortschreitende Urbanisierung und der weitere Ausbau des ÖV werden dazu führen, dass die Leute in den Städten künftig weniger mit dem eigenen Auto fahren. Bereits heute verfügt in den grössten Städten rund die Hälfte der Haushalte über kein eigenes Motorfahrzeug, während ein solches in ländlichen und peripheren Gebieten auch in Zukunft unentbehrlich scheint. Zwar dürfte der motorisierte Individualverkehr (MIV) bis 2050 laut VP 2050 um 5 Prozent zurückgehen, aber immer noch 68 Prozent des gesamten Personenverkehrs ausmachen. Der ÖV könnte unter dem Strich seinen Anteil bis 2050 um 3 auf 24 Prozent steigern. Deutliche Fortschritte, wenn auch auf tiefem Niveau, dürfte es beim Veloverkehr geben: Das Velo könnte seinen Anteil von 2 auf 4 Prozent verdoppeln.

Beim Güterverkehr rechnet das UVEK mit einem weiterhin starken Wachstum von 31 Prozent auf 36  Milliarden Tonnenkilometer. Die Schiene dürfte dabei bis 2050 im Modalsplit 2 Prozentpunkte zulegen und neu einen Anteil von 39 Prozent am gesamten Güterverkehr stellen. Der überwiegende Teil aller Tonnenkilometer dürfte aber auch im Jahr 2050 auf die Strassen fallen.

Mobilitätsverhalten der Schweizer Bevölkerung 2021

2021 entfielen rund 43 Prozent des inländischen Verkehrsaufkommens auf die Freizeitmobilität. Zweitwichtigster Mobilitätszweck war 2021 der Arbeitsverkehr, gefolgt vom Einkaufsverkehr. Insgesamt wurden im Inland pro Person und Tag 30,0 km zurückgelegt, 6,8 km weniger als sechs Jahre zuvor. Aufgrund der Pandemie war die Bevölkerung zum ersten Mal seit Jahrzehnten weniger mobil. Das E-Bike war das einzige Verkehrsmittel, das trotz Pandemie stärker genutzt wurde.

Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheiden sich in ihrem Mobilitätsverhalten zum Teil erheblich. Besonders mobil waren mit einer mittleren Tagesdistanz von 40,2 km pro Person junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren. Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gemeinden legten 2021 ein Viertel mehr Kilometer zurück als die Städterinnen und Städter.

Aus Sicht der Bevölkerung sind Verbesserungen im öffentlichen Verkehr und die Reduktion der Umweltauswirkungen des Verkehrs wichtiger als Verbesserungen im Velo-, Strassen- oder Fussverkehr.

Literatur

BSF/ARE (2023): Verkehrsverhalten der Bevölkerung 2021. Wichtigste Ergebnisse des Mikrozensus Mobilität und Verkehr. Neuchâtel.

Müller-Jentsch Daniel, Avenir Suisse (2020): Zentrumstäler: Die Haupttäler als Entwicklungsachsen des Berggebiets.

Wüest Partner (2021): Berggebiete: Sozioökonomische Analyse, eine empirische Grundlagenstudie im Auftrag des SECO.

Schweiz übernimmt Vorsitz der EUSALP

Die Kantone und der Bund übernehmen 2023 zum ersten Mal den Vorsitz der «makroregionalen Strategie für die Alpenregion (EUSALP)». Diese Aufgabe umfasst unter anderem die Organisation von drei thematischen Konferenzen, die allen Interessierten offenstehen. Die erste widmete sich Ende März in Freiburg dem Thema «Kreislaufwirtschaft». Die nächsten finden am 16. Juni in Scuol GR zum Thema «Wasser» und am 1. September im Tessin zum Thema «Mobilität und Verkehr» statt. Zudem werden am 19. Oktober ein Jahresforum und eine Generalversammlung in Bad Ragaz abgehalten. Daran werden politische Vertreterinnen und Vertreter aus dem gesamten Alpenraum teilnehmen. Die Konferenz der Kantonsregierungen und das Bundesamt für Raumentwicklung koordinieren diese Aktivitäten, mitfinanziert durch die Neue Regionalpolitik (NRP) und unterstützt durch verschiedene Bundesämter und Kantone.

alpine-region.eu/swiss-presidency-2023

regiosuisse.ch/eusalp

Nachhaltige Freizeitmobilität braucht Infrastrukturen und Services

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Die Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität ist ein zentrales Ziel der nationalen Verkehrspolitik. Wie kann auch der Ausflugs- und Freizeitverkehr, der für viele ländliche Regionen und Berggebiete eine wesentliche Basis für die Wirtschaft darstellt, dieses Ziel erfüllen. Diese Frage diskutierten Emilie Moreau, bei Jura Tourisme verantwortlich für die Angebotsentwicklung und Mitglied der Geschäftsleitung, Vincent Kaufmann, Professor für Mobilitätsanalyse an der EPFL in Lausanne und wissenschaftlicher Direktor des «Forum Vies Mobiles» in Paris, sowie Stefan Maissen, Gründer und Geschäftsführer der Rent-a-bike AG.

regioS: Fast die Hälfte der heutigen Verkehrsleistung dient Aktivitäten in der Freizeit. Was muss sich ändern, damit der Freizeitverkehr, speziell auch der Ausflugs- und Ferienverkehr, nachhaltiger wird?

Vincent Kaufmann: Wir müssen verschiedene Arten von Freizeitmobilität auseinanderhalten. Der Tourismus in den Städten mit dem Besuch von Grossveranstaltungen, Ausstellungen und Sehenswürdigkeiten unterscheidet sich sehr stark vom Tourismus in den ländlichen Naherholungsregionen und in den alpinen Feriendestinationen. Wir müssen also genau unterscheiden, welche Freizeitaktivitäten damit abgedeckt werden. Zudem sind die unterschiedlichen Bedürfnisse der Erholungsuchenden zu beachten. Derzeit wächst die ältere Bevölkerung anteilsmässig sehr stark. Die Altersgruppe dieser über Sechzigjährigen verfügt über viel Freizeit und hat spezifische Bedürfnisse in Bezug auf Raum, Mobilität und Komfort. Hinzu kommt, dass neue Verkehrs- und Mobilitätslösungen in jedem Fall nachhaltig und CO2-neutral sein sollten – dies auch in ländlichen Gebieten, wo der Leidensdruck noch geringer ist und die Wirksamkeit nachhaltiger Massnahmen weniger offensichtlich scheint als in den urbanen Gebieten. Dort ist heute jedermann klar, dass wir um neue und kreative Mobilitätsangebote und -lösungen nicht herumkommen.

Welche Strategien und Angebote erweisen sich als erfolgversprechend?

Vincent Kaufmann: Die zwei wichtigsten Schlüsselbegriffe sind «Komfort» und «Service». In Bezug auf Komfort haben die SBB einiges in die Wege geleitet, etwa wenn es um den Gepäcktransport oder das Platzangebot für betagte Reisende oder Familien mit Kindern geht. Zum Komfort gehört auch die Möglichkeit der Direktfahrt mit dem ÖV in die Feriendestinationen. In der Schweiz selbst ist das ÖV-Angebot diesbezüglich schon recht gut. Was aber beim Reiseverkehr stark ins Gewicht fällt, ist der internationale Massstab. Es gibt leider immer weniger touristische Destinationen jenseits unserer Grenzen, die wir mit einem Zug aus der Schweiz direkt erreichen können. Wer heute mit dem Zug von Genf nach Marseille reist, muss mindestens zweimal umsteigen.

Vincent Kaufmann © regiosuisse

Was würde zu einem besseren Service gehören?

Vincent Kaufmann: Betreffend Service wünsche ich mir all jene Dienstleistungen, die einen Ausflug oder eine Ferienreise angenehm machen. Dazu gehören auch entsprechende Angebote am besuchten Ort. Vor Jahren konnte ich beim Langlaufen im Obergoms auf einen Wachsservice direkt an der Loipe zählen – ein Angebot, das es heute nicht mehr gibt. Es ist widersprüchlich, die nachhaltige Mobilität und den ÖV aus- und gleichzeitig die Dienstleistungen für den weiteren Reisebedarf abzubauen. Die Leute steigen nur dann auf den ÖV um, wenn sie die Gewissheit haben, während der ganzen Reise mit all ihren persönlichen Bedürfnissen und Komfortansprüchen gut versorgt zu sein. Die Möglichkeiten, den Reisenden einen guten Service zu bieten, sind längst nicht ausgeschöpft.

Der Jurabogen ist ein ländlich geprägter und teilweise peripherer Raum mit attraktiven Ausflugszielen, insbesondere für Tages- und Wochenendgäste aus den städtischen Zentren. Welche Probleme stellen sich konkret im Jurabogen?

Emilie Moreau: Wir haben etliche Unterkünfte, die ausserhalb gut erreichbarer Orte wie Saignelégier liegen, an Standorten ohne direkten ÖV-Anschluss. Diese Unterkünfte sind verkehrstechnisch ein grosses Problem. Für die Gäste ist es klar, dass sie besser mit dem Auto anreisen, um diesen letzten Streckenabschnitt komfortabel überbrücken zu können. Leider ist unser Angebot an Unterkünften und Aktivitäten über ein Gebiet verstreut, wo längst nicht jede Stelle gut erschlossen ist. Die zweite Herausforderung betrifft die Dienstleistungen. Nicht alle Züge und Busse sind beispielsweise so ausgestattet, dass sie Fahrräder transportieren können. Zudem gibt es für den Gepäcktransport, namentlich jenen der SBB, bis anhin keine guten Lösungen. Warum könnten nicht Einheimische, die gewisse Strecken regelmässig mit dem Auto zurücklegen, eine Art Transportservice anbieten? So müssten Touristinnen und Touristen, die mit dem ÖV anreisen, sich nicht zusätzlich um ihr Gepäck kümmern. Leider stecken diese Ideen noch in den Kinderschuhen, und es gibt noch viele offene Fragen bezüglich Preisen, Versicherungen, Verantwortung usw. Persönlich bin ich überzeugt, dass sich schnell gute Lösungen entwickeln liessen. Im Kanton Jura sind beispielsweise täglich 340 Spitex-Fahrzeuge unterwegs. Diese fahren jeweils nur zu den pflegebedürftigen Personen, hätten aber durchaus Transportkapazitäten für das Gepäck von Touristinnen und Touristen.

Stefan Maissen, wie sehen Sie als Geschäftsführer von Rent-a-bike Ihr eigenes Angebot: Trägt die Velovermietung an Bahnhöfen zu einer nachhaltigeren Entwicklung des Freizeitverkehrs bei? Oder verursacht sie einfach Mehrverkehr?

Stefan Maissen: Zentral an unserem Angebot ist die Einwegmiete von A nach B. Ich kann beispielsweise von Basel nach Lugano fahren oder von Lausanne nach Genf. Diese Einwegmiete ist für uns der eigentliche Grund, eng mit der Bahn zusammenzuarbeiten. Wer mit dem Velo an einem Punkt A startet und an einen Punkt B fährt, für den ist zur Komplettierung der Reise die Bahn das ideale Verkehrsmittel. Unsere Kundinnen und Kunden reisen daher zu einem sehr grossen Teil mit der Bahn an, einfach weil es am meisten Sinn macht. Vergleichen wir unseren Modalsplit mit dem sonstigen Freizeitverkehr in der Schweiz, schneiden wir je nach Angebot um den Faktor 2 bis 3 besser ab. Die Bahnhofsnähe ist für unseren Service entscheidend. Sobald wir einige Kilometer weg sind vom Bahnhof, wird das Auto wieder zum Anreisemittel erster Wahl. Ein weiterer Punkt ist, dass wir auch für Ferien im Jura, Tessin oder in Graubünden vor Ort den entsprechenden Service bieten. Im ganzen Jurabogen haben wir beispielsweise Mietstationen. Diese sind im Sommer sehr gut ausgelastet von Leuten, die bequem mit der Bahn angereist sind und ihre Sportferien geniessen. Die Einwegmiete von A nach B sowie die Vermietung am Ferienort sind die beiden Punkte, die dazu führen, dass die Leute aufs eigene Auto verzichten. Wichtig ist zudem, diese Services zu kommunizieren und ins Gesamtangebot der Hotels zu integrieren.

Stefan Maissen © regiosuisse

Das Fahrrad boomt derzeit, vor allem in der E-Bike-Version. Kann es eines Tages eine entscheidende Rolle im Freizeit- und vor allem auch im Tourismusbereich übernehmen? Oder bleibt es eine Nische?

Stefan Maissen: Grundsätzlich wächst mit dem Angebot auch die Nachfrage. Was in der Schweiz vielerorts fehlt, sind sichere Velowege. Das Problem stellt sich weniger im ländlichen Raum, wo es viele spannende und sichere Routen gibt, sondern vielmehr in den Städten und Kleinstädten. In Mailand oder Bozen kann ich auf einem vier Meter breiten Radweg mitten ins Zentrum fahren. Wollen wir das Fahrrad künftig im Tourismus besser nutzen, braucht es auch in der Schweiz eine bessere Infrastruktur mit besseren Radwegen, die vom motorisierten Verkehr getrennt sind.

Vincent Kaufmann: Wir sollten auch beim Fahrrad die ältere Bevölkerung nicht vergessen. Man kann nicht einfach die Siebzigjährigen aufs Fahrrad setzen ohne zusätzliche Infrastrukturen, die mehr Komfort und Sicherheit bieten. Die Leute aus meiner Generation und aus der Generation meiner Kinder mögen zwar bereits eingefleischte Fahrradfahrerinnen und -fahrer sein. Dabei dient das Fahrrad nicht nur als ideales Transportmittel, sondern auch als Fitnessgerät. Verbesserte Infrastrukturen könnten die Nutzung des Fahrrads fördern. In der Drei-Seen-Region, wo ich ursprünglich herkomme, war Radfahren geradezu gefährlich. Das ist heute immer noch so. Wir brauchen bessere Infrastrukturen, nationale Routen und Wege, die in einem dichten Netz miteinander verbunden sind.

Gibt es im Jura Projekte zur Verbesserung der Fahrradinfrastruktur?

Emilie Moreau: Im Jura gibt es aktuell ein Projekt auf Kantonsebene, in das verschiedene Akteurinnen und Akteure involviert sind. Grössere Orte wie Saignelégier oder St. Ursanne werden mit öffentlichen Fahrradstationen und Fahrrädern ausgestattet. Zudem werden Hotels unterstützt, die ein spezielles Angebot für Gäste mit Fahrrad bieten. Diese können sich dann als «Bike-Hotels» vermarkten. Auch verschiedene Gemeinden fördern den Fahrradtourismus. Beim Kanton fehlt jedoch das Geld, um in nächster Zeit in Velorouten zu investieren.

Emilie Moreau © regiosuisse

Auch nationale Instrumente und Förderprogramme unterstützen Projekte zur Entwicklung zukunftsweisender Verkehrs- und Mobilitätslösungen. Was tragen diese Förderinstrumente bei, die enormen Herausforderungen zu bewältigen?

Stefan Maissen: Wir haben, um nur ein Beispiel zu nennen, die «Herzschlaufe rund um den Napf» mit einem Projekt der Neuen Regionalpolitik (NRP) realisiert. Mit Innotour haben wir den «Bikepark Jura» im Val de Travers geschaffen und neue Routen auf den Creux du Van signalisiert. Geht es um lokale oder regionale Projekte, sind die Förderprogramme sehr wertvoll. Es fehlt jedoch die Übersicht. Man bekommt nicht immer mit, was alles läuft und was überhaupt möglich wäre. Ich würde mir eine bessere Koordination der verschiedenen Fördergefässe wünschen und in vielen Bereichen natürlich auch mehr finanzielle Mittel. Es ist leider immer wieder so, dass die regionalen Träger und die privaten Unternehmen grosse Teile des Budgets tragen müssen. Geht es um die Infrastruktur, ist dies nicht immer nachvollziehbar. Gerade für den besonders wichtigen Ausbau der Infrastruktur fehlen häufig die Mittel. Die Förderprogramme genügen nicht, wenn es gilt, Regionen rasch aufzurüsten, die heute über kein gutes Angebot verfügen. Die Kantone oder der Bund müssen die Führungsaufgabe übernehmen, die sie mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Veloweggesetz (VWG) gefasst haben.

Emilie Moreau: In den Bereichen des Transports und der Mobilität ist nach unseren Erfahrungen Innotour das wirksamste Förderinstrument. Im Rahmen der NRP stossen wir hingegen immer wieder an Grenzen, weil über dieses Instrument nur begrenzt Infrastrukturen finanziert werden.

Vincent Kaufmann: Alle Förderprogramme haben ihre Stärken und sind wichtige Instrumente, weil sie Experimente und Pilotprojekte zulassen. Was darüber hinaus jedoch fehlt, ist ein Denken in grösseren Massstäben und der Wille, wirklich eine nationale Politik zu machen. Zum Beispiel haben wir jetzt viel über nachhaltige Mobilität gesprochen, aber nicht übers Auto. Solange jedoch alle sich im Auto weiterhin günstig und frei fortbewegen können, bleibt es schwierig, nachhaltigen Alternativen zum Durchbruch zu verhelfen.

Das alte deutsche Wort für Tourismus ist «Fremdenverkehr»; Tourismus ohne Mobilität und Verkehr ist schlicht undenkbar. Oder doch?

Stefan Maissen: Was im Tourismus unter Nachhaltigkeit angeboten wird, wirkt oft ein bisschen hilflos. Natürlich kann man vor Ort lokale Produkte geniessen und den lokalen ÖV benutzen. Aber die ökologische Gesamtwirkung solchen Verhaltens ist gering, wenn ich von Asien anreise oder umgekehrt. Man kann hier also nur versuchen, das Nahe zu propagieren. Das heisst dann auch, dass wir als Schweizer Unternehmen die Leute motivieren, hier die Freizeit mit dem Bike zu verbringen und nicht beispielsweise nach Kanada zu fliegen. Der grosse Hebel in der Gesamtwirkung ist, dass die Leute auf Fernreisen verzichten und stattdessen in der Nähe bleiben. Wir als Dienstleister versuchen, unsere Angebote so attraktiv zu gestalten, dass die Leute wirklich auch Lust verspüren, in der Schweiz Fahrradferien zu machen.

Emilie Moreau: Der Jura kämpft – nicht ohne Grund – gegen das Image, schwer zugänglich und schlecht erschlossen zu sein. Er wirkt deshalb immer weiter entfernt, als er tatsächlich ist. Dieses Problem ist schwierig zu lösen. Das Auto ist deshalb immer noch das bevorzugte Verkehrsmittel, um in den Jura zu gelangen. Das dürfte sich auch nicht so schnell ändern, zumal seitens der Politik kein Willen für Veränderungen zu spüren ist.

Vincent Kaufmann: In ganz Europa beobachten wir zunehmend junge Leute zwischen 25 und 35, die gut gebildet sind, aus dem urbanen Raum kommen und entweder keinen Führerschein besitzen oder einfach keine Lust haben, sich in den Ferien mit dem Auto fortzubewegen. Diese Leute sind tendenziell recht gut situiert. Und sie wählen ihre Feriendestination anhand des Kriteriums, ob sie ohne Auto gut erreichbar ist. Es müsste das Ziel sein, dieser Gruppe von Leuten auch möglichst viele Feriendestinationen in der Schweiz leicht zugänglich zu machen.

Was wäre die wichtigste Massnahme im Hinblick auf eine nachhaltigere Mobilität im Freizeit- und Tourismusbereich?

Stefan Maissen: Infrastrukturen im Fahrradbereich ausbauen. Das kostet zwar viel Geld, angesichts der gesamten Investitionen in den Strassenbau müsste das aber eigentlich finanzierbar sein. Viel helfen würden auch gute ÖV-Direktverbindungen – nicht nur die klassischen Pendlerfahrpläne, sondern Direktzüge in die Tourismusregionen, und zwar mitsamt Gepäckservice und Velotransport.

Vincent Kaufmann: Abonnements und gute Angebotspakete sind entscheidend. Ganz wichtig ist auch die Koordination der Fahrpläne. Wenn man zum Beispiel am Wochenende ins Wallis reist, fährt das letzte Postauto in Sitten um 19 Uhr. Um dieses zu erreichen, muss man vor 18 Uhr in Lausanne und vor 17 Uhr in Genf abreisen, was für viele Berufstätige nicht möglich ist. Solch rücksichtlose Fahrpläne vermitteln den Leuten das Gefühl, dass sie nicht mit den ÖV anreisen sollen. Dichtere Fahrpläne bedeuten Zusatzkosten, die aber nicht zu vermeiden sind, wenn man die Gewohnheiten der Leute ändern will.

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Näher am Ziel dank weniger Tempo

Jana Avanzini

Weniger Ressourcen zu verschwenden dank guter nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen Unternehmen: Das ist das Ziel der Kreislaufwirtschaft im Rahmen von Arealentwicklungen. Im Ecoparc de Daval in Sierre VS wird das nun versucht.

Ein über 27 Fussballfelder grosser Industriepark: Das hört sich erst mal nicht besonders attraktiv an. Doch das Ziel in Sierre ist, auf dieser Fläche eine ökologischere und ökonomisch optimierte Gemeinschaft von Unternehmen zu schaffen. Zwanzig Jahre ist es her, seit die Idee des Ecoparc de Daval in Sierre entstanden ist. Die Gemeinde hat das Projekt schliesslich 2016 gestartet, die Umzonung und die Änderungen des Zonennutzungsplans nahmen erwartungsgemäss einige Zeit in Anspruch. Heute sind zehn Unternehmen Teil des Projekts – kleine Familienbetriebe ebenso wie international tätige Unternehmen, etwa Aqua4D, das wassersparende Bewässerungsanlagen für Industrie und Landwirtschaft produziert, ein Chocolatier oder das ehemalige Walliser Start-up Eversys, das mittlerweile mit seinen über 170 Angestellten führend ist im Segment der Premium-Kaffeemaschinen. Weniger Ressourcen zu verschwenden dank guter nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen Unternehmen: Das ist das Ziel der Kreislaufwirtschaft im Rahmen von Arealentwicklungen. Im Ecoparc de Daval in Sierre VS wird das nun versucht.

Sebastian Barbey, Aqua4D © regiosuisse

Ohne Vollgas

Die Anfrage von Unternehmen um einen Platz im Ecoparc de Daval ist aber viel grösser. «Land, vor allem Industrieland, ist Mangelware», betont Stéphane Revey, Leiter der Wirtschaftsförderung Sierre. Da ist man begehrt, wenn man 200 000 Quadratmeter zur Verfügung hat. Es habe zu Beginn geradezu eine Flut von Anfragen gegeben. Dass der Ecoparc trotzdem nicht schneller wächst, sei Absicht. «Wir haben unsere Auswahlkriterien, die erfüllt sein müssen, um Teil des Ecoparc zu werden», so Revey. Diese umfassen unter anderem obligatorische Grünflächen für alle Parzellen und faire Arbeitsbedingungen für die Angestellten. Empfohlen wird den Unternehmen auch die Nutzung von Solarenergie. Mit den Jahren soll auch die Energieeffizienz gesteigert werden; so soll etwa der Abfall der einen zur Energiequelle für andere werden.

Das Gelände liesse sich innerhalb von zwei Jahren mit Unternehmen füllen, die einigermassen das erwünschte Profil aufwiesen. Bringe man aber die Geduld auf und gebe sich zehn oder gar zwanzig Jahre, habe man dafür Firmen an Bord, die sich voll und ganz mit den Ideen identifizieren. «Wir wollen eine nachhaltige Entwicklung, sowohl ökonomisch als auch ökologisch», sagt Revey. Das beinhalte den Umgang mit Ressourcen und die Nutzung von Raum, Materie und Energie. «Und wir wollen weise mit dem Land umgehen», ergänzt er. So weiden rund um die Gebäude der Firma Eversys öfter Schafe. Regenwasser, abgeleitet von den Gebäuden, fliesst zurück in den natürlichen Kreislauf.

Unter der Sonne

Gerade aus dem Solarenergiebereich seien derzeit Unternehmen daran interessiert, sich im Ecoparc de Daval niederzulassen – «denn Sierre ist mit 2200 Sonnenstunden pro Jahr eine der sonnenreichsten Städte der Schweiz», betont Stéphane Revey – ein weiterer Pluspunkt für das Gelände. Schon zu Beginn wurde eine effiziente öffentliche Led-Beleuchtung mit Bewegungssensor und Fernverwaltung auf dem Gelände installiert. Alleebäume wurden gepflanzt. Die Firmen profitieren von gemeinsamen Abfallsystemen, dem Postdienst und einer Bauberatung. Weiter könnten Logistik- und Sicherheitssysteme geteilt werden, Kantinen und Kinderbetreuungsangebote.

Alles Dinge, die funktionieren können, weiss Benoît Charrière, Leiter Wissensgemeinschaften bei regiosuisse, der Netzwerkstelle für Regionalentwicklung und stellvertretender Leiter des Beratungsunternehmen dss+ Genf. Das Problem dabei sei jedoch oft die Abhängigkeit voneinander. Was, wenn eine Firma plötzlich aussteigt, die bisher die gemeinsame Kantine, die Solaranlage oder die Krippe auf ihrem Gelände geführt hat? «Miteinander zu arbeiten, birgt immer auch ein gewisses Risiko», so Charrière. Zudem falle es vielen Unternehmen schwer, eine allfällige Zusammenarbeit mit Nachbarn überhaupt anzugehen, betont er.

vlnr.: Mickaël Yonnet, David Pasquiet und Laura Blardone, David Chocolatier © regiosuisse

Fehlende Eigeninitiative

Oft wüssten Unternehmen gar nicht, was die Nachbarfirma tue, geschweige denn, welche Ressourcen sich gemeinsam nutzen liessen. Das sei verständlich, wenn man bereits mit wirtschaftlichen Herausforderungen kämpfe. Da könne man sich nicht auch noch darauf konzentrieren, wie man mit der Firma im Nachbargebäude zusammenarbeiten könnte. «Es ist dann viel einfacher, erst mal nur an sich zu denken.» Trotzdem bestehe in diesem Bereich extrem viel Potenzial. «Natürlich sind die Kosten, finanziell und personell, zu Beginn höher. Es zahlt sich jedoch langfristig aus – für die Region, die Umwelt, aber auch für die Unternehmen selbst. Es braucht aber immer auch Personen und Firmen, die vorausgehen», so Charrière.

Daher ist es wichtig, dass ein initialer Akteur solche Projekte anstösst – ein Verband, eine öffentliche Institution oder ein Privatunternehmen, das die Aufgabe übernimmt, die Zone zu beleben und Dienstleistungen für die Unternehmen zu betreiben. Revey startete vor zwei Jahren als Leiter der Wirtschaftsförderung von Sierre. «Nachdem ich mit jeder einzelnen Firma Gespräche geführt hatte, sah ich den Willen zur Zusammenarbeit bei allen. Aber niemand ergriff die Initiative», sagt er. Also machte die Gemeinde die ersten Schritte und übernahm eine unterstützende und koordinierende Rolle. Im vergangenen Jahr wurde ein Gewerbeverband gegründet, um diese Synergien zu fördern. Im Vordergrund stehen vorerst der Austausch und möglicherweise die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Anfragen bei der öffentlichen Hand. Gemeinsame Investitionen wären ein weiterer Schritt.

Stéphane Revey und Emilie Saint-Yves, Aqua4D © regiosuisse

Vor zwei Jahren wurde ein Ingenieurbüro mit der Entwicklung eines nachhaltigen Mobilitätskonzepts beauftragt. Über die Auseinandersetzung mit der Mobilität kann ökologischer Fortschritt erzielt, aber auch die Kommunikation gefördert werden. Ein gemeinsamer, aber kleiner Parkplatz bringt die Unternehmen eher dazu, Car-Sharing zu unterstützen, sich gemeinsam für Busverbindungen einzusetzen oder für einen direkten Veloweg vom Stadtzentrum in den Industriepark.

«Schliessen sich Unternehmen zusammen und treten mit Hunderten oder gar Tausenden Angestellten gemeinsam auf, haben sie gegenüber anderen Anbietern oder der Politik grössere Chancen», versichert Benoît Charrière. Auf diesem Weg lassen sich gemeinsame ökologische Ziele auch erreichen.

sierre.ch/fr/ecoparc-daval-2042.html

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Verkehrsperspektiven 2050

Der Verkehr wächst in Zukunft weniger stark als die Bevölkerung. Verantwortlich dafür sind gesellschaftliche und wirtschaftliche Trends wie Homeoffice, die anhaltende Urbanisierung, Digitalisierung und die Alterung der Bevölkerung. Dies zeigen die schweizerischen «Verkehrsperspektiven 2050» des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK). Im Hauptszenario «Basis» nimmt die Verkehrsleistung in Personenkilometern bis 2050 um 11 Prozent zu, während die Bevölkerung um 21 Prozent wächst. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Trends schlagen sich auch im Güterverkehr nieder. Er verzeichnet mit 31 Prozent im Szenario «Basis» bis 2050 zwar eine deutliche Zunahme, doch fällt sie geringer aus als die wirtschaftliche Entwicklung mit einem Zuwachs des Bruttoinlandprodukts von 57 Prozent. Die «Verkehrsperspektiven 2050» dienen unter anderem als Grundlage für die Verkehrs- und Raumplanung des Bundes.

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