Auf Tessiner Trekking-Pfaden

Peter Jankovsky

Eine vielfältige Berglandschaft, ein grosser Fluss und überall verstreut Rustici: Die Vallemaggia ist eine beliebte Feriendestination bei den Deutschschweizern. Doch das langgezogene Tal nördlich von Locarno ist auch Lebens- und Wirtschaftsraum für die ansässige Bevölkerung. Seit zwei Jahrzehnten laufen Förderprojekte, die die Bedingungen für beide Bereiche verbessern sollen. Diese betreffen die Aufwertung der Landschaft ebenso wie die Schaffung neuer Infrastrukturen. Eines dieser Projekte ist die «Via Alta Vallemaggia», ein 200 Kilometer langer Höhenweg. Er bietet spektakuläre Trekking-Erlebnisse und entwickelt sich zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor.

Für viele Gäste, aber auch für Tessinerinnen und Tessiner, ist das Maggiatal ein Sehnsuchtsort sondergleichen. Sein Reiz liegt in der abwechslungsreichen Berg- wie auch Tallandschaft. So ist die 36 Kilometer lange Vallemaggia stellenweise recht breit und die Maggia bestimmt mancherorts mit ihrem ausgeprägten Steinbett das Tal. Trockenmauern durchziehen viele Wiesen, oberhalb deren alte Kastanienselven stocken, aber auch Buchenwälder, für die die Aufnahme ins unesco-Welterbe beantragt wurde. Für ein Bergtal ist auch die Landwirtschaftsfläche beachtlich, auf der einige agrotouristische Einrichtungen zu finden sind. Ins Auge stechen die zahlreichen Rustici: Sie geben der Landschaft ein besonderes Gepräge und sind oft zu Ferienhäusern ausgebaut. Schliesslich tragen auch die Dörfer mit ihren historischen und architektonisch wertvollen Kernen zum malerischen Charakter des Tales bei, etwa das Dorf Peccia in der Nähe des einzigen Marmorsteinbruchs der Schweiz. Unweit davon schmiegt sich in Fusio die Kirche des Tessiner Stararchitekten Mario Botta ins Terrain.

Für Tessiner und Touristen projektieren

Wer durchs Tal fährt oder wandert, dem wird rasch klar: Das Maggiatal bietet viel Potenzial für eine auf der Landschaft basierende Regionalentwicklung. Es eröffnen sich mannigfaltige Möglichkeiten, Landschaftsprojekte mit der Aufwertung von Infrastrukturen für die Bevölkerung und für Gäste zu verbinden. In den letzten zwanzig Jahren realisierten Akteure wie die Associazione Paesaggio Bosco Gurin oder die Fondazione Bavona über 60 Projekte und investierten dabei rund 20 Millionen Franken. Seit 2018 gelangt das regionale Landschaftskonzept namens «Progetto paesaggio comprensoriale», kurz PPC, zur Umsetzung. Es basiert auf der kantonalen Landschaftspolitik, die im Tessiner Raumentwicklungsgesetz verankert ist und von der Abteilung für Raumentwicklung getragen wird. Das PPC formuliert rund 70 neue Ideen für Infrastruktur- und Landschaftsprojekte, die schrittweise konkretisiert und realisiert werden sollen.

© regiosuisse

Für den oberen Teil des Maggiatals gilt ein eigenständiger Masterplan. «Es geht darum, für die Talbewohnerinnen und -bewohner eine bessere Lebensqualität und für die Erholungsuchenden mehr Anziehungspunkte zu schaffen», sagt Christian Ferrari. Er leitet die Arbeitsgruppe «Antenna Vallemaggia», die für die Gesamtentwicklung des Maggiatals zuständig ist. Die Vision sei, mit der Förderung touristischer Aktivitäten die Zahl der Talbewohnerinnen und -bewohner zu stabilisieren, erklärt der regionale Koordinator des Masterplans, Timo Cadlolo. Die Realisierung dieser Vision sollte auch Arbeit für die regionalen Kleinbetriebe generieren. Für die ersten vier Jahre sind Investitionen in der Höhe von 25 Millionen Franken vorgesehen. Sie betreffen rund zwanzig touristische und andere infrastrukturelle Projekte, von denen einige – wie auch der Masterplan selbst – über die Neue Regionalpolitik (NRP) gefördert werden. Für Landschaftsprojekte im engeren Sinne steht zudem eine Million Franken zur Verfügung, insbesondere für grössere Aufwertungsarbeiten in der Valle Sascola.

Eines der Landschaftsprojekte, die Herrichtung der Weinberge zwischen Lodano und Moghegno im traditionellen Stil, ist inzwischen gestartet. Bereits realisiert ist der Einkaufsladen «Val Magia», den lokale Lebensmittelproduzentinnen und -produzenten beliefern. Eröffnet wurde auch das «Cà Vegia», ein historisches Patrizierhaus in Cerentino mit jahrhundertealter Originaleinrichtung, wo Feriengäste Übernachtungsmöglichkeiten finden. Eines der Vorzeigeprojekte des Masterplans, das sowohl die Bedürfnisse der Gäste als auch jene der Bevölkerung erfüllen soll, ist schliesslich der geplante Bau eines Hallenbads in Bignasco.

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Trekking-Route als Erfolgsgeschichte

Das eigentliche Vorzeigeprojekt ist aber eine Trekking-Route, der Höhenweg «Via Alta Vallemaggia». Er startet bei den Hügeln am Lago Maggiore, zieht sich – teils auf Bergwanderwegen und alpinen Wegspuren – über die Bergkämme des Maggiatals Richtung Norden und endet in der hochalpinen Zone am Rande des Basòdino, des grössten Tessiner Gletschers. Der Weg erstreckt sich in zwei Varianten mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden über insgesamt 200 Kilometer. Die stark wechselnden Landschaftsszenerien sind das herausragende Merkmal dieses Weges.

Die Idee dazu entwickelte sich während der Erarbeitung des Masterplans 2016, erläutert Ferrari. Man sei von der bereits seit 2009 vorhandenen, 50 Kilometer langen Route auf der rechten Talseite ausgegangen und habe sie auf die andere Seite ausgeweitet. Das Projekt befindet sich mitten in der Umsetzung: Die Route ist erstellt, wofür zusammen mit der Beschilderung und dem Marketing rund 200 000 Franken aufgewendet wurden. Wo möglich, wurden bestehende Wege genutzt, instandgestellt oder abschnittsweise auch neu gebaut. Nun sind die Renovations- und Erweiterungsarbeiten an rund 15 Berghütten, zum Teil verfallenen früheren Rusticosiedlungen, im Gange.

Christian Ferrari (links ) und Timo Cadlolo © regiosuisse

Die «Capanna Alp da Canaa» ist eine der grössten Hütten. Ihr Schlafplatzangebot wird auf zwanzig Plätze verdoppelt. An den Kosten von 820 000 Franken beteiligt sich zur Hälfte der Kanton via NRP. Für den Rest kommen unter anderem der Hilfsfonds der regionalen Burgergemeinden, die «Ente Regionale Lago Maggiore è Vallemaggia», die Gemeinde Maggia und der Grossverteiler Coop auf.

Mit der «Via Alta Vallemaggia» soll mit möglichst geringen Landschaftseingriffen eine neue Attraktion entstehen. Letzten Sommer habe sich das Trekking-Angebot bereits als Erfolgsgeschichte entpuppt, freut sich Masterplan-Koordinator Cadlolo. Die Berghütten seien sehr gut besucht gewesen, dies trotz der Corona-Vorschriften, die die Bettenkapazität verringert hätten. Laut Cadlolo stammte die Mehrheit der Hüttenbesucherinnen und -besucher aus der Deutschschweiz. Der Masterplan-Koordinator schliesst nicht aus, dass sich im kommenden Sommer die Trekking-Übernachtungen in den Berghütten auf insgesamt 1500 verdoppeln.

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Tourismus attraktivieren – Landschaftsqualität erhalten

Die Einweihung des Weges am kommenden 24. Juli steht noch bevor. Doch jetzt schon hat sich der Höhenweg zu einem Wirtschaftsfaktor entwickelt. Vor dem Trekking-Projekt übernachteten in der unbewarteten «Capanna Alp da Canaa» pro Saison etwa 300 Personen für jeweils 35 Franken. In zwei oder drei Jahren dürften es bis zu 500 Übernachtungen pro Saison sein, erwartet Ferrari. Zu den unbewarteten und nun vernetzten Berghütten gesellen sich bewartete Unterkünfte, in denen einem für rund 65 Franken nebst einem Bett auch Abendessen und Frühstück angeboten werden.

Nach Abschluss der Hüttensanierungs- und -ausbauarbeiten sollen weitere Dienstleistungen wie geführte Touren das Angebot ergänzen. Um die Bettenzahl zusätzlich zu erhöhen, ist auch dieses Jahr die Errichtung von Schlafzelten vorgesehen. Auch eine Online-Reservierung soll ermöglicht werden.

Bei aller eifriger Ausbautätigkeit hält Ferrari fest, das Ziel im Hinblick auf die Landschaft des Maggiatals bleibe, sie als Touristenattraktion zu nutzen – aber als möglichst unberührte Alpenlandschaft. Denn genau das ist in Ferraris Augen ihr grösster Wert.

invallemaggia.ch/it/progetti

viaaltavallemaggia.ch

regiosuisse.ch/nrp

Weitere Artikel

Ticino a tavola

«Das Tessin bittet zu Tisch» – mit Spezialitäten, deren Zutaten aus lokaler Produktion stammen. Das ist das Konzept des 2009 gestarteten nrp-Projekts «Sapori del Ticino a Tavola» (seit 2013 «Ticino a Tavola»; «regioS 07»). Zuständig für «Ticino a tavola» ist das Kompetenzzentrum für Agrarprodukte und Nahrungsmittel.

Die Tessiner Lust auf «local food»

Die Sonnenstube der Schweiz entwickelt sich zu einem Gastroparadies der authentischen Art: Auf die Teller von Tessiner Restaurants kommen immer mehr Menüs aus lokaler Produktion. «Unsere Produkte werden bei Tessiner Kundinnen und Kunden und den Gästen immer beliebter», sagt CCAT-Direktorin Sibilla Quadri.

Momentan beteiligen sich 98 Tessiner Restaurants am Projekt sowie vier ausserkantonale; letztes Jahr waren es noch 150. Der Rückgang ist eine Folge verschärfter Aufnahmekriterien. Unter anderem muss nun jedes Mitgliedsrestaurant mindestens drei lokale Hauptmenüs anbieten, die ausschliesslich aus regionalen und saisonalen Zutaten bestehen. Dazu gehören etwa der Mais für die Polenta oder der Reis aus Ascona für den Risotto.

Zudem baute das CCAT das Webportal aus, über das auch der Online-Verkauf organisiert ist, und es wurden neue Verkaufsläden eröffnet.

ticinoatavola.ch
ccat.ch

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Programm «Smart Villages/Smart Regions»

Die Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche; auch Gemeinden und Regionen in Berggebieten eröffnet sie neue Möglichkeiten. Im Rahmen der NRP-Pilotmassnahmen für die Berggebiete haben das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) das Programm «Smart Villages/Smart Regions» lanciert. Das Programm bietet Beratung und finanzielle Unterstützung für Gemeinden und Regionen, die in einem partizipativen Prozess Massnahmen erarbeiten, mit denen sich die digitalen Möglichkeiten für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung nutzen lassen. Ziel ist es, jeweils einen von der Gemeindeexekutive verabschiedeten Aktionsplan mit konkreten Umsetzungsprojekten zu entwerfen. Die Möglichkeiten des Programms nutzen bereits mehr als ein Dutzend Gemeinden und Regio­nen. Weitere können teilnehmen.

Mehr zum Programm und zur Teilnahme

regiosuisse.ch/nrp-pilotmassnahmen-berggebiete

Chancen «urbaner Landwirtschaft»

«Urbane Landwirtschaft» ist ein breites und vielfältiges Phänomen, das weit über Balkongärten und Dachbepflanzungen hinausgeht. Neben innovativen Projekten und neuen Modellen des Urban Gardening zählen auch Landwirtschaftsbetriebe dazu, die auf die Vorteile der Stadtnähe setzen und neue Geschäftsmodelle entwickelt haben. Eine Online-Publikation der AGRIDEA geht anhand verschiedener Beispiele den Chancen der «urbanen Landwirtschaft» nach und bietet Hintergrundinformationen ebenso wie Tipps und Tricks für eigene Projekte.

agripedia.ch/agriculture-et-ville

Landschaft, Baukultur und Tourismus

Die zahlreichen landschaftlichen und baukulturellen Werte in der Schweiz bergen ein beachtliches touristisches Potenzial. Gemäss der Tourismusstrategie des Bundes gehören sie zur Basis des Schweizer Tourismus. In Zusammenarbeit mit den Bundesämtern für Kultur (BAK) und Umwelt (BAFU) hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) ein Grundlagenpapier erarbeiten lassen, das Potenziale, mögliche Synergien und Handlungsachsen aufzeigt, wie die landschaftlichen und baukulturellen Werte nachhaltig erhalten und gefördert werden können und gleichzeitig die touristische Wertschöpfung gesteigert wird. Das Inputpapier soll dazu beitragen, das Image der Schweiz als qualitativ hochstehendes Reiseland mit einer gelebten und attraktiven Kultur und Landschaft weiterzuentwickeln.

Inputpapier Baukultur, Landschaft und Tourismus

Landschaft in der Regionalentwicklung – eine lohnende Herausforderung

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Schönheit und Eigenart der Landschaft stellt in vielen ländlichen Regionen und Berggebieten der Schweiz, aber auch in den Agglomerationen, einen zentralen wirtschaftlichen Faktor dar. Mancherorts bildet sie die eigentliche Lebensgrundlage. Es drängt sich damit die Frage auf, wie weit sich diese Regionen wirtschaftlich entwickeln können, ohne dass ihre Landschaften an natürlichen und baukulturellen Qualitäten einbüssen. Einen Weg für einen sorgfältigen Umgang mit Landschaft bietet der Bund mit den Pärken von nationaler Bedeutung. Auch im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP), der Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung und weiterer staatlicher und privater Förderinstrumente sind in den vergangenen Jahren zukunftsweisende Projekte lanciert worden. Die Inwertsetzung von Landschaft erweist sich in der Umsetzung allerdings als anspruchsvolle Aufgabe mit langem Zeithorizont, die in die verschiedensten Lebens- und Wirtschaftsbereiche hineinwirkt.

Ranger Stefan Steuri vom Naturpark Gantrisch © regiosuisse

Noch vor einem Jahrzehnt war das Gantrisch-Gebiet eine wenig bekannte Landschaft. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert. Die waldreiche Voralpengegend mit den tief eingeschnittenen Flussläufen von Sense und Schwarzwasser, der Gantrisch- und Gurnigelkette, Moorlandschaften, dem Schwarzsee sowie der Urlandschaft Brecca gehört seit 2012 unter dem Label «Regionaler Naturpark Gantrisch» (RNG) zum erlesenen Kreis der regionalen Naturpärke der Schweiz. Wie 18 weitere Gebiete untersteht der RNG damit der Pärkeverordnung (PäV, Verordnung über die Pärke von nationaler Bedeutung) und gilt als Modellregion für eine nachhaltige Regionalentwicklung. Die Pärkeverordnung ermöglicht es dem Bund, die Errichtung und den Betrieb von Pärken in Gebieten mit hohen Natur- und Landschaftswerten finanziell zu fördern.

Attraktive Angebote

«Die Gründung des Parks hat in unserer Region eine Reihe von Projekten ausgelöst», sagt RNG-Sprecherin Ramona Gloor. Touristische Angebote erschliessen das Gantrisch-Gebiet heute als alpine Outdoorlandschaft, als Bike- und Fahrradregion oder Seilpark. Eine weitere Attraktion ist der kürzlich erneuerte «Gäggersteg», auf dem Besucherinnen und Besucher aus nächster Nähe beobachten, wie sich der Wald seit dem Sturm Lothar im Jahr 1999 entwickelt hat.

Gloor spricht im Zusammenhang mit dem Aufbau und Betrieb des Parks von einer «anspruchsvollen Aufgabe», bei der das richtige Mass oft entscheidend sei. An schönen Wochenenden etwa geraten die urtümlichen Moor- und die wilden Flusslandschaften schnell unter Naherholungsdruck. Das Team des Naturparks Gantrisch begegnet dieser Herausforderung mit einer gezielten Besucherlenkung und mit Rangern, die die Gäste auf die richtigen Wege lotsen. Gloor meint: «Wir wollen nicht mit mehr und mehr Angeboten stets noch mehr Gäste ins Gantrisch-Gebiet locken; der Tourismus muss auf den Nachhaltigkeitsprinzipien aufbauen und unseren Parkwerten entsprechen.»

Naturpark als Vorzeigemarke

Wirtschaftlich profitiert vom Naturpark die Land- und Forstwirtschaft ebenso wie das lokale Gewerbe; mittlerweile werden über 300 Erzeugnisse unter dem Produktlabel «Schweizer Pärke» vermarktet. Nicht zuletzt ist die Parkorganisation selbst ein wichtiger Auftrag- und Arbeitgeber. Ausserdem funktioniert sie als Vernetzungsplattform für die beteiligten Akteurinnen und Akteure. «Seit der Errichtung des Naturparks herrscht in unserer Region Aufbruchstimmung; der Park hat dem Gantrisch-Gebiet zu einer eigenen Identität verholfen», stellt Gloor fest. Das naturnahe Gebiet in den Berner und Freiburger Voralpen hat sich als unverwechselbare und eigenständige Region und als touristische Marke etabliert. Es ist zum Vorzeigebeispiel geworden, wie Landschaft nachhaltig in Wert gesetzt und gleichzeitig in ihrer Qualität gestärkt werden kann.

Dieses Fazit ziehen die Expertinnen und Experten des Interdisziplinären Zentrums für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern im Evaluationsbericht, den sie zuhanden des für den Park verantwortlichen Kantons Bern erstellt haben. Mit Zahlen belegt der Bericht den Beitrag zur Stärkung und Förderung der regionalen Wirtschaft: Die durch den Naturpark induzierte touristische Wertschöpfung betrug 2018 rund 7,3 Millionen Franken. Dies entspricht beschäftigungsmässig 87 Vollzeitstellen. Die zusätzliche Wertschöpfung aus regionalen Produkten belief sich im Zeitraum 2012 bis 2018 auf knapp 9 Millionen Franken. Nicht berücksichtigt sind in diesen Summen Leistungen zur Aufwertung von Natur und Landschaft wie das Offenhalten von Wiesen und Weiden (Schwenten), Heckenunterhalt und -pflege, Neubepflanzungen, Nistplatzpflege, Trockensteinmauersanierungen usw., die Landwirte sowie private Organisationen im Park erbringen. Die Expertinnen und Experten sehen aber auch noch wirtschaftliches Entwicklungspotenzial für den RNG, beispielsweise bei der Wertschöpfung mit Holz oder in der Gastronomie.

Ein ähnlich positives Fazit wie für den Naturpark Gantrisch liesse sich für die meisten der 18 Schweizer Pärke von nationaler Bedeutung ziehen, die zusammen über 5200 Quadratkilometer oder rund einen Achtel der Landesfläche einnehmen. Das Ziel, das der Bund mit den Pärken von nationaler Bedeutung verfolgt – die Natur- und Landschaftsqualität im Einklang mit einer nachhaltigen regionalen Wirtschaftsentwicklung erhalten und aufwerten –, deckt sich dabei weitgehend mit den Zielen der Neuen Regionalpolitik (NRP).

© regiosuisse

«Landschaftskonzept Schweiz» (LKS) als Richtschnur

Die Landschaften der dicht besiedelten Schweiz sind zumeist belebte Räume, vom Menschen geprägt und auf vielfältige Weise beansprucht und genutzt: als Wohn-, Arbeits-, Erholungs-, Bewegungs-, Kultur- und Wirtschaftsraum und als räumliche Basis für die Biodiversität. Es sind Landschaften, die sich über die Jahrhunderte entwickelt haben und gerade in den letzten Jahrzehnten enorm umgestaltet wurden. In unserer durch Wachstum und Mobilität geprägten Gesellschaft müssen sie unterschiedlichsten Ansprüchen genügen. Das 2020 vom Bundesrat verabschiedete, aktualisierte «Landschaftskonzept Schweiz» (LKS)1 ist die eigentliche Richtschnur für einen Ausgleich der Interessen und gibt den Rahmen für eine kohärente und qualitätsorientierte Entwicklung der Landschaft vor. Die Vision des Bundesrates ist es, dass die Schönheit und die Vielfalt der Schweizer Landschaften mit ihren regionalen natürlichen und kulturellen Eigenarten sowohl heutigen als auch künftigen Generationen eine hohe Lebens- und Standortqualität bieten. Zur Realisierung dieser Vision definiert das LKS je sieben allgemeine und landschaftsspezifische Landschaftsqualitätsziele sowie darauf abgestimmte Sachziele für die landschaftsrelevanten Sektoralpolitiken. Das LKS wirkt dabei als Koordinationsinstrument der verschiedenen Gesetze und Instrumente, die sich mit der Landschaft befassen – dies betrifft den Natur- und Heimatschutz und die Raumplanung ebenso wie die Landwirtschaftspolitik, die Landesverteidigung, die Regionalpolitik oder den Tourismus. So soll die Regionalentwicklung etwa die Vielfalt der Landschaften mit ihren regionaltypischen Natur- und Kulturwerten als wichtigen Standortqualitäten und insbesondere als Alleinstellungsmerkmalen stärker berücksichtigen. Sie soll sowohl zu deren Sicherung wie auch zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung beitragen.

Der Kanton als Koordinator und Wegbereiter

Projekte zu entwickeln, die den gesellschaftlichen Ansprüchen an eine hohe Landschaftsqualität gerecht werden und wirtschaftlich erfolgreich – also insgesamt nachhaltig – sind, bringt für die jeweiligen Initianten einige Herausforderungen mit sich. Es gilt den Aktionsradius zu definieren, in dem der Aufwand und der wirtschaftliche Ertrag räumlich in etwa übereinstimmen, sich aber auch in den vielfältigen Vorschriften, Fördermöglichkeiten und Handlungsebenen zurechtzufinden. Erfolgreiche Beispiele, Hilfsmittel und Unterstützungsangebote weisen inzwischen den Weg. Der Kanton Tessin beispielsweise hat mit der «Piattaforma paesaggio» eine Anlaufstelle beim Amt für Raumentwicklung etabliert, die entsprechende Projekte koordiniert. Sie dient Projekt­initianten – ob Gemeinden, Korporationen, Vereinen oder Verbänden – als eine Art One-Stop-Shop. Expertinnen und Experten helfen bei der Finanzierung, beraten und begleiten die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller und leiten sie zu weiteren Fördermöglichkeiten, etwa zu privaten Organisationen und Stiftungen. «Das finanzielle Engagement des Kantons ist oft eine entscheidende Voraussetzung, um weitere Unterstützung zu erhalten», erklärt Paolo Poggiati, Präsident der «Piattaforma paesaggio». Im Zeitraum von 2008 bis 2018 wickelte die Plattform 57 Projekte mit einem Investi­tionsvolumen von insgesamt rund 30 Millionen Franken ab. Nicht zuletzt bündelt die Plattform auch die Aufgaben aller beteiligten kantonalen Ämter (Wirtschaft, Wald und Landwirtschaft, Natur- und Heimatschutz, Denkmalpflege usw.). «Die Projekte sind vor allem für die abseits gelegenen Seitentäler und Berggebiete enorm wichtig», betont Poggiati. «Dort haben die Initiativen lokale Wertschöpfungsketten wiederbelebt und neue Formen der Zusammenarbeit ausgelöst.»

Good Practices landschaftsbezogener Regionalentwicklung

Im Auftrag des BAFU hat die PLANVAL AG die praktischen Möglichkeiten untersucht, ob und wie die Landschaft als Potenzial für eine nachhaltige regionale Entwicklung wirken kann und wie Regionen in ihrer Entwicklung konkret von einem «Leitthema Landschaft» profitieren können. Die Studie2 umfasst mehr als hundert Landschaftsprojekte und kategorisiert deren Strategien zur Inwertsetzung der Landschaft als «marktwirtschaftlich» (Wohnstandort, Tourismus, Energie), «Abgeltung für Landschaftsleistungen» oder «gemischt» (Pärke, Landwirtschaft). Vertieft beleuchtet die Studie schliesslich zwölf Musterbeispiele aus der Schweiz, die inhaltlich ein breites Spektrum von Aktivitätsbereichen abdecken. Die Inwertsetzung gelingt am besten, wenn die spezifischen Potenziale einer Landschaft erkannt, gezielt genutzt und erhalten werden. Dazu braucht es meist das Zusammenspiel mehrerer Fachbereiche wie Tourismus, Landwirtschaft und Naturschutz. Ein zentrales Merkmal der Musterbeispiele ist, dass sich eine Stelle um die langfristige Steuerung und Koordination kümmert. Als sehr hilfreich haben sich dabei regionale Strategien erwiesen (vgl. «regioS 17»). Für die Umsetzung in der Praxis skizziert die Studie ein Modell mit Entwicklungspfaden, die sich in sechs Phasen gliedern lassen. Betont wird ausserdem die langfristige Ausrichtung. Schnelle Erfolge erleben die Beteiligten selten, gefragt sind vielmehr Beharrlichkeit, Durchhaltewille und Geduld.

© regiosuisse Basierend auf: «Landschaft als Leitthema für eine nachhaltige Regionalentwicklung». Eine Analyse von Musterbeispielen. Schlussbericht. PLANVAL, im Auftrag des BAFU. Bern, 2019.

«100 % Valposchiavo»

Eindrücklich zeigt dies die Landschaftsentwicklung im Puschlav, wo derzeit die zweite Etappe des Projekts «100 % Valposchiavo» läuft. Das Ziel: Bis 2028 sollen alle Bauern und Bäuerinnen im Tal ihre Betriebe nicht nur biologisch bewirtschaften, sondern auch alle Erzeugnisse – Milch- und Fleischprodukte, Buchweizenmehl, Kräuter, Früchte usw. – selber verarbeiten und unter dem Label «100 % Valposchiavo»® vermarkten. Die Region baut damit eine geschlossene Wertschöpfungskette auf. Mit gutem Erfolg: «Es gibt heute schon über hundert Produkte mit dem Zertifikat», erklärt Cassiano Luminati, Direktor des Polo Poschiavo. Die meisten Restaurants im Tal führen seit 2015 auf ihrer Speisekarte Gerichte, die ausschliesslich mit lokalen Zutaten zubereitet sind. An den Kosten der aktuellen Etappe 2021 bis 2028 beteiligt sich der Bund im Rahmen des Programms «Projekte zur regionalen Entwicklung» (PRE) des Bundesamtes für Landwirtschaft mit 10,7 Millionen Franken. Die Entwicklung des Puschlavs zum innovativen «Bio Smart Valley» ist von langer Hand geplant. «Das Tal zählt zu den Pionieren der biologischen Landwirtschaft», ruft Luminati in Erinnerung. Bereits heute werden 95 Prozent der Landwirtschaftsfläche biologisch bewirtschaftet – ein schweizweit einmaliger Anteil. Ein entscheidender Schritt für die Entwicklung im Tal war die Anerkennung der Bernina-Bahnlinie als UNESCO-Welterbe 2008. «Wir haben in der Folge partizipativ eine regionale Strategie entwickelt, die die materiellen und immateriellen Ressourcen unseres Gebietes in den Mittelpunkt stellt», sagt Luminati. Ziel ist es, das Valposchiavo zur grundlegenden wirtschaftlichen Basis der regionalen Entwicklung zu machen; der Weg dazu führt über eine Symbiose aus biologischer Landwirtschaft und nachhaltigem Tourismus auf dem Fundament der einzigartigen Landschaft. Das Tal steckt somit mitten in einem Langzeitvorhaben, das die Bevölkerung Schritt für Schritt in die Tat umsetzen wird. Sie nutzt dazu geschickt die zahlreichen Instrumente, die die Politik zur Verfügung stellt. Mit dem jüngsten Projekt – dem Modellvorhaben «Landschaftswerte für die nächste Generation erhalten» – versucht das Tal den Weg in die Zukunft mittels einer gemeinsamen «Perspektive 2040» weiter zu justieren. Das historische Gedächtnis des Tals, das traditionelle Landschaftswissen und die Wertvorstellungen der lokalen Bevölkerung sollen noch stärker in die Regionalentwicklungsprozesse einfliessen.

Blick auf Poschiavo GR im Puschlav © regiosuisse

Geschichte neu lanciert

Über alle Förderinstrumente betrachtet, betreffen rund zwei Drittel aller in der PLANVAL-Studie untersuchten Projekte zur Inwertsetzung von Landschaft den Tourismus. Das ist kein Zufall, bedenken wir die einzigartige Dichte attraktiver Landschaften in der Schweiz und die historische Entwicklung. Die «Entdeckung der Alpen» durch vorwiegend englische Bildungsreisende begründete gleichsam den Schweizer Tourismus. In Anlehnung an die sogenannte «Grand Tour», die Thomas Cook 1858 erstmals als Pauschalreise durch die Schweiz organisierte, steht bei dem 2015 von Schweiz Tourismus lancierten Projekt «Grand Tour of Switzerland» die landschaftliche Vielfalt im Mittelpunkt. Die 1640 Kilometer lange Route führt – meist im eigenen Auto – durch die spektakulärsten Landschaften und die attraktivsten Städte der Schweiz. Sie verknüpft 5 Alpenpässe, 22 Seen, 12 UNESCO-Welterbestätten und 45 Sehenswürdigkeiten. Das Angebot greift dabei auf bestehende Infrastrukturen im Verkehr, in der Gastronomie und der Hotellerie zurück. Neu sind lediglich 650 diskrete Wegweiser sowie 48 installierte «Fotorahmen», die besondere Landschaftsausschnitte einfassen und zum Fotografieren einladen. «Mit ihnen rücken wir die ikonografischen Landschafts- und Siedlungsbilder ins eigentliche Zentrum des Erlebnisses», erklärt Konzeptentwickler Matthias Imdorf von der Erlebnisplan AG, der als Berater mit von der Partie war. Imdorf ist überzeugt, dass die Inwertsetzung der Landschaft noch «fast endloses Potenzial bietet».

© regiosuisse

Ökonomischer Nutzen schwer erfassbar

Die Fallbeispiele der PLANVAL-Studie veranschaulichen eindrücklich, dass eine nachhaltige, qualitätsorientierte und vielfältige Nutzung und Bewirtschaftung von Landschaft gelingen kann. Vorausgesetzt werden die Kenntnis der komplexen gesetzlichen Rahmenbedingungen und eine zielgerichtete Koordination der Beteiligten im Sinne einer Good Governance.

Der ökologische und landschaftsästhetische Nutzen ist in vielen Fallbeispielen ebenso offensichtlich wie die ideellen Benefits wie Imagegewinn, Kooperationskultur oder neue sozioökonomische Netzwerke. Welche konkrete Wertschöpfung sich mit landschaftsbezogenen Produkten und Dienstleistungen effektiv erzielen lässt, bleibt aber mangels Daten häufig diffus. Es lässt sich nur indirekt ermitteln, welcher volkswirtschaftliche Nutzen einer Region entgeht, wenn sie auf die Inwertsetzung der Landschaft verzichtet. In dieser Hinsicht gilt es noch einige ökonomische Grundlagenarbeit zu leisten. «Zwar lässt sich der unmittelbare Nutzen der Landschaft etwa für die Land- und Forstwirtschaft oder für eine konkrete Region und Fragestellung meistens ziemlich genau berechnen, doch die kulturellen und touristischen Leistungen von Landschaft lassen sich insgesamt schwer beziffern», stellen Ökonomen der HES-SO Genève in einer Metastudie3 fest.

Nicht zwingend besteht eine direkte Beziehung zwischen dem ökologischen Wert einer Landschaft, etwa als Hotspot der Biodiversität, und ihrem ökonomischen Wert. Ein vielbesuchter Stadtpark ist ökonomisch allenfalls wertvoller als ein peripheres Naturgebiet. Um den Wert und die Leistungen einer Landschaft trotzdem zu erfassen, bedient sich die Landschaftsökonomie indirekter Methoden, etwa um mithilfe der Immobilienwerte die Seesicht und das Bergpanorama zu bewerten. Eine BAFU-Studie4 aus dem Jahre 2014 ermittelt auf solche Weise den Erholungswert des Schweizer Waldes auf zwei bis vier Milliarden Franken pro Jahr. Eine Studie5 der ETH und der Schweizer Pärke von 2018 beziffert die touristische Wertschöpfung für den Landschaftspark Binntal auf 22 Millionen Franken und für den Parc Ela auf 106 Millionen Franken pro Jahr.

Insgesamt ist die Faktenlage hinsichtlich der ökonomischen Bewertung der Landschaft deshalb zurzeit noch unbefriedigend. Die Messbarkeit landschaftsinduzierter Wertschöpfung wäre aber eine wichtige Voraussetzung, um landschaftsbezogene Regionalentwicklung gezielter anzugehen. Der Tourismusexperte Jürg Schmid sieht vor allem im naturnahen Tourismus überdurchschnittliche Wachstumsmöglichkeiten, die genutzt werden könnten, ohne die Landschaftsqualität zu beeinträchtigen. «Die regionalen Naturpärke und die Welterbegebiete präsentieren die Essenz der Schweizer Natur und die regionale Vielfalt. Doch es fehlen lustvolle, gästeorientierte Angebote und spezifisch auch Erlebnisse für den Premium-Reisemarkt, die das grosse Potenzial in Wertschöpfung umsetzen», so Schmid (vgl. Roundtable «Die attraktive Landschaft ist das Fundament unseres Tourismus.»).

Potenziale, Instrumente und gute Vorbilder, um die hohe Landschaftsqualität in den Regionen der Schweiz zu nutzen und gleichzeitig zu fördern, sind also vorhanden. Was es braucht, sind engagierte Menschen mit guten Ideen und einem langen Atem, die die Potenziale erkennen und andere Leistungsträger zum Mitmachen begeistern.

Gesetzlicher Rahmen und Förderinstrumente

Landschaftsrelevante Gesetzgebung: Bundesverfassung (BV), Raumplanungsgesetz (RPG), Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz (NHG), Pärkeverordnung (PäV), Landwirtschaftsgesetz (LwG), Waldgesetz (WaG), Gewässerschutzgesetz (GSchG), Bundesgesetz über Fussund Wanderwege (FWG), Jagdgesetz (JSG), Bundesgesetz über die Fischerei (BGF), Energiegesetz (EnG), Nationalstrassengesetz (NSG), Eisenbahngesetz (EBG), Landschaftskonzept Schweiz (LKS) u.a.

Förderinstrumente des Bundes: Neue Regionalpolitik (NRP), Pärkepolitik des Bundes, ProgrammvereinbarungenNaturschutz und LandschaftFinanzhilfen nach Art. 13, NHG (Historische Verkehrswegeund Ortsbilder/Denkmalpflege), Projekte zur regionalen Entwicklung(PRE), Landschaftsqualitätsprojekte(LQP), Modellvorhaben NachhaltigeRaumentwicklung (MoVo), Tourismusförderung^(Innotour), Landschaftsfonds Schweiz u.a.

gantrisch.ch

valposchiavo.ch

grandtour.myswitzerland.com

regiosuisse.ch/nrp

parks.swiss

bafu.admin.ch/paerke

blw.admin.ch/pre

regiosuisse.ch/finanzhilfen

Literatur und weiterführende Informationen

Weitere Artikel

«Die attraktive Landschaft ist das Fundament unseres Tourismus.»

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Die vielen einzigartigen Landschaften sind seit bald 250 Jahren das eigentliche touristische Kapital der Schweiz. Für viele ländliche Regionen bilden sie die zentrale Lebensgrundlage. Doch auch für Städte wie Luzern ist die Landschaft ein wichtiger Standortfaktor. Wie lassen sich diese einzigartigen Landschaften im Rahmen der Regionalentwicklung weiter in Wert setzen und gleichzeitig in ihren eigenen Qualitäten stärken? Diese Frage diskutierten Dominique Weissen Abgottspon, Geschäftsführerin Netzwerk Schweizer Pärke, Marie-France Roth Pasquier, Nationalrätin, Gemeinderätin von Bulle FR und Präsidentin der Agglomeration «Mobul» sowie Jürg Schmid, ehemaliger Direktor von Schweiz Tourismus, Präsident Graubünden Ferien und Mitinhaber einer Marketing- und Kommunikations-Agentur.

regioS: In vielen Gebieten der Schweiz ist die Inwertsetzung und Nutzung der Landschaft ein entscheidender Faktor für die regionale Entwicklung. Da stellt sich die Frage: Befinden wir uns mit der Neuen Regionalpolitik (NRP) und weiteren Förderinstrumenten zur regionalen Entwicklung tatsächlich auf dem richtigen Weg zu einer in jeder Beziehung nachhaltigen Nutzung der Landschaft?

Dominique Weissen Abgottspon: Die Landschaft ist das Potenzial und auch der Trumpf, den die ländlichen Regionen der Schweiz und das Berggebiet in der Hand haben. Grundsätzlich finde ich den Ansatz richtig, bewusst von Inwertsetzung der Landschaft zu sprechen. Das trägt dazu bei, dass die Landschaft tatsächlich wertgeschätzt und mit Sorgfalt behandelt wird. Mit dem Instrument der Schweizer Pärke haben wir sicher einen guten Weg in diese Richtung eingeschlagen.

Inwiefern?

Dominique Weissen Abgottspon: Die Pärke verpflichten sich, die Landschaft zu erhalten und aufzuwerten. Und sie betreiben mit naturnahem Tourismus eine nachhaltige Wirtschaftsförderung.

Wo liegen die Grenzen der Inwertsetzung?

Dominique Weissen Abgottspon: Wenn wir in einer intakten Landschaft Tourismus fördern, können Zielkonflikte entstehen, zum Beispiel beim Bau von Infrastrukturen. Oft ist es auch nicht einfach, Wertschöpfung zu generieren. Ein hohes Besucheraufkommen allein nützt den Regionen kaum etwas. Es braucht gute Angebote – vor allem auch in der Gastronomie und Beherbergung – und regionale Produkte, die gekauft werden können.

Herr Schmid, wo sehen Sie noch Potenzial, die Landschaft in Wert zu setzen, ohne den Schutz zu tangieren?

Jürg Schmid: Der Schutz sowohl der Landschaft wie auch der Natur ist ein tourismusstrategisches Anliegen, auch wenn das vielleicht viele Touristikerinnen und Touristiker noch nicht so sehen. Das Fundament, auf dem der Schweizer Tourismus ruht, ist aber die Attraktivität der Landschaft. Niemand kommt wegen architektonisch wertvoll überbauter Hänge in unsere Berggebiete. Der Anziehungspunkt ist die Landschaft. Deren Schutz ist für den Tourismus also entscheidend. Und die Antwort auf die Frage, ob es bei der Inwertsetzung der Landschaft noch Spielraum gibt, lautet: Ja! Ich bin ein grosser Fan der Pärke, bin aber in gewissen Aspekten auch etwas kritisch. Natur und Landschaft selber generieren vieles, aber keine direkte touristische Wertschöpfung. Es sind immer die Koppelprodukte – Hotels, Restaurants oder geführte Touren –, die Arbeitsplätze und Wertschöpfung in die peripheren Gebiete bringen. In diesem Bereich fehlt mir schon ein bisschen die Innovation. Und es fehlen mir die Kooperation, die enge Zusammenarbeit und die Vernetzung, speziell im Bereich der modernen Erlebnisgestaltung. Wie mache ich aus einer schönen Landschaft ein touristisches Erlebnis? In der Frage steckt noch sehr viel Potenzial, und es gibt noch viele Möglichkeiten und Wege, die man beschreiten könnte.

Sehen Sie das ähnlich, Frau Weissen? Zu wenig Zusammenarbeit und zu wenig Erlebnisse in den Pärken?

Dominique Weissen Abgottspon: Ich finde im Gegenteil, die gute Zusammenarbeit ist eine Riesenstärke der Pärke. Landwirtschaft und Tourismus arbeiten vielerorts mit den Parkorganisationen vorbildlich zusammen. Projekte werden gemeinde- und sektorenübergreifend umgesetzt. Dass der Park eine historische Verkehrsstrasse saniert, im Einklang mit Natur und Umwelt, diese Landschaft «mit Erlebnissen bespielt» und das Ganze mit der touristischen Vermarktung koordiniert, ist doch super. Auch die Erlebnisvielfalt ist in den meisten Pärken unglaublich. Ich beobachte auch viele innovative neue Projekte, von der Familientour mit Freiberger Pferden von Hof zu Hof im Jura bis zur kulinarischen Schatzsuche «Savurando», die jetzt in einigen Pärken angeboten wird. Da verbindet sich Naturgenuss mit einem speziellen Erlebnis und mit Gesundheit und Erholung. Ich sehe bereits viele sehr gute Beispiele in den Pärken, aber natürlich gibt es immer noch Luft nach oben.

Dominique Weissen Abgottspon © regiosuisse

Jürg Schmid: Ich bin absolut einverstanden, dass es sehr viele gute Beispiele gibt. In der Summe besteht aber noch ein beträchtliches Steigerungspotenzial. Wir haben in unserer Studie1 für das BAFU alle Pärke und alle Tourismusdestinationen in deren Nachbarschaft befragt, und die Fakten sind klar: Die Vernetzung spielt noch nicht ideal. Zum Park Ela zum Beispiel finden sich auf vielen Websites der umliegenden Tourismusorganisationen noch nicht genügend substanzvolle Informationen. Aber ich bin mit Dominique Weissen einig: Die Pärke sind das Fundament für einen zukunftsweisenden Tourismus. Und die Pärke haben eine grosse Zukunft vor sich, denn der Ökotourismus als sanfte Form des Zugangs zur Natur ist eines der ganz grossen Wachstumsfelder.

Wo sehen Sie konkret das grösste Verbesserungspotenzial, Herr Schmid?

Jürg Schmid: Es gibt noch viel zu wenig individuelle Touren, die einen persönlichen Zugang zum Erlebnis schaffen. Gute Beispiele dafür sind etwa die Kristallsuche mit Ewald Gorsat im Binntal oder die vielen tollen Angebote im Val Müstair. Wir stellen weiter fest, dass es eine grosse Berührungsangst gibt von Seiten der Landschaftsfachleute gegenüber dem Premium-Reisemarkt. Alles, was nach teuer klingt, erweckt Argwohn. Nennt man dann noch das Wort «Luxus», erschreckt man buchstäblich die Leute. Das Luxussegment ist aber der grösste Wachstumsmarkt, und die Schweiz ist in diesem Premium-Markt daheim. Luxusreisende haben grosses Interesse am Ökotourismus. Umgekehrt verhält es sich nicht unbedingt gleich. Es gibt also noch ganze Segmente, die wir mit den Pärken noch nicht wirklich ansprechen und unbedingt fördern sollten – auch im Sinne einer breiteren Akzeptanz der Pärke und des Landschaftsschutzes.

Vernetzung ist ein zentrales Thema, innerhalb und ausserhalb der Pärke. Frau Roth, Sie leben in Bulle FR, direkt am Rand des grossen Regionalen Naturparks Gruyère Pays-d’Enhaut. Welche Beziehung hat die Agglomeration Bulle zu diesem Park? Wie funktioniert der Austausch?

Marie-France Roth Pasquier: Tatsächlich ist das Spezielle an unserer Agglomeration die unmittelbar vor der Haustüre liegende Natur. Wir sind eine sehr grüne und auch eine sehr touristische Region, und doch entwickeln wir uns wie eine Stadt mit Agglomeration. Dies liegt wohl unter anderem daran, dass wir uns nicht direkt im Parkperimeter befinden. Als Tourismusregion profitieren wir zwar vom Park, aber in Gruyère selbst ist der Park kein Tourismusfaktor. Das klingt ein wenig widersprüchlich. Doch ist es nun mal so, dass die Touristen nicht in erster Linie wegen des Parks die Region besuchen. Sie kommen wegen des Städtchens Gruyère, wegen des Käses und wegen der Schokoladenfabriken von Cailler und Nestlé. Es ist also nicht der Park, der den Grossteil der Touristen anzieht. Und die Touristen, die den Park besuchen und dort Ferien machen, sind nicht die gleichen Touristen, die die Schokoladenfabriken und das Städtchen Gruyère besuchen. Trotzdem profitieren die Region und die Agglomeration insgesamt vom Park.

Marie-France Roth Pasquier © regiosuisse

Wie wichtig ist die Landschaftsqualität für die Agglomeration? Ist sie ein Grund für das in jüngster Zeit starke Wachstum von Bulle und der Region Gruyère?

Marie-France Roth Pasquier: Dank unserer Landschaftsqualität können wir eine hohe Lebensqualität bieten. Wir ziehen so viele Unternehmen an, und viele Städter möchten in unserer grünen Agglomeration wohnen. Unsere Agglomerationsplanung, die aufs Jahr 2007 zurückgeht, räumt dem Schutz der Natur höchsten Stellenwert ein. Sie hat jedenfalls in unserer Region die Zersiedelung verhindert, wie sie sonst an vielen Orten mit dem Wachstum einhergeht. Unsere Agglomeration hat natürlich den Vorteil, dass sie ganz klein ist. Für die Erhaltung der Natur sorgt nun der regionale Richtplan unter dem Label «Gruyère – urban und grün». Wir möchten also unsere grüne Landschaft erhalten und bewahren, möchten uns aber auch wirtschaftlich entwickeln, und wir möchten weiterhin Gäste anziehen. Das alles zusammen ist nicht unbedingt unvereinbar, erfordert aber viel Arbeit und Fingerspitzengefühl, um ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem Landschaftsschutz und der urbanen ökonomischen Entwicklung.

Gibt es in der Agglomeration konkrete Projekte zur Förderung der Landschaft?

Marie-France Roth Pasquier: Wir wollen mit dem Agglomerationsprogramm der vierten Generation unsere bestehenden grünen Gebiete schützen und weiter ausdehnen. Zusätzlich wollen wir auch die grünen Verbindungen weiter ausbauen und vernetzen. Die Stadt Bulle hat sich zudem dem Programm «Ville verte» angeschlossen.  

Und wie funktioniert der Austausch zwischen der Agglomeration und dem Regionalen Naturpark Gruyère Pays-d’Enhaut?

Marie-France Roth Pasquier: Von unserer Seite her gibt es sehr wenig Austausch, eigentlich fast keinen. Man weiss zwar voneinander, hat aber noch nie zusammengearbeitet, obwohl der Park in die Regionalplanung integriert ist.

Wie sieht das bei den Schweizer Pärken aus? Gibt es zumindest einen Erfahrungsaustausch zwischen den Pärken und den Agglomerationen?

Dominique Weissen Abgottspon: Im Oberwallis sind das Städtische und das Ländliche eigentlich sehr gut miteinander verzahnt. Gästeumfragen haben beispielsweise gezeigt, dass viele Gäste im Landschaftspark Binn ganz aus der Nähe kommen: von Brig und Visp. Man profitiert also gegenseitig. Aber eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Agglomerationen und Pärken kenne ich nicht.

Eine engere Zusammenarbeit wäre auch zwischen den Pärken und den umliegenden Tourismusorganisationen notwendig. Wer müsste sich da zuerst bewegen?

Jürg Schmid: Beide Parteien müssen aufeinander zugehen, Steigerungspotenzial gibt es auf beiden Seiten. Die Pärke sind ja selten aus dem Tourismus entstanden. Sie haben andere Wurzeln und sind als Folge davon oftmals mit dem Tourismus nicht optimal vernetzt – dies, obwohl sie einen der weltweit grössten Tourismustrends widerspiegeln: die Sehnsucht nach Natur, nach Landschaft, nach sanfter Begehung dieser Landschaft. Viele meinen, das sei ein Low-Budget-Tourismus. Dabei handelt es sich um eines der grössten Wachstumssegmente im 4- und 5-Sterne-Hotelbereich. Der naturnahe Tourismus ist auf allen Konsumentenstufen angekommen. Umso mehr braucht es Vernetzung, damit die Inwertsetzung auch optimal erfolgt.

Jürg Schmid © regiosuisse

Ist alles nur eine Frage der besseren Organisation, wenn man das Potenzial nutzen will, ohne ihm zu schaden? Oder gibt es auch regulatorische Fragen?

Dominique Weissen Abgottspon: Die Pärke sind jung; es gibt sie ja erst seit ungefähr zehn Jahren. Als sie starteten, war das Verhältnis zu den herkömmlichen Tourismusinstitutionen noch nicht geklärt. Die Annäherungsversuche sind mittlerweile unterschiedlich weit gediehen: Es gibt Pärke mit jeweils klar abgesteckten Feldern und einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Tourismus, oft auf der Basis von Leistungsverträgen. Und dann gibt es Pärke, bei denen die Zusammenarbeit nicht optimal läuft und folglich die Synergien nicht genutzt werden können. Mittlerweile dürfte aber mehrheitlich eine gute Zusammenarbeit zwischen Pärken und Tourismusorganisationen gepflegt werden.

Welches wären die weiteren Schritte, um Landschaft für die Regionalentwicklung zu nutzen?

Jürg Schmid: Der Wissensaufbau ist ganz wichtig. Das Wissen um die Anliegen der Landschaftsfachleute ist im Tourismus zu wenig vorhanden. In den Ausbildungsprogrammen der Tourismusfachschulen ist das noch kaum ein Thema. Die Touristiker müssen noch viel dazulernen, wenn es um diese neuen touristischen Formen geht. Auf der anderen Seite müssen auch die Landschaftsfachleute generell – nicht nur in den Pärken – touristische Kompetenz aufbauen, vor allem in Bezug auf Erlebnisgestaltung und -vermittlung. Das verlangt mehr als bloss gutes Gespür. Fundiertes Wissen ist gefragt. Wir haben ausserdem unausgeschöpfte Potenziale in der Kommunikation, in der digitalen Vernetzung und bei den Kooperationssynergien. Das Konkurrenzdenken, das leider allzu oft noch existiert, hat ausgedient.

Was kann die Regionalentwicklung dazu beitragen, die Landschaft nicht nur im touristischen Sinne zu bespielen, sondern auch in ihren eigentlichen Qualitäten weiterzuentwickeln?

Dominique Weissen Abgottspon: Wichtig ist eine Regionalentwicklung, die sich wirklich an der Landschaft orientiert. Dabei spielt die Landwirtschaft eine sehr wichtige Rolle. Bei sämtlichen die Landschaft betreffenden Entscheiden ist ein langfristiges Denken wichtig. Die Landschaft ist das Kapital, und was einmal zerstört ist, wird der nächsten Generation nicht mehr zur Verfügung stehen.

Marie-France Roth Pasquier: Ich möchte an die vielen traditionellen Chalets in der Region Gruyère erinnern. Sie sind eine grosse Tourismusattraktion, doch oftmals fehlen die Mittel, um sie zu erhalten und zu renovieren. Wir mussten im Rahmen der Regionalplanung klarstellen, dass das kulturelle und bauliche Erbe eine grosse Rolle spielt, wenn wir die Landschaft in unserer Region in Wert setzen möchten. Die Renovation der Chalets ist auch ein gutes Mittel, um Dörfer ohne Baulandreserven weiterhin lebendig zu erhalten.

Jürg Schmid: Seit rund 250 Jahren bilden Natur und Landschaft das Fundament, auf dem der Tourismus wächst und gedeiht. Landschaften sind die grössten touristischen Attraktionen. Der Tourismus hat sehr oft Angst vor dem Landschaftsschutz, weil er befürchtet, in seiner Entwicklung gehemmt zu werden. In diesem Punkt muss der Tourismus wirklich noch eine Lernkurve durchlaufen und verstehen, dass seine langfristige Prosperität ganz auf dem Schutz der Landschaft gründet. Er muss seinen Beitrag leisten, indem er den Schutz voranbringt und fördert. Im Winter ist der Tourismus bisher sehr in Abhängigkeit von der Konzentration auf das wachsende Angebot der Bahnen gewachsen, mit dem Skifahren im Mittelpunkt. Realität ist aber, dass heute die sanfteren touristischen Formen schneller wachsen, allen voran das Winterwandern. Der Tourismus muss also auch erkennen, wo die Trends hingehen, und die sanfteren Formen entsprechend fördern und mehr ins Zentrum stellen. Der Tourismus sollte die Pärke «umarmen». Er darf dabei von ihnen aber auch etwas fordern.

parks.swiss

mobul.ch

1 Chance Landschaft – eine touristische Potenzialbetrachtung (im Auftrag des BAFU). Chantal Cartier, Jürg Schmid – Schmid Pelli und Partner AG. Zürich, 2021.

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Die alpine Landschaft oberhalb der Vegetationsgrenze gilt zwar offiziell als unproduktive Fläche. Doch die Gipfel, Grate und Felswände werden touristisch genutzt, als Sport- und Erlebnisraum und Ziel von Bergsteigerinnen und Bergsteigern. Rita Christen, Bergführerin und Präsidentin des Schweizer Bergführerverbandes (SBV), erklärt den Reiz und die eigentliche Faszination des Bergsteigens im Hochgebirge.

«Meine Leidenschaft für die Berge wurde mir in die Wiege gelegt, denn ich bin in Urnäsch AR, am Fusse des Säntis, aufgewachsen. Mein Vater war dort Direktor der Bergbahnen. Wir waren als Kinder oft mit den Eltern in den Bergen unterwegs. Allerdings spielten steile Felswände lange Zeit noch keine besondere Rolle in meinem Leben. Vielmehr interessierten mich unberührte Landschaften. Als junge Frau reiste ich viel, durchquerte mit dem Velo Island und war länger allein in Alaska unterwegs. Zum Bergsteigen fand ich erst später, als ich meinen Mann kennenlernte und wir beide eine neue Herausforderung suchten. Einfach nur als Juristin zu arbeiten nach dem Studium, wäre mir zu langweilig geworden. Zumal ich meinen Traumjob – am liebsten im diplomatischen Dienst oder in der Entwicklungszusammenarbeit – nicht wirklich gefunden hatte. Also absolvierten mein Mann und ich gemeinsam die Bergführerausbildung. Vor 25 Jahren zog ich, anfänglich mit gemischten Gefühlen, in die Surselva. Unterdessen ist das Bergtal zu meiner festen Heimat geworden.

Als Bergführerin bin ich mit meinen Kunden beim Felsklettern und auf Skitouren meistens in Graubünden und in Uri unterwegs. Meine absoluter Lieblingsberg ist der Salbitschijen im Göscheneralptal. Er bietet alles, was ein Kletterherz begehrt: herausfordernde Wände mit unzähligen Routen, rotgoldenen Granit, zackige Grate und ein bezauberndes Panorama aus vergletscherten Dreitausendern. Natürlich hat Klettern primär einen sportlichen Aspekt, aber das Landschaftserlebnis ist zentral, mit allen Schönheiten, Gefahren und Risiken, die dabei mitschwingen. Hinzu kommt das vielbeschworene Gipfelerlebnis. Es vermittelt ein fast spirituelles Gefühl von Weite und löst einen gewissen Suchteffekt aus. Jedenfalls würde mir etwas Wichtiges fehlen, wenn ich länger darauf verzichten müsste.

Aus ökologischen Gründen sind wir auf unseren privaten Touren fast nur in unserer engeren Heimat unterwegs. Obwohl wir natürlich gerne weiterhin auch in die Ferne reisen möchten. Doch mittlerweile ist der Klimawandel zu offensichtlich, auch bei uns in den Bergen: Klassische Eiswände verkommen zu Schutthalden, gewisse Routen sind plötzlich nicht mehr begehbar, Übergänge müssen immer aufwändiger abgesichert werden. Diese Veränderungen bereiten mir immer grössere Sorgen. Das Bergsteigen selbst hinterlässt, wenn die Beteiligten sich vernünftig verhalten, in der Natur zwar kaum Spuren. Aber der ökologische Fussabdruck des Bergsteigers ist je nach Anreise und verwendetem Material mehr oder weniger beträchtlich. Wie intensiv der alpine Raum überhaupt genutzt werden soll, wird in unserer Szene heftig diskutiert. Als Präsidentin des Bergführerverbandes setze ich mich für einen angemessenen Kompromiss zwischen Nutzen und Schützen ein mit dem Ziel, den Bergführerinnen und Bergführern einen möglichst freien Zugang zu den Bergen zu bewahren. Einig sind sich alle Beteiligten, dass in den Bergen nie ähnliche Zustände herrschen dürfen wie etwa im übernutzten Schweizer Mittelland. Dort fällt es mir schwer, Landschaft überhaupt noch wahrzunehmen, und ich kann jeweils erst dann wieder befreit aufatmen, wenn ich zurück bin in den Bergen.»

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Landschaft – Kapital einer Bergregion

Lukas Denzler

Als naturnahe Landschaft stellt das Zürcher Berggebiet rund um den Tössstock einen Kontrapunkt zur hektischen Agglomeration Zürich dar. Die ländliche Hügelregion verfügt über hohe Natur- und Landschaftswerte. Der Verein Pro Zürcher Berggebiet hat das Potenzial erkannt und sich zum Ziel gesetzt, die attraktive Landschaft zusammen mit dem Kanton Zürich im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP) vermehrt in Wert zu setzen.

Der Wanderweg führt vom Bahnhof Fischenthal ein Stück der Töss entlang, bevor er an abgelegenen Höfen vorbei und über Weiden steil zum Hüttchopf ansteigt. Dort öffnet sich der Blick zum Schnebelhorn und zum Tössstock. Bereits 1912 wurde dieses waldreiche Gebiet vom Zürcher Regierungsrat als Pflanzen- und Wildschongebiet bezeichnet. Weiter führt der Weg zur Alp Scheidegg, wo der Blick von den Glarner Alpen über die beiden Zacken der Mythen bis zu Rigi und Pilatus schweift. Im Vordergrund, sanft eingebettet in die Landschaft, der Zürichsee mit dem Seedamm.

Das Zürcher Oberland und das Tösstal bieten ideale Möglichkeiten für kürzere oder längere Wanderungen. Von Rapperswil, Wetzikon, Uster, Zürich und Winterthur her gut erreichbar, stellen sie einen Gegensatz zur hektischen Agglomeration Zürich dar. Die hohen Natur- und Landschaftswerte widerspiegeln sich nicht zuletzt darin, dass der überwiegende Teil des Zürcher Berggebiets zum Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung gehört (BLN 1420, Hörnli-Bergland).

Landschaftliche Qualitäten als Basis der Zürcher NRP

Der Verein Pro Zürcher Berggebiet und das ihm angegliederte Regionalmanagement Zürioberland haben diesen Trumpf erkannt. Zusammen mit dem Kanton Zürich möchten sie die Landschaft im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP) vermehrt in Wert setzen. Dem Verein gehören dreizehn Gemeinden an, neben zehn Gemeinden im Zürcher Oberland und im Tösstal auch die beiden Thurgauer Gemeinden Bichelsee-Balterswil und Fischingen sowie das sanktgallische Eschenbach. Aufgrund der Topografie, der touristischen Anziehungspunkte sowie der Liefer- und Wertschöpfungsketten handelt es sich um einen funktionalen Raum. Entsprechend wurde auch der NRP-Perimeter kantonsübergreifend festgelegt. Der Kanton Zürich trägt dabei die Programmverantwortung und fragt die Kantone Thurgau und St. Gallen an, sich finanziell zu beteiligen.

© regiosuisse

Für die NRP zuständig ist im Kanton Zürich das Amt für Landschaft und Natur (ALN) der Baudirektion. Grund dieser speziellen Situation ist, dass sich das Zürcher Berggebiet, das bis letztes Jahr allein das NRP-Wirkungsgebiet des Kantons ausmachte, durch hohe Landschafts- und Naturwerte auszeichnet. Die grundsätzliche Stossrichtung der NRP bestand im Kanton Zürich daher von Anfang an darin, die regionale Wertschöpfung ausgehend von den landschaftlichen Qualitäten zu steigern.

Lebensqualität als zentraler Standortfaktor

Für den Wirtschaftsraum Zürich mit seinen internationalen Unternehmen und Hochschulen, die auf hochqualifizierte Arbeitskräfte angewiesen sind, stellt die Lebensqualität einen zentralen Standortfaktor dar. Die gut erreichbaren ländlichen Räume gewinnen in diesem Zusammenhang an Bedeutung (siehe Kasten). Das Bedürfnis der Menschen nach Erholung in intakten Landschaften und idyllischer Natur als Ausgleich zum hektischen Alltag ist gross. «Somit gewinnt das landschaftliche und kulturelle Kapital des Zürcher Berggebiets an Bedeutung», folgert Daniela Waser, Geschäftsführerin des Regionalmanagements Zürioberland. Durch gezielte Angebote könne dieses zu einer qualitativen Entwicklung der Region beitragen. Bereits in der NRP-Periode 2016–2019 lancierte man das Vertragsziel «Ruhelandschaft» mit der Absicht, das Zürcher Berggebiet als Ort der Ruhe, der Zeit und der Gesundheit zu positionieren. Es ergänzte andere NRP-Schwerpunkte wie die Förderung von Tourismus und regionalen Produkten in idealer Weise.

Ein wichtiger Meilenstein war die Erarbeitung einer Grundlagenstudie des Instituts für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil zum Potenzial des Zürcher Berggebiets als «Ruhelandschaft». Die Themen «Ruhe», «Zeit» und «Gesundheit» seien gut gewählt und nähmen die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Erholung, Entschleunigung und Ausgleich auf, schreiben die Autorinnen und Autoren. Es bestehe grosses Potenzial, die vorhandenen Werte in die regionalen Wertschöpfungsketten des Zürcher Berggebiets einzubinden. «Der Bericht bestätigt, dass das Vertragsziel ‹Ruhelandschaft› vielversprechend ist und eine solide Grundlage darstellt, um nun konkrete Projekte zu entwickeln», stellt Franziska Heinrich vom ALN fest.

Blick von der Scheidegg bei Wald ZH zum Obersee und zum Alpenrand © regiosuisse

Angebote bündeln und besser sichtbar machen

Für viele Menschen ist die Landschaft eine Quelle der Inspiration. Kraftorte und Spiritualität gewinnen an Bedeutung. Im Nordosten des Zürcher Berggebiets etwa liegt das Benediktiner Kloster Fischingen, das auch Übernachtungsmöglichkeiten bietet. Es ist eine stille Oase für Kurse und Seminare und ein Geheimtipp für kulturelle Veranstaltungen.

In der aktuellen NRP-Periode geht es nun darum, konkrete Projekte anzupacken. «Wir wollen die bestehenden und die neuen Angebote bündeln und besser sichtbar machen», sagt Daniela Waser vom Regionalmanagement. Wichtig sei dabei, wie die Angebote unter dem Dach der «Ruhelandschaft» präsentiert würden. Dabei gehe es auch darum, den regionalen Akteurinnen und Akteuren und der lokalen Bevölkerung das Potenzial sichtbar zu machen, das sich mit der «Ruhelandschaft» eröffnet.

© regiosuisse

Um das Zürcher Oberland als Komplementärraum zu den urbanen Gebieten zu entwickeln, gilt es aber auch, die Vereinbarkeit von Arbeit und Wohnen zu bessern – beispielsweise mit neuen Co-Working-Spaces. «Eine Chance stellt auch das Corporate Volunteering dar», betont Daniela Waser. Diese Angebote richten sich an Firmen, die ihren Mitarbeitenden Arbeitseinsätze mit gemeinnützigem Zweck ermöglichen wollen.

Das Regionalmanagement hat das Potenzial der Landschaft erkannt. An den regionalen Akteurinnen und Akteuren liegt es nun, den Ball aufzunehmen und Angebote zu entwickeln.

prozb.ch

regiosuisse.ch/nrp

Der kantonale Entwicklungsrahmen

Mit der «Langfristigen Raumentwicklungsstrategie (LaRES)» soll der Kanton Zürich auch in Zukunft ein attraktiver Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben. Die Entwicklungsstrategie unterscheidet fünf Handlungsräume. Das Zürcher Berggebiet gehört überwiegend zum Handlungsraum «Kultur- und Naturlandschaften». Da die Siedlungsentwicklung künftig im Wesentlichen in den Stadt- und urbanen Wohnlandschaften stattfinden soll, ergibt sich für das Berggebiet mit seinen hohen Landschafts- und Natur-werten die langfristige Perspektive, sich als lebendigen Komplementärraum zu den Ballungszentren zu positionieren.

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