Regionale Produkte – eine Erfolgsgeschichte

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Nahrungs- und Genussmittel wie Obst und Gemüse, Milchprodukte, Brot, Fleisch und Wein, die mit einem regionalen Label gekennzeichnet sind, werden in der Schweiz immer beliebter. Zu verdanken ist dieser Erfolg Tausenden von Landwirtinnen und Landwirten, Lebensmitteldetailhändlern, privaten Non-Profit-Organisationen, Zwischenhändlerinnen und -händlern, handwerklichen und industriellen Verarbeitern, Logistikunternehmen und nicht zuletzt den Konsumentinnen und Konsumenten. Anteil am Erfolg haben auch verschiedene Förderprogramme der Landwirtschafts- und Regionalpolitik, mit denen der Bund und die Kantone viele Projekte entlang der gesamten regionalen Wertschöpfungskette unterstützen. Der regionale Boom hat inzwischen auch touristische Angebote und Non-Food-Produkte erfasst. Er dürfte sich weiter verstärken, zumal sich die nachhaltige regionale Produktion mit den Zielen einer zukunftsfähigen Kreislaufwirtschaft deckt.
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Der Kopfsalat im Migros-Shop in Luzern ist taufrisch. Die Etikette verrät, dass er unmittelbar vor den Toren der Stadt geerntet worden ist. Das Blattgemüse ist eines von mittlerweile rund 18’500 zertifizierten regionalen Produkten, die schweizweit im Lebensmitteldetailhandel und auf den Märkten erhältlich sind. Das Segment boomt. Gemäss der Studie «Regionalprodukte 2022» der htp St. Gallen, eines Spin-offs der Universität St. Gallen, und dem Marktforschungsinstitut LINK in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) legten die Verkäufe in diesem Bereich zwischen 2015 und 2020 jährlich um 10 Prozent zu. Der damit erzielte Umsatz dürfte die Schwelle von 2,5 Milliarden Franken überschritten haben. «Regionale Produkte sind der wachstumsstärkste Sektor im Food-Bereich», erklärt Stephan Feige, Co-Autor der Studie und Leiter der Fachstelle für authentische Markenführung an der HWZ. Das rasante Wachstum widerspiegelt die erfolgreiche Marketingstrategie der Grossverteiler Migros und Coop. Doch es basiert ebenso auf dem Engagement von Tausenden von Bäuerinnen und Bauern, die in der Produktion für den notwendigen Nachschub sorgen. «Regionalprodukte sind längst keine Nische mehr. Vom Jura über die Alpen bis ins Tessin oder vom Bodensee bis zum Genfersee – überall gibt es Erfolgsgeschichten», sagt Gabi Dörig-Eschler, Geschäftsführerin des Vereins Schweizer Regionalprodukte (VSR). Dabei erzielen die rund 2800 Produzentinnen und Produzenten, die bei ihrem Sortiment auf die VSR-Kennzeichnung als Regionalprodukt «regio.garantie» setzen, einen Umsatz von 1,7 Milliarden Franken pro Jahr.

Ein blauschimmeliges Zufallsprodukt als Auslöser

Als Wegbereiter für regionale Produkte gilt das Siegel Appellation d’Origine Contrôlée (AOC) für die kontrollierte beziehungsweise seit 2011 Appellation d’Origine Protégée (AOP) für die geschützte Ursprungsbezeichnung. Dieses Siegel für die geografische Herkunft bestimmter Spezialitäten blickt auf eine lange Geschichte zurück. Bereits im 15. Jahrhundert erhielten in Frankreich die Bewohnerinnen und Bewohner von Roquefort ein königliches Monopol für die Herstellung des legendären Blauschimmel-Käses aus dem Zentralmassiv. 1925 wurde dieses Produkt per Dekret gesetzlich geschützt. Viele europäische Länder handeln inzwischen bei ihren berühmtes­ten regionalen Spezialitäten nach französischem Vorbild. Sie kennzeichnen sie entweder mit dem Qualitätszeichen AOC oder mit IGP (Indication géographique protégée/geschützte geografische Angabe).

1999 lancierte die Migros-Genossenschaft Luzern mit «Aus der Region. Für die Region» ein eigenes regionales Programm. Bald übernahmen andere Migros­Genossenschaften das Konzept. 2005 zogen Volg mit «Feins vom Dorf» und 2014 Coop mit «Miini Region» nach, worauf als nächste Detailhändler 2016 die Landi («Natürlich vom Hof»), im Sommer 2022 Aldi mit «Saveurs Suisses» und wenig später Lidl Schweiz mit «Typisch» auf den Zug aufsprangen. Bei den Regio­nalprodukten abseitszustehen, kann sich heute keine Händlerin, kein Händler mehr leisten.

Die Treiber der Entwicklung

Der Boom beruht auf mehreren Faktoren. Stephan Feige erklärt: «Regionalität liegt bei einem rasch wachsenden Teil der Bevölkerung im Trend. Ein Grund dafür ist die Suche nach Authentizität und Herkunft, auch als Reaktion gegen die Globalisierung.» Die Konsumentinnen und Konsumenten verknüpfen mit den regionalen Produkten Qualität und Identität, ausserdem ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Vor allem Frauen assoziieren laut der HWZ-Studie damit überdies Werte wie soziale Wertschöpfung, Fairness und Tierwohl. Ein weiteres Argument ist die Rückverfolgbarkeit der Produkte, die dank Transparenz und der Nähe zum Produzenten Ver­ trauen schafft. Die Metzgerei Meaty in Genf und Lausanne beispielsweise verkauft ausschliesslich Fleisch von Landwirtschaftsbetrieben aus der Umgebung. Die meist urbane Kundschaft kann sich via Website über die Tierhaltung bis ins letzte Detail informieren. Die Regionalität stösst auf grosse Zahlungsbereitschaft bei den Konsumenten und Konsumentinnen. Laut HWZ-Studie sind sie bereit, für Eier, die von Hennen aus der Region kommen, 45 Prozent mehr zu zah­len. Regionales Gemüse darf 30 Prozent, Hartkäse 20 Prozent teurer sein.

Die Erfolgsgeschichte der Regionalprodukte lässt sich nicht ohne die vielen weiteren Akteurinnen und Akteure entlang der gesamten Wertschöpfungskette erzählen. Entscheidenden Support leisten neben einigen Non-Profit-Organisationen verschiedene Förderprogramme des Bundes. Eine führende Rolle nimmt das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) ein. Es unterstützt Projekte zur Regionalen Entwicklung (PRE), an denen die Landwirtschaft massgeblich beteiligt ist. Ausserdem fördert es Qualität und Nachhaltigkeit im Rahmen einer eigens dafür entwickelten Verordnung (QuNaV). Das BLW unterstützt auch Projekte über den 1999 lancierten Nationalen Aktionsplan zum Erhalt und zur nachhaltigen Nutzung der pflanzengenetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (NAP-PGREL). Schliesslich fördert es den Erhalt tiergenetischer Ressourcen – ein Überlebensprogramm für zurzeit fünfundzwanzig alte Nutztierrassen. Auch beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) ist die Förderung regionaler Produkte ein Schwer­punktthema, und zwar in Zusammenarbeit mit den Kantonen im Rahmen der Neuen Regional­politik (NRP) und über das Tourismusförderprogramm Innotour. Schliesslich zielt der Bund auch mit dem Produktelabel der Pärkepolitik sowie einzelnen «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung» auf die Stärkung der Regionalprodukte ab. Weil regionale Wertschöpfung bei vielen dieser Programme im Zentrum steht, finanzieren die Kantone viele dieser Projekte subsidiär mit.

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Langzeitprojekt «regionale Dachmarke»

Die verschiedenen Förderprogramme mögen sich gelegentlich inhaltlich überlappen. Trotz­ dem hat jedes Instrumentarium seinen unverwechselbaren Charakter. Die QuNaV beispielsweise zielt auf bessere Produktions-­ und Qualitätsstandards ab. Entsprechende Projekte werden über alle Stufen der betreffenden Wertschöpfungskette unterstützt. Zu den Bedingungen gehört, dass sie Modellcharakter für die gesamte Branche haben, die Marktchancen für die Landwirtschaft und die nachgelagerten Branchen verbessern sowie die landwirtschaftliche Wertschöpfung in der Region erhöhen. Zahlreiche innovative Produkte aus der Land­ und Ernährungswirtschaft verdanken der Starthilfe aus dem QuNaV­-Topf ihre (Wieder­)Geburt, beispielsweise Bio­-Soja, Bio­-Weidemilch, Brennnessel-Produkte, Fleisch von Schweizer Hennen, Quinoa, Trüffel oder Wildbeeren. Daneben gibt es QuNaV­-Projekte, die auf Infrastrukturen oder die Verbreitung nachhaltiger Technologien ausgerichtet sind, etwa jene, Pilze bei Reb­- und Beerenkulturen mittels UV-­C­-Licht zu bekämpfen. Die NRP fokussiert vor allem auf vorwettbewerbliche Massnahmen, die Wertschöpfung in die Region bringen. Auffällig sind dabei Projekte zur Vernetzung von Akteurinnen und Akteuren, die meist im Rahmen einer Gesamtstrategie umgesetzt werden, etwa die «Förderung Regional­ produkte Berner Oberland» (Projektbeginn: 2017) oder die «Wertschöpfungskette natürli-Regio­nalprodukte» (2020 ZH/TG). Auch die Plattform «food & nutrition» ist aus einem NRP-Projekt ent­standen. Sie vernetzt im Kanton Freiburg alle Personen, die an der Produktion und Verarbeitung nachhaltiger Lebensmittel interessiert sind. Der Trägerverein soll auch die kreislauffähige Lebensmittelstrategie umsetzen, die der Kanton 2021 verabschiedet hat.

Fördergelder für Verarbeitung und Vermarktung

Bei den Förderprogrammen steht die Landwirtschaft im Zentrum, mitsamt den nachgela­gerten Bereichen. Besonders gross erscheint der Investitionsbedarf in der Verarbeitung. Dies ver­deutlichen Vorhaben wie der Bau des regionalen Schlachthofs in Klosters­-Serneus oder die neue Produktionsanlage für Rohziger der Glarner Milch AG. Letztere, ein 2017 abgeschlossenes 10-Millionen­Franken­-Projekt, umfasst unter anderem ein Käsereifungslager und eine Erlebniskäserei. Das Projekt wurde vom Bund im Rahmen eines PRE mit 2,17 Millionen Franken unterstützt.

Ein häufiges Thema bei vielen Projekten ist die Vermarktung. Dabei geht es sowohl um neue, digitale als auch um wiederbelebte, traditionelle Promotions­ und Vermarktungskanäle. Das Projekt «Konzept Hofladen Willisau» wurde 2022 als NRP-Projekt lanciert. «Alpomat – der kleinste Hofladen der Stadt Zürich» startete 2017 als QuNaV-Projekt. Regionale Distributionska­näle fördert auch die Post – digital und physisch: Über die Plattform «Local only» können Produ­zentinnen und Produzenten ihre regionalen Produkte online verkaufen. Die Post übernimmt die Logistik – ohne Extrafahrt, indem sie die bestellte Ware zusammen mit der normalen Briefpost der Bevölkerung an die Haustüre bringt.

Mit Holz wäre fast alles möglich

Viel regionales Potenzial schlummert in der Wertschöpfungskette Holz. In den vergangenen Jahren haben verschiedene Kantone eigene Förderprogramme gestartet, angestossen unter ande­rem von der NRP und vom Aktionsplan Holz des Bundes. Dieser unterstützt seit 2009 Projekte, die sich mit dem Rohstoff Holz und seiner Verwertung auseinandersetzen. Ein aktuelles Ergebnis dieser Bemühungen ist die Interessengemeinschaft Truberwald, gegründet von Waldbesitzern, Landwirten, Forstwarten, Zimmerleuten und Schreinern. Sie realisierten 2022 mit der Turnhalle in Trub BE ein Vorzeigeprojekt. Der Bau ist ausschliesslich aus Holz aus dem Truber Wald gefertigt. «Jede Leiste, jede Rostlatte, selbst die Akustikdecke – alles ist aus regionalem Holz», verrät Samuel Zaugg, Forstwart und Mitgründer der IG Truberwald. Diese wirkte bei der Beschaffung als Dreh- und Angel­punkt. Die Erfahrungen aus dem Turnhallenbau fliessen nun in das eigentliche Geschäftsmodell der IG ein, interessierten Bauherren alle logistischen und organisatorischen Informationen rund ums Bauen mit regionalem oder eigenem Holz zu vermitteln. Die eigentliche Herausforderung liege darin, die Konsumentinnen und Konsumenten so weit zu bringen, dass sie konsequent nach Schweizer Holz verlangten, betont Zaugg, denn «heute ist mit Holz auf dem Bau fast alles möglich».

Lange Zeit lag auch das Potenzial der regionalen Zusammenarbeit zwischen der Landwirt­schaft und dem Tourismus brach. Mittlerweile ist aber einiges in Bewegung geraten. «Genuss aus Stadt und Land» ist ein strategisch ausgelegtes PRE, mit dem seit 2017 im Grossraum Basel neue Formen der regionalen Produktion und der Kooperation zwischen Landwirtschaft, Gastronomie, Hotellerie und Detaillisten entwickelt werden sollen. In der Region Biel/Seeland verbindet ein 2020 lanciertes NRP-Projekt mit Murten Tourismus als Kooperationspartner «touristische Erleb­nisse mit regionaler Kulinarik». Die Bemühungen der Region Jura, mit Mitteln der Agrar-­, Regio­nal­- und Tourismuspolitik regionale Wertschöpfungsketten aufzubauen, haben das BLW und das SECO Ende 2022 mit der erstmaligen Vergabe des «Cercle Régional» ausgezeichnet.

Nicht zu vergessen ist zudem die seit rund zehn Jahren laufende Partnerschaft zwischen dem Netzwerk Schweizer Pärke und Coop. Die Mischung aus sanftem Tourismus, Natur und extensiver Landwirtschaft kommt bei Konsumentinnen und Konsumenten gut an. Coop verkauft in den jewei­ligen Verkaufsregionen von Jahr zu Jahr mehr regionale Park-Spezialitäten.

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Blick in die Zukunft

Soll sich der Boom der Regionalprodukte fortsetzen, bedarf es weiterer Anstrengungen auf sämtlichen Stufen der Wertschöpfungskette. «Klar ist ausserdem, dass es für Kundinnen und Kunden künftig noch einfacher werden muss, regionale Produkte im Laden einzukaufen», ist Stephan Feige überzeugt. Beträchtlichen Spielraum sieht er vor allem für kleine, spezialisierte Händlerinnen und Händler.

Über die Produkt­ und Angebotspalette hinaus gewinnen grundsätzlich die Kriterien der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit, der Kreislaufwirtschaft und der Biodiversität immer mehr Gewicht. «Konsumenten achten nicht einfach bloss auf die regionale Herkunft; Tierwohl, Artenvielfalt und die Umwelt liegen ihnen ebenso sehr am Herzen», so Feige. Diesen Aspekten soll künftig auch in den Förderprogrammen noch mehr Gewicht beigemessen werden. So wer­ den etwa Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft verstärkt in die nächste Programmperiode, NRP24+, einfliessen. Die Stärkung kurzer Versorgungswege für ein resilientes Ernährungssystem bleibt ein wichtiges Element in der künftigen Ausrichtung der Agrarpolitik. Nachhaltige regionale Ernäh­rungssysteme, von der Produktion bis zum Konsum, können die langfristige Ernährungssicherheit der Schweiz nachhaltig voranbringen. Die Regionen können dabei als «Zukunftslabors» für ein nachhaltiges Ernährungssystem der Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Was ist wirklich regional?

Die «Region» ist weder politisch noch geografisch ein klar definierter Begriff. Entsprechend versuchen die Detailhändler, mit eigenen Labeln und nach eigenen Kriterien ihre jeweiligen Regionalprodukte in diesem Markt zu positionieren. Dagegen bemühen sich verschiedene Organisationen, mittels einheitlicher Richtlinien Licht in den regionalen Label-Dschungel zu bringen und den Konsumentinnen und Konsumenten die Orientierung zu erleichtern.

Pirmin Schilliger Luzern

Die Schweizerische Vereinigung AOP-IGP (Appellation d’Origine Protégée/Indication Géographique Protégée) vertritt die Interessen aller Branchenorganisationen, die unter diesen Siegeln regionale Produkte vermarkten. Der Unterschied zwischen ihnen: Bei AOP-Spezialitäten muss vom Rohstoff über die Verarbeitung bis hin zum Endprodukt alles aus der definierten Ursprungsregion sein; bei IGP-Spezialitäten genügt es hingegen, wenn sie in der Ursprungsregion entweder erzeugt, verarbeitet oder veredelt worden sind. Die offizielle Liste der Schweiz umfasst aktuell 25 AOP- Produkte und 16-IGP-Spezialitäten, darunter viele Käsesorten, Wurstspezialitäten und einige Obstbranntweine, aber auch Walliser Roggenbrot oder die Zuger Kirschtorte. Die Schweiz ist im Rahmen des bilateralen Agrarabkommens mit der EU dem europaweiten AOP-IGP-System angeschlossen. Die von beiden Seiten anerkannte Liste mit einigen hundert geschützten Produkten wird regelmässig aktualisiert. Die jüngsten registrierten Produkte für das AOP-Gütesiegel sind die Schweinefleischwurst «Boutefas» und der Beinschinken «Jambon de la Borne» aus dem Kanton Waadt und dem Kanton Freiburg und das Walnussöl «Huile de Noix vaudoise». Verantwortlich für die Zulassung in der Schweiz ist das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), das das Register auch mit der EU koordiniert.

ProSpecieRara als Pionierin

Zu den eigentlichen regionalen Pionieren in der Schweiz gehört die Stiftung ProSpecieRara (PSR), die gerade ihr 40-Jahr-Jubiläum fei- ern kann. Hauptsächlich ihr Verdienst ist es, dass hierzulande – vom Appenzeller Spitzhaubenhuhn bis zur Stiefelgeiss – 38 seltene Nutztierrassen und rund 4800 Nutz- und Zierpflanzensorten vor dem Aussterben gerettet werden konnten. PSR arbeitet mit vielen Landwirtinnen und Landwirten, mit dem BLW, der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Wädenswil (ZHAW), gemeinnützigen Organisationen und dem Detailhandel zusammen. Ausserdem agiert PSR als Schnittstelle zur SAVE Foundation, die sich im europäischen Rahmen für den Erhalt der Biodiversität engagiert.

Ein kommerziell erfolgreiches Nutzungsbeispiel alter «tiergenetischer Ressourcen» ist die Wertschöpfungskette «Pro-Montagna Bio- Gitzifleisch». Daran beteiligt sind Bündner Bergbauern, der Schweizer Ziegenzuchtverband, die Metzgerei Zanetti in Poschiavo GR und Coop. Ein anderes Projekt von PSR mit Coop als Partnerin nennt sich «Simmentaler Original». Als Resultat der Kooperation mit PSR finden sich in den Regalen von Coop zudem mehr als hundert traditionelle, vom Aussterben bedrohte Kulturpflanzensorten, etwa die «halblange Turga», eine Sorte der in Mitteleuropa weit verbreiteten Pastinaken. Über die Plattform stadttomaten können Hobbygärtnerinnen und -gärtner bei Coop ausserdem seltene Tomaten-, Peperoni- und Salatsamen beziehen und auf dem eigenen Balkon zum Spriessen bringen.

Koordinationsbemühungen

Die wichtigsten Mitglieder des 2015 gegründeten Vereins Schweizer Regionalprodukte (VSR) sind die vier Vermarktungsorganisationen alpinavera (mit Regionalprodukten aus den Kantonen GR, UR, GL und TI), Culinarium (Ostschweiz), Das Beste der Region (Zentral- und Nordwestschweiz, JU, BE, SO) und regio.garantie Romandie (Westschweiz und Berner Jura). Als Dachorganisation repräsentiert der VSR über 18 500 regionale Produkte aus der ganzen Schweiz, die mit «regio.garantie» gekennzeichnet sind. Der VSR konzentriert sich auf einheitliche Qualitätsstandards nach klaren Richtlinien und sorgt für einen sauberen Vollzug. Demgemäss müssen unter anderem mindestens zwei Drittel der Wertschöpfung sowie die Produktions- und Verarbeitungsschritte, die die Eigenschaften des Produkts bestimmen, in der jeweiligen Region stattfinden.

Trotz aller Koordinationsbemühungen des VSR existieren weiterhin verschiedene Labels, die Regionalität kennzeichnen: Die Migros tut dies mit einer eigenen regionalen Etikette, auf der zusätzlich oft auch der Name der Produzentin oder des Produzenten steht. Coop hingegen markiert in der Regel lediglich die Regale mit dem Regionen-Label. Trotzdem heisst es auch bei Coop: «Alle regionalen landwirtschaftlichen Zutaten und jedes Produkt müssen bis zum Ursprungsort rückverfolgbar sein.»

Gemäss der Studie «Regionalprodukte 2022» der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) möchten die Konsumentinnen und Konsumenten in jedem Fall wissen, aus welcher Region die Rohstoffe kommen, wo sie verarbeitet werden und welchen Weg sie zurückgelegt haben. «Bei den heutigen Labels ist das alles jedoch längst nicht immer klar», stellt Stephan Feige, Co-Autor der Studie, fest. In der Praxis legen die Detailhändler wichtige Kriterien – wie etwa den regionalen Perimeter – meist nach eigenem Gutdünken fest. Sie hoffen auf das Vertrauen ihrer Kundinnen und Kunden, und dies nicht zu Unrecht. «Wenn auf der Verpackung ‹regional› steht, wird das in der Regel auch geglaubt», meint Feige. Zudem möchte sich kaum jemand vor den Regalen durch mehrseitige schriftliche Label-Richtlinien kämpfen müssen.

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Klärungsbedarf

Fazit: Der gemeinsame Nenner der regionalen Marken beschränkt sich darauf, dass sich zum Verkauf angebotene Ware einer bestimmten Region zuordnen lässt. Nach welchen genaueren Vorschriften und Kriterien dies erfolgt, ist aber von Label zu Label unterschiedlich. Die Definition der Region selbst bleibt dehnbar: So formuliert das Coop-«Miini-Region»-Reglement umständlich: «Eine Region ist ein geografisch bestimmter Raum mittlerer Grössenordnung, das heisst zwischen lokaler beziehungsweise kommunaler und nationaler Ebene, der als zusammengehörig angesehen wird, sich also anhand bestimmter Merkmale von anderen abgrenzen lässt.» Coop-Sprecher Caspar Frey versucht klarzustellen, dass Coop in Bezug auf Wertschöpfung sowie die Produktions- und Verarbeitungsschritte den VSR-Vorgaben folgt. Dies gilt auch für die Migros, obwohl diese Bestimmungen laut Mediensprecherin Carmen Hefti «die Verfügbarkeit der regionalen Produkte in der Alltagspraxis zuweilen arg limitieren». Feige erklärt: «Es gibt den Begriff ‹regional›, gleichbedeutend mit ‹ist von hier› – da will der Konsument zum Produzenten gleich um die Ecke. Daneben gibt es aber auch regionale Produkte wie die Waadtländer Saucisson oder die Basler Läckerli, die nicht nur vor Ort, sondern in der ganzen übrigen Schweiz als berühmte regionale Spezialitäten wahrgenommen werden.» Eine einheitliche Definition von Regionalität unter einem einzigen Label würde solchen Unterschieden und dem Charakter der einzelnen Produkte wohl kaum gerecht, gibt Feige weiter zu bedenken. Wenig sinnvoll wäre es also, für verarbeitete Produkte wie Wein, Hartkäse, Gebäck oder eine weit über ihre Ursprungsregion hinaus bekannte Rauchwurst die gleichen regionalen Kriterien anzuwenden wie für frisches Gemüse oder Eier aus der näheren Umgebung.

Kein Wunder, ist es bis heute nicht gelungen, dieses Definitionsdilemma aus der Welt zu schaffen, obwohl es die Konsumentinnen und Konsumenten ziemlich verunsichert. «Alle müssen bereit sein, ein einheitliches nationales Regelwerk zu pflegen», betont VSR- Geschäftsführerin Gabi Dörig-Eschler. «Und», schiebt sie nach, «die Glaubwürdigkeit unseres Regelwerks ist das eigentliche Fundament des Erfolgs.»

Regionalprodukte – stark in der Nische, mit Potenzial für weiteres Wachstum

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Was steckt hinter dem Erfolg der Regionalprodukte? Und wie steht es um deren Zukunftsaussichten? Diese und weitere Fragen diskutierten eine Expertin und zwei Experten am Round Table von «regioS»: Eliane Kern, Verantwortliche für Kommunikation und Events von «Feld zu Tisch», einer B2B-Vermarktungsplattform für Regionalprodukte im Raum Basel, Peter Stadelmann, Verantwortlicher für die Regionalprodukte der UNESCO-Biosphäre Entlebuch, und Urs Bolliger, Geschäftsführer und Leiter Märkte von «Culinarium», dem Trägerverein der Marke «regio garantie» in der Ostschweiz.

Steile Zuwachsraten in den letzten zehn Jahren belegen die eindrückliche Erfolgsgeschichte der Regionalprodukte. Welchen Anteil haben die Fördergefässe des Bundes wie die Neue Regionalpolitik (NRP), die Projekte Regionale Entwicklung (PRE) der Landwirtschaftspolitik oder die Tourismusförderung von Innotour?

Urs Bolliger: Die dem Verein Schweizer Regionalprodukte (VSR) angeschlossenen Marken, also auch wir von «Culinarium» in der Ostschweiz, profitieren vor allem vom Absatzförderungsprogramm des Bundesamtes für Landwirtschaft (BLW), das seit 2001 läuft. In den entsprechenden Projekten handelt es sich schwerpunktmässig um Marketing- und Kommunikationsmassnahmen, wobei jeweils zwischen 30 und 50 Prozent der eingesetzten Mittel vom Bund stammen.

Eliane Kern: Auch beim Aufbau von «Feld zu Tisch» ist die Unterstützung durch das BLW über das Projekt zur Regionalen Entwicklung (PRE) «Genuss aus Stadt und Land» massgebend.

Peter Stadelmann: Als Biosphäre-Reservat Entlebuch sind wir primär Teil der Pärkepolitik, für die das Bundesamt für Umwelt (BAFU) zuständig ist. Dieses unterstützt die Pärke zwar nicht bei der Produktentwicklung. Trotzdem profitieren auch wir von Bundeshilfen, und zwar über die erwähnten Fördergefässe des BLW. Besonders wichtig ist die PRE-Unterstützung beim Aufbau der «Biosphäre Markt AG» als Vermarktungsplattform für die Region. Ohne die staatliche Hilfe wäre es kaum möglich gewesen, diese Organisation auf die Beine zu stellen und auf dem Markt zu positionieren.

Peter Stadelmann © regiosuisse

Welches ist Ihre eigene, bislang grösste regionale Erfolgsgeschichte?

Eliane Kern: Wir konnten in den letzten zwei Jahren in der Region Basel ein Netzwerk aufbauen, unter anderem mit einem Format, das wir «Speed Dating» für den regionalen Direkthandel nennen. Mit diesem Format kommen Produzentinnen und Produzenten mit Abnehmerinnen und Abnehmern zusammen und lernen sich kennen, sodass die gewünschten Handelsbeziehungen beinahe automatisch entstehen. Da treffen sich etwa die Betreiber eines Lokalladens in Basel, die mit regionalen Produkten handeln, mit einer Tempeh-Produzentin in Liestal BL oder einem Produzenten von Kichererbsen in Wenslingen BL, um nur zwei Beispiele von vielen direkten Geschäftsbeziehungen zu erwähnen. Auch die runden Tische, die wir regelmässig veranstalten, um unsere Ideen und Werkzeuge weiterzuentwickeln, stossen auf grosses Interesse. Wir erfahren dabei im Gespräch mit Produzentinnen und Abnehmern von ihren unmittelbaren Bedürfnissen, etwa in Bezug auf die technischen Anforderungen, und wir können dann umso zielgerichteter handeln.

Peter Stadelmann: Aus Sicht der Biosphäre Entlebuch ist der Aufbau der Markt AG der wichtigste Meilenstein der letzten Jahre. Die Organisation ist für die Regionalproduzenten zum entscheidenden Türöffner geworden, um mit den Grossverteilern ins Geschäft zu kommen. Eine zentrale Stelle ist das A und O, um in diesem Bereich Absatz zu generieren. Die Grossverteiler möchten schliesslich nicht mit jedem Käser und jedem Metzger individuell verhandeln müssen. Die Schwelle zur Zusammenarbeit wird deutlich niedriger, wenn es dafür eine Ansprechperson für die gesamte Region gibt. Neben dieser eher organisatorischen fallen mir verschiedene weitere Erfolgsgeschichten mit einzelnen Produkten ein. Ich denke zum Beispiel an Urdinkel, mit dessen Anbau wir vor vierzehn Jahren auf Initiative eines Verarbeiters begonnen haben. Mittlerweile blüht diese Kultur in der Region, nicht zuletzt, weil alle Abnehmer – also der Müller, Bäcker, Teigwarenhersteller – und die Endverbraucherinnen und -verbraucher bereit sind, den Mehrpreis zu bezahlen, den es aufgrund der höheren Produktionskosten in unserer Höhenlage einfach braucht.

Urs Bolliger: Zentral und entscheidend für unsere Erfolgsgeschichte ist die Zusammenarbeit mit der Migros, die schon vor Jahren das Programm «Aus der Region, für die Region» lanciert hat. Wir arbeiten mit der Migros Ostschweiz seit 2003 zusammen, und ähnlich ist die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern unserer Dachorganisation im Verein Schweizer Regionalprodukte (VSR) mit den weiteren Migros-Genossenschaften in der ganzen Schweiz. Dass die Migros mit uns zusammen Regionalität definiert hat und dass die Richtlinien von allen Beteiligten respektiert werden, erachte ich als einen sehr grossen Meilenstein. Wenn man sich die Umsatzstatistiken anschaut, dann ist definitiv die Migros mit dem Programm «Aus der Region, für die Region» der eigentliche Absatztreiber.

Urs Bolliger © regiosuisse

Trotz allen Erfolgsgeschichten mussten Sie auch Lehrgeld zahlen. Wo zum Beispiel?

Urs Bolliger: Schwieriger als mit dem Detailhandel ist die Zusammenarbeit mit der Gastronomie. Die Gastronomie wurde von der ganzen Corona-Geschichte richtiggehend durchgeschüttelt. Zudem steht sie schon lange unter heftigem Preisdruck, sodass wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie wir mit einem vernünftigen Aufwand zusammenarbeiten könnten. Es finden sich zwar einzelne Gastrobetriebe, die länger schon intensiv mit Regionalprodukten arbeiten. Leider aber gibt es eine grosse Anzahl Betriebe, die über die Speisekarte den Anschein zu erwecken versuchen, ein bisschen auf regionale Produkte zu setzen. Sieht man genauer hin, sind die meisten Angebote auf dem Teller alles andere als regional.

Eliane Kern: Auch in der Region Basel beschäftigt uns die Frage, wie wir mit der Gastronomie besser zusammenarbeiten könnten. Viel Lehrgeld mussten wir ausserdem bei der Entwicklung der Software für unsere B2B-Plattform zahlen. Wir haben uns dies einfacher vorgestellt und gehofft, auf eine bereits bestehende Lösung zurückgreifen zu können. Mittlerweile sind wir in der Rolle, dass wir auf nationaler Ebene eine Eigenentwicklung anstossen, also eine Open-Source-Lösung, die von ähnlichen Projektträgern ebenfalls genutzt werden kann. Zu schaffen machen uns auch die Nachhaltigkeit und die vergleichsweise hohen Kosten der kleinteiligen Lebensmittellogistik.

Herr Stadelmann, wo liegen die Stolpersteine im Entlebuch?

Peter Stadelmann: Damit der Aufbau der Markt AG nicht zum Stolperstein wurde, brauchte es viele Gespräche, und wir benötigten sehr viel Feingefühl. Wir mussten zum Beispiel die Käsereien, die bisher sehr selbständig agiert und ihre eigene kleine Marke aufgebaut hatten, für unser Anliegen gewinnen. Für die einzelne Käserei bedeutete dies, dass sie einen grossen Teil der Marktverantwortung an die neue Organisation, die Markt AG, abgeben musste, die fortan die Koordination und den Verkauf übernahm. Diese Veränderung ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, bei dem nicht alles reibungslos funktioniert. Unser einheitlicher Auftritt heisst für den einzelnen Betrieb, dass er seine eigene Unternehmensmarke zurückstellen muss. Ausserdem muss er in der Vermarktung plötzlich mit Betrieben zusammenarbeiten, die er bislang vor allem als Konkurrenten wahrgenommen hat.

Läuft es mit der Gastronomie im Entlebuch besser als etwa in der Ostschweiz oder in Basel?

Peter Stadelmann: Nein, die Gastronomie ist auch hier im Entlebuch ein hartes Brot. Der Preiskampf ist heftig, und die vielen Kleinproduzenten in unserer Region können die Nachfrage etwa bei Grossbanketten nicht immer abdecken. Ausserdem ist die Bereitschaft der Gastronomen wie auch der Gäste gering, sich beim Essen nicht nur auf Steaks und Schnitzel einzulassen, sondern auf die Verwertung des ganzen Tieres. Es braucht generell ein Umdenken, damit auch mal ein regionales Nichtedelstück auf der Menükarte landet.


Eliane Kern: Die Preissensitivität ist in der Gastrobranche tatsächlich ausschlaggebend dafür, wo die Lebensmittel letztlich eingekauft werden. Hinzu kommen Kriterien wie Praktikabilität und Effizienz des Marktplatzes. Wie sind die Lieferzyklen? Wie lange dauert es von der Bestellung bis zur Anlieferung? Wie ist die Verfügbarkeit des Angebotes? Wie zuverlässig und effizient funktioniert die Lieferkette? Wir können auf unserem B2B-Marktplatz zwar einiges gewährleisten, müssen aber einräumen, dass gewisse Herausforderungen von einem grösseren Handelsbetrieb einfacher zu bewältigen sind als von einer kleinteiligen Logistik.

Eliane Kern © regiosuisse

Gibt es für diese Fälle überhaupt vernünftige Lösungsansätze?

Urs Bolliger: Man muss die Relationen im Auge behalten. Regionalprodukte werden in den Medien zwar gehypt, aber Gäste, die im Restaurant explizit danach fragen, bleiben eine Minderheit. Wir sprechen von einem Marktanteil zwischen 5 und 10 Prozent, den die Regionalprodukte über alle Verkaufskanäle hinweg insgesamt besetzen. Ein ähnliches Phänomen habe ich schon mehrere Male erlebt beim «Bio». Wenn man den Durchschnittskonsumenten fragt: «Was denkt ihr, wie hoch ist mittlerweile der Anteil Bio am Verkauf?», lautet die Antwort: «Sicher 50 Prozent.» Tatsächlich liegt der Marktanteil von Bio-Produkten zwischen 15 und 18 Prozent. Die Wahrnehmung des Konsumenten entspricht nicht seinem tatsächlichen Konsumverhalten. Das fällt mir besonders auf, wenn ich mit Metzgereien rede, die auch ein Catering betreiben. Beim Catering scheint es zwar erwünscht, Regionalprodukte im Angebot zu haben. Aber kaum jemand ist bereit, Regionalität explizit einzufordern. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir mit Regionalität eine Nische besetzen. Der Lösungsansatz müsste sein, dass wir uns auf diese Nische fokussieren und dort versuchen, erfolgreich zu arbeiten mit zuverlässig funktionierenden Konzepten. Wir können aber nicht erwarten, dass die Bäume in den Himmel wachsen.

Regionalprodukte haben also nur geringe Chancen auf dem Massenmarkt?

Urs Bolliger: Die gute Zusammenarbeit mit der Migros zeigt, dass wir im Detailhandel durchaus mit Klasse und Masse punkten können. Wir sprechen hier von rund 1 Milliarde Franken, die die Migros mittlerweile jährlich über den Kanal «Aus der Region, für die Region» umsetzt. Darüber hinaus arbeiten wir mit weiteren Detailhändlern zusammen. Jüngstes Beispiel ist Aldi Suisse mit der Marke «Saveur Suisse». Aktuell sind wir mit weiteren Detailhändlern im Gespräch, und es zeichnen sich weitere Absatzmöglichkeiten in anderen Bereichen ab. So haben die SBB die Bewirtschaftung ihrer rund 4000 Automaten in diesem Jahr neu ausgeschrieben mit der Bedingung, dass mindestens 10 Prozent der Artikel Regionalprodukte sein müssen. Das hat dazu geführt, dass uns ein grosser Automatenbetreiber kontaktiert hat, der nun von den SBB für die nächsten Jahre den Zuschlag erhalten hat. Es gibt also weitere Absatzkanäle, über die noch mehr echte Regionalität zum Konsumenten fliessen kann.

Frau Kern, wie beurteilen Sie die Möglichkeiten, in einen breiteren Markt vorstossen zu können?

Eliane Kern: Wir suchen derzeit sehr gezielt den Kontakt mit der Gemeinschaftsgastronomie. Ob uns die gewünschte Absatzerhöhung in diesem Segment gelingen wird, hängt jedoch vom Ausbau unserer Produktionsinfrastruktur ab. Gefragt sind in diesem Fall vorgerüstete Produkte mit einem höheren Convenience-Grad. Wir gehen bei der Umsetzung schrittweise vor und versuchen mittels Marktanalysen herauszufinden, was wirklich funktionieren kann.

Wie kommt die Biosphäre Entlebuch in diesen breiteren Markt?

Peter Stadelmann: Hätten wir das Rezept, mit Regionalprodukten den Massenmarkt zu erobern, würde ich es nicht verraten. Letztlich ist unsere Arbeit ein stetes Strampeln mit kleinen Projekten. Der Kanton Luzern als bisher tierintensiver Kanton startet neuerdings eine Bio-Kampagne und eine Offensive für Spezialkulturen. Hier suchen wir aktuell die Zusammenarbeit, allerdings im Bewusstsein, dass wir uns auch in diesem Bereich in einem Verdrängungskampf befinden. Aus meiner Sicht ist es entscheidend, dass man die speziellen Produkte, die eine Region zu bieten hat, auf dem Markt an richtiger Stelle zu platzieren versucht. Wir im Entlebuch sind ein Grasland, Bergzone 1 und höher – da unterliegen wir bezüglich Vielfalt und Produktivität starken Einschränkungen. Umso wichtiger scheint mir das Denken in Richtung von noch mehr Qualität statt Quantität. Wir müssen uns mit unseren Regionalprodukten so abheben, dass wir in jeder Beziehung einzigartig sind.

Konsumentinnen und Konsumenten stellen sich unter «regional» kurze Wege, Nachhaltigkeit, gesunde Produkte und oft auch «Bio» vor. Können die Produzentinnen und Produzenten diese Erwartungen erfüllen?

Urs Bolliger: Laut Umfragen erwarten die Konsumentinnen und Konsumenten vom Regionalprodukt nicht zwingend auch «Bio». Jedoch ist es eine Tatsache, dass der Konsument manchmal zu viele positive Argumente in die Regionalprodukte hineininterpretiert. Grundsätzlich geniessen Regionalprodukte ein sehr hohes Vertrauen, was uns zu höchster Sorgfalt verpflichtet. Massgebend für die Qualitätskriterien aller «regio.garantie»-Produkte ist der sogenannte ökologische Leistungsnachweis (ÖLN), wie er in den Richtlinien für die Regionalmarken im Detail festgehalten ist.

Eliane Kern: Wir stellen fest, dass gewisse regionale Produkte national herumspediert werden. Das muss nicht unbedingt heissen, dass diese Produkte weniger nachhaltig sind, denn in einer CO2-Bilanz fallen andere Kriterien wie Kühllager viel stärker ins Gewicht als die gefahrenen Kilometer. Trotzdem arbeiten wir daran, uns bezüglich Nachhaltigkeit in sämtlichen Bereichen zu verbessern. Das ist und bleibt eine grosse Herausforderung, die einen Systemwechsel erfordert, der nicht einfach so über Nacht passieren wird.

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Pirmin Schilliger

Das Schweizer Frühstück ist mehr als bloss Birchermüesli: Hotelbetriebe, die gezielt auf regionale Frischeprodukte und lokale Spezialitäten setzen, können bei ihren anspruchsvollen Gästen mit einem unverwechselbaren Geschmacks- und Genusserlebnis punkten. Mit diesem Ziel vor Augen lancierten mehrere Branchenorganisationen gemeinsam das Innotour-Projekt «Schweizer Regionalfrühstück als Positionierungsmerkmal». Die Ergebnisse des Ende 2022 abgeschlossenen Vorhabens sind in eine Broschüre eingeflossen – eine Handlungsanleitung für alle Betriebe, die nun ihr eigenes Regionalfrühstück kreieren möchten.

Die Brotauswahl am Frühstücksbuffet in der Kartause Ittingen TG klingt verführerisch: Zopf mit und ohne Sesam, Roggen- und Hausbrot, alles direkt aus dem Holzofen, darüber hinaus Sauerteig- und Grahambrot sowie vier Sorten Gipfeli. Zudem Konfitüren aus Äpfeln, Aprikosen und Brombeeren, Brie-, Blauschimmel- und verschiedene Hartkäse, Kräuterquark, Molkereibutter, saftiger Schinken, eine vegane Paste aus gegrillten Peperoni, Apfelringli und Birnbrot sowie ein rustikales Birchermüseli. Zum Trinken gibt es Molke mit pürierten Erdbeeren und einen Saft aus ausgepresstem Dinkelgras und Süssmost. Sämtliche Speisen sind frisch zubereitet und schmecken vorzüglich. «Fast alles ist hausgemacht», sagt Valentin Bot, Direktor des auf Seminar- und Feriengäste ausgerichteten Drei-Sterne-Superiorhotels. Die meisten Zutaten stammen aus der Region – mal abgesehen von den Kaffeebohnen. Industrielle Convenience-Produkte wie Käse in roter Wachshülle? Fehlanzeige!

Tradition und Trend zugleich

Der Frühstückstraum, den das Team in Ittingen den Gästen jeden Morgen hinzaubert, ist das Paradebeispiel des Innotour-Projektes «Schweizer Regionalfrühstückals Positionierungsmerkmal». Lanciert haben das Vorhaben der Branchenverband HotellerieSuisse, der Schweizer Kochverband (SKV), die Hotelfachschule Thun und das Culinarium Alpinum, ein Kompetenzzentrum für alpine Regionalkulinarik in Stans NW. Das zweijährige, Ende 2022 beendete Innotour-Projekt hat der Bund mit knapp 100’000 Franken unterstützt.

Für die Kartause Ittingen, die sich als einer von acht Testbetrieben mit Begeisterung engagierte, war nicht alles neu. «Regionalität hat bei uns Tradition und geniesst schon lange einen hohen Stellenwert», betont Bot. Das wissen auch immer mehr Hotelgäste zu schätzen. «Die Nachfrage nach regionalen Produkten auf dem Esstisch gehört heute zu einem der stärksten Trends in unserer Branche», bekräftigt der Hoteldirektor.

Bei der Zubereitung ihres Thurgauer Frühstücks profitiert die Kartause Ittingen von ihrem hohen Selbstversorgungsgrad. Zum früheren Kloster in der Nähe von Frauenfeld gehört ein Gutsbetrieb mit hundert Hektaren Äckern, Wald und Wiesen, Rindern, Schweinen, Schafen und Hühnern, einem Rebberg, Gemüse- und Kräuterbeeten, einer Imkerei sowie einer Forellenzucht. «Ausserdem betreiben wir eine Bäckerei, eine Käserei und eine Metzgerei», erklärt Bot. Von so vielen Vorteilen bei der Beschaffung können die meisten Hotels nur träumen. Dies hinderte die sieben weiteren Pilotbetriebe dieses Projektes nicht daran, sich ebenso ambitiöse Ziele bezüglich Regionalität zu stecken.

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Grundlagenarbeit und Expertenerwartungen

Um die Einstiegshürde für alle interessierten Betriebe zu senken, erarbeiteten Hotelfachstudierende und Berufsfachschülerinnen und -schüler wichtige Grundlagen. Sie identifizierten die Vielfalt der regionalen Spezialitäten in den jeweiligen Regionen, analysierten Angebot und Nachfrage und erstellten Businessanalysen. Dann ging es für die acht Pilotbetriebe darum, zu zeigen, wie ihr eigenes Regionalfrühstück aussehen könnte. Fasst man das leckere Resultat dieser Bemühungen zusammen, präsentiert sich auf den Tellern ein überraschend vielfältiger regionaler Querschnitt durch die Schweizer Frühstückslandschaft. Ihren Beitrag dazu leisteten die Hotels Steinenschanze (Basel), Grand Hôtel Les Endroits (La Chaux-de-Fonds NE), Saratz (Pontresina GR), Adler (Adelboden BE), Federale (Lugano TI), Paxmontana (Flüeli-Ranft OW), das Chandolin Boutique Hotel (Chandolin VS) und die erwähnte Kartause Ittingen.

Lohnender Mehraufwand

Die Erwartungen von Dominik Flammer, Ernährungsexperte und Initiator des Culinarium Alpinum, gingen allerdings nicht auf Anhieb in Erfüllung. «Zum Frühstück wünsche ich mir auch Produkte, die die Landschaft zum Ausdruck bringen und die Gäste überraschen; in Graubünden etwa mit einer Grauviehbutter mit Baumnüssen, im Wallis mit Evolener Butter mit Rauchsalz der Saline von Bex, ausserdem mit Tee aus regionalen Kräutern und mit regionalen Käsesorten», zählt Flammer einige Spezialitäten auf, die schliesslich in einer zweiten Projektrunde kreiert wurden. Im Kanton Zug seien sortenreine Konfitüren aus verschiedenen Kirschen geradezu Pflicht, im Jura ein Vacherin Mont d’Or und ein Jura-Gruyère, doppelt der Experte nach.

Die grösste Herausforderung des Projekts war die Logistik. Die meisten Betriebe hatten die Beschaffung fürs Frühstück neu zu organisieren und dafür lokale und regionale Lieferanten zu gewinnen. Der damit verbundene Mehraufwand dürfte auch in Zukunft die grösste Hürde bleiben für Hotels, die auf Regionalfrühstück umstellen möchten. Zwar können die Betriebe mit Fertigprodukten beliebiger Marken unbestritten Geld sparen. Lukas Gasser, Projektverantwortlicher von HotellerieSuisse, bezweifelt allerdings, dass mit einem solchen Sparregime die Rechnung wirklich aufgeht. «Ein hochwertiges Frühstück aus regionalen Produkten gehört heute zu den entscheidenden Faktoren des Gesamtangebotes eines Hotels», äussert er mit Nachdruck.

Um die im Rahmen der acht Pilotversuche entwickelten Frühstücksvorschläge zugänglich zu machen, sind die Ergebnisse in eine kürzlich erschienene Broschüre* eingeflossen. Diese dient als Ratgeber und praxisbezogenes Hilfsmittel zugleich. Ab sofort gibt es also keinen Grund mehr, am Morgen auf ein umfassendes und authentisches Genusserlebnis im Hotel zu verzichten.

* kostenlos für Mitglieder von HotellerieSuisse, CHF 50.00 für Nichtmitglieder

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Mobilität am nachhaltigen Reiseziel

Pirmin Schilliger

In der Ferienregion Engadin Samnaun Val Müstair ist nachhaltige Mobilität ein wichtiger Attraktivitätsfaktor und ein touristisches Markenzeichen. Den Weg dazu ebnete eine Reihe von Pionier- und Pilotprojekten, die in den letzten Jahren lanciert und – je nach Projekt – von der Neuen Regionalpolitik (NRP), Interreg oder Innotour unterstützt wurden. Der in der östlichsten Ferienregion der Schweiz erfolgreich eingeschlagene Nachhaltigkeitskurs ist allerdings noch nicht am Ziel.

«Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair AG» (TESSVM) ist die touristische Marketingorganisation für die Ferienregion Unterengadin / Samnaun / Val Müstair. Sie umfasst eine Fläche von 1200 Quadratkilometern, fünf politische Gemeinden mit rund 9400 Einwohnerinnen und Einwohnern und 26 Ferienorte. Der Perimeter deckt sich mit der «Regiun Engiadina Bassa/Val Müstair» (EBVM), die für die Regionalentwicklung zuständig ist. Die beiden Organisationen arbeiten in der Standortentwicklung und Tourismusförderung eng zusammen. Die strategischen Entwicklungsziele der Regiun sind in der «Agenda 2030» festgehalten. «Ein wichtiges Thema darin ist die nachhaltige Mobilität», erklärt Regionalentwicklerin Martina Schlapbach.

Mit der Eröffnung des Vereina-Tunnels der Rhätischen Bahn im November 1999 hat die Region vor über zwanzig Jahren bezüglich Erschliessung einen Quantensprung erlebt. Seither ist das Unterengadin via Schiene oder Strasse ganzjährig schnell erreichbar. «An unserer peripheren Lage mitten im Hochgebirge, am östlichen Rand der Schweiz, hat sich mit dem Tunnel nichts verändert. Die Mobilität in unserer Region hat sich damit aber massiv verbessert», betont Schlapbach.

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«ÖV-inklusive» für alle Gäste

Für die begehrte Ferienregion, die sich ambitionierte Nachhaltigkeitsziele gesteckt hat, wird es immer entscheidender, welche Verkehrsmittel die Besucherinnen und Besucher benutzen. «Wir möchten, dass unsere Gäste möglichst mit dem Zug anreisen und während ihres Urlaubs innerhalb der Region mit dem ÖV unterwegs sind», sagt Martina Hollenstein, ehemalige Tourismus-Direktorin (2017 bis August 2022) und heutige Projektleiterin der «Gästekarte mit ÖV-inklusive». Der Name steht für ein Angebot, das die Destination 2022 für alle Gäste eingeführt hat, unabhängig davon, ob sie im Hotel oder in einer Ferienwohnung übernachten. Die Gästekarte, die sich als QR-Code aufs Handy laden lässt, ermöglicht die freie Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr innerhalb der Region – und zwar zu sämtlichen Angebotspunkten und Attraktionen, und dies auch am An- und Abreisetag.

«ÖV-inklusive» ist bloss der jüngste, aber einer der wichtigsten Nachhaltigkeitsschritte der TESSVM. Zusammen mit den Bahnen lancierte die Ferienregion vor knapp zehn Jahren ein Projekt, das inzwischen an vielen anderen Wintersportorten Schule gemacht hat. «Wir übernehmen beim Gepäcktransport für die Gäste die letzte Meile, also den Transport zwischen Bahnhof und Hotel oder Ferienwohnung», sagt Hollenstein. Für ihre Nachhaltigkeitsstrategie wurde der Tourismusorganisation 2011 der Tourismuspreis milestone verliehen, eine von der «Hotelrevue» geschaffene Auszeichnung für Innovationen im Schweizer Tourismus. Neuerdings, für die Periode 2022–2025, kann sich die Ferienregion als erste Destination der Schweiz mit dem «TourCert»-Label «Nachhaltiges Reiseziel» schmücken, nicht zuletzt dank «ÖV-inklusive».

In der PLUS-Version berechtigt der Mobilitätspass auch zur Fahrt in die Nachbarländer. Die drei Grenzregionen EBVM, Tirol und Südtirol arbeiten seit über 15 Jahren im Rahmen der Interreg-Kooperation «Terra Raetica» systematisch zusammen. Ein Fokus der Bemühungen liegt auf der internationalen Mobilität im Dreiländereck Schweiz Österreich / Italien – mit dem Ergebnis, dass seit einigen Jahren koordiniert und regelmässig ÖV-Busse über den Reschen- und den Ofenpass nach Mals (Vinschgau / Südtirol) sowie nach Nauders und Landeck (Tirol) verkehren.

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Bike-Routen und Wanderwege attraktiv machen

In der Destinationsentwicklung versucht die TESSVM, zusammen mit der Regiun EBVM vor allem den Sommertourismus weiter zu beleben. Zu den Kernangeboten gehören Bike-Routen und Wanderwege, die auf einer Länge von über 2300 Kilometern durch die Gegend führen. Die Pflege, der Unterhalt und die Anpassung der Bike-Trails an aktuelle Bedürfnisse bleiben eine Daueraufgabe. Mit dem Mountainbike-Masterplan TRAI(L)S VALS entwickelt die Region verschiedene Bike-Angebote und Trails weiter, und zwar abgestimmt auf das kantonale, NRP-geförderte Projekt «graubünden bike». Die Umsetzung im Zeitraum 2019–2025 liegt hauptsächlich bei den Gemeinden. «Es geht dabei um die Aufwertung und den punktuellen Ausbau von Trails und um ein attraktives Gesamtangebot», meint Schlapbach.

In Koordination mit dem kantonalen Projekt «graubünden trailrun» wird die «Trailrunning Regiun EBVM» gefördert und mit Partnerangeboten im Terra-Raetica-Dreieck verbunden. Ein weiteres aktuelles Projekt widmet sich der E-Bike-Infrastruktur beziehungsweise dem Aufbau eines Netzes von Batterieladestationen.

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Die Reise geht weiter

Ob Bikerin, Wanderer, Joggerin, Kletterer oder Skifahrerin, alle kommen auf ihre Rechnung – sommers wie winters. Es gibt Angebote für alle Ansprüche und Schwierigkeitsgrade, vom gemütlichen Spaziergang über Themen- und Erlebniswege bis hin zu anspruchsvollen Touren, rasanten Abfahrten oder Mehrtageswanderungen, beispielsweise auf der Via Engiadina oder im Nationalpark, mitsamt Gepäcktransport von einem Ort zum nächsten. «Alle Ausgangs- und Zielpunkte sind gut erschlossen und für die Gäste mit dem ÖV bequem, gratis und dank abgestimmtem Fahrplan pünktlich erreichbar», so Gästekarte-Projektleiterin Hollenstein.

Die Bemühungen, die Mobilität nachhaltiger zu gestalten, trägt Früchte: Jeder vierte Feriengast reist inzwischen mit dem ÖV ins Unterengadin. Die Gratisverbindungen innerhalb der Region sind zudem zu einem entscheidenden Vermarktungsargument geworden. Abgeklärt wird nun, ob «ÖV-inklusive» künftig auch für die Zweitwohnungsbesitzenden gelten soll. Ausserdem sollen mittels weiterer Massnahmen der ÖV und der Langsamverkehr auch bei den Einheimischen Anteile am Modalsplit gewinnen. Hollenstein und Regionalentwicklerin Schlapbach betonen einstimmig, dass die Weiterentwicklung der nachhaltigen Mobilität in einen strategischen Dauerprozess eingebunden sein müsse. So ist die Regiun EBVM laut Schlapbach gerade damit beschäftigt, die «Agenda 2030» zu aktualisieren. Hollenstein ihrerseits verweist auf den Leitfaden «Nachhaltigkeit in Schweizer Tourismusdestinationen», den die TESSVM, unterstützt von Innotour mit weiteren Destinationen und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), erarbeitet hat und der nun als Inspirationsquelle für weitere Ideen dient.

engadin.com/de/gaestekarte

regiunebvm.ch

tourcert.org

seco.admin.ch/innotour

regiosuisse.ch/projects-nrp

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Nachhaltige Mobilität in den Regionen

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Mobilität spielt für die regionale Entwicklung unbestritten eine wichtige Rolle. Die Erreichbarkeit der Räume ist in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft – ob für urbane oder ländliche Gebiete – ein entscheidender Standortfaktor.
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Mit den Strategischen Entwicklungsprogrammen (STEP) für die Nationalstrassen und die Bahn und den entsprechenden Finanzierungsfonds sorgt die Verkehrspolitik für die grundlegende Infrastruktur, fördert aber auch die Entwicklung nachhaltiger Verkehrs- und Mobilitätslösungen. Letztere unterstützen aber auch eine Reihe von Förderprogrammen wie das Programm Agglomerationsverkehr (PAV), die Neue Regionalpolitik (NRP), Interreg, die Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo), Innotour oder die Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO). regioS skizziert nachfolgend die Herausforderungen bei der Entwicklung zukunftsträchtiger Verkehrs- und Mobilitätslösungen und zeigt das Spektrum von Förderinstrumenten auf, das vor allem regionalen Akteurinnen und Akteure zur Verfügung steht.

Ein leistungsfähiges und leicht zugängliches Verkehrssystem ist in der global vernetzten Gesellschaft unbestritten ein entscheidender Standortvorteil und ein Wettbewerbsfaktor. Ohne effiziente Verkehrserschliessung verlieren Regionen schnell den Anschluss an die Zentren. Mit dem politischen Bekenntnis zur dezentralen Besiedlung gemäss Raumplanungsgesetz (RPG) geniesst die Erschliessung der Regionen einen besonderen politischen und sozialen Stellenwert, der über alle gesellschaftlichen und kulturellen Gräben hinweg zum Zusammenhalt des Landes beiträgt. Laut dem «Sachplan Verkehr», der Mobilitätsstrategie des Bundesrats, sollen sich alle Regionen «angemessen weiterentwickeln».

Eine chancengleiche Mobilität ist in der Schweiz nicht einfach ein Lippenbekenntnis, sondern ein nationales Anliegen – ob in den Kernstädten, Agglomerationen, ländlichen Räumen des Mittellandes oder in den Berggebieten. «Nicht zufällig verfügt die Schweiz heute über eines der dichtesten Verkehrsnetze der Welt mit etwa 83 300 Kilometern Strassen und Eisenbahnlinien von 5200 Kilometern», sagt Nicole A. Mathys, Chefin der Sektion Grundlagen des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). Landesweit finden sich kaum Orte, die nicht auch durch den öffentlichen Verkehr (ÖV) erschlossen sind. Selbst nach Juf GR, der höchstgelegenen Siedlung Europas mit rund dreissig Einwohnerinnen und Einwohnern, fährt täglich das Postauto mindestens im Zweistundentakt.

Von diesen umfassenden Angeboten macht die Schweizer Bevölkerung regen Gebrauch: Acht von zehn beschäftigten Personen pendeln zur Arbeit, wobei sie im Schnitt insgesamt rund eine Stunde pro Arbeitstag unterwegs sind. Noch wichtiger ist der Freizeitverkehr, der laut dem «Mikrozensus Mobilität und Verkehr» (MZMV) für annähernd die Hälfte (44 %) aller zurückgelegten Tagesdistanzen verantwortlich ist. Ob beruflich oder zum Freizeitvergnügen – Mobilität ist für die moderne Gesellschaft in jedem Fall selbstverständlich. Doch die Strassen, Schienen, Wege und Transportmittel von heute sind nicht einfach so aus dem Boden gesprossen, sondern über Jahrzehnte entstanden. Sie sind das Resultat unzähliger Bemühungen im Spannungsfeld von Raum, Technik, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik.

Die Aufgabe ist äusserst komplex

Den Verkehr und die Mobilität weiterzuentwickeln und in zukunftsfähige Bahnen zu lenken, ist eine komplexe Aufgabe. Die «Verkehrsperspektiven 2050» (VP 2050) des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) basieren auf mindestens sieben entscheidenden Trends, rund drei Dutzend wesentlichen Einflussfaktoren und über hundert sogenannten Stellgrössen. «Logischerweise sind in die Gestaltung von Verkehrs- und Mobilitätslösungen viele Akteurinnen und Akteure des Bundes, der Kantone, Regionen und Gemeinden eingebunden», so Nicole A. Mathys. Dies erfordert Fachwissen in unterschiedlichen Bereichen wie Verkehr, Raumentwicklung, Umwelt, Wohnungswesen und Energie. Auf nationaler Ebene ist das UVEK für den Verkehr zuständig. In der Pflicht stehen aber auch die Kantone und Gemeinden, vor allem beim Bau und Unterhalt von Kantons- und Gemeindestrassen, beim öffentlichen Nah- und Regionalverkehr sowie beim Ausbau des Langsamverkehrs. Alle diese Beteiligten sind gefordert, bei der Entwicklung einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Mobilität sämtliche Interessen von Gesellschaft und Wirtschaft mit Rücksicht auf die Siedlungsentwicklung und die Umwelt möglichst harmonisch aufeinander abzustimmen.

In welche Richtung sich Mobilität und Verkehr bis zum Jahr 2050 in der Schweiz bewegen könnten, skizzieren die VP 2050 mittels verschiedener Szenarien (siehe Kasten). Klar scheint: Der Verkehr insgesamt wird weiter zunehmen, jedoch langsamer als die Bevölkerung. Bereits heute sind die Auslastungsgrenzen verschiedenenorts erreicht. Gemäss dem «Sachplan Verkehr» müssen daher die Transportkapazitäten für Personen und Waren künftig effizienter genutzt und punktuell ausgebaut werden. Darüber hinaus sind über sämtliche Verkehrssysteme hinweg energetische Verbesserungen erforderlich, um die Treibhausgasemissionen im Kampf gegen den Klimawandel bis 2050 auf netto null zu senken. Dies kann nur mittels eines Transformationsprozesses gelingen. «Die Mobilitätsangebote der Zukunft müssen nachhaltiger, transparenter, flexibler, vernetzter, komfortabler, bedienerfreundlicher und eben CO2-neutral werden», betont Nicole A. Mathys. Ausserdem muss der motorisierte Individualverkehr (MIV) reduziert und der öffentliche Verkehr (ÖV) weiter ausgebaut werden.

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Mehr und bessere Mobilität – mit weniger Verkehr

Fördermöglichkeiten im Bereich nachhaltige Mobilität gibt es in der Schweiz viele, wie der Querschnitt durch die Förderprogramme belegt. Im Mittelpunkt stehen auf regionaler Ebene nicht grosse Infrastrukturvorhaben wie der A1 Rosenbergtunnel in St.Gallen, der Ausbau der Jurasüdfuss-Strecke der Bahn oder die Beschaffung neuer Transportmittel; dafür ist primär der Bund im Rahmen der Verkehrspolitik zuständig. Die regionalen Förderbemühungen unterstützen vor allem neue Mobilitätslösungen und Dienstleistungsangebote zur Optimierung der bestehenden Systeme. Sie betreffen den Berufs- oder Pendler- genauso wie den Freizeit- und Tourismusverkehr. «Es sind Initiativen zur Verkehrsreduktion und zu Verhaltensänderungen notwendig, und zwar zugunsten von mehr Velo- und Fusswegen sowie des Umstiegs auf den ÖV», erklärt Nicole A. Mathys. Hinzu kommen raumplanerische Massnahmen, die die Aufenthaltsqualität und Attraktivität der Siedlungsgebiete erhöhen und so der Bevölkerung ermöglichen, ihre Lebensbedürfnisse grösstenteils im nächsten Umfeld abzudecken. Die mit zunehmendem Wohlstand trotz allem weiterwachsenden Mobilitätsbedürfnisse sollen nicht nur effizienter und besser, sondern auch sauberer und umweltschonender gedeckt werden.

Die grösste planerische Herausforderung ist, die Interessen aller Beteiligten aufeinander abzustimmen und mit vereinten Kräften auf eine kohärente Entwicklung hinzuarbeiten. Ergänzend zur übergeordneten Verkehrsplanung des Bundes über den «Sachplan Verkehr», die Entwicklungsinstrumente STEP-Nationalstrassen, STEP-Bahn und die Agglomerationsprogramme, finanziert über den Bahninfrastrukturfonds (BIF) und den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) verfügen alle Kantone über ihre eigenen Mobilitätsstrategien, Richtpläne und Planungsinstrumente. Luzern beispielsweise stützt sich in der Umsetzung auf das Bauprogramm für die Kantonsstrassen, den ÖV-Bericht sowie die kantonale Veloplanung. Alle diese Instrumente sollen nun in einem neuen «Programm Gesamtmobilität» zusammengeführt werden, damit der Kanton mit den Regionen und Gemeinden koordiniert handeln kann. «Über alle erwähnten Gremien und Ebenen hinweg zeichnet sich ein inhaltlicher Konsens zu einer zukunftsfähigen Mobilitätsplanung ab, der da lautet: ‹Verkehr vermeiden, Verkehr verlagern, Verkehr verträglich abwickeln und vernetzen›», stellt Nicole A. Mathys fest.

Unterschiedliche Prioritäten

In der Umsetzung werden je nach Region und Art des Verkehrs andere Prioritäten gesetzt: In Städten und Agglomerationen bleiben Massnahmen zur Bekämpfung von Verkehrsspitzen und Stauzeiten ein zentrales Anliegen. In vielen Gemeinden des Mittellandes, ob Niederbipp BE, Obergösgen SO oder Winznau SO, sind hingegen der Pendlerverkehr und die Siedlungsplanung die grössten Herausforderungen. Die drei Ortschaften stehen laut einer Analyse von Pricehubble, einem auf Immobiliendaten spezialisierten Unternehmen, für eine vielerorts in der Schweiz zu beobachtende Entwicklung: Obwohl mitten auf dem Land gelegen, werden sie dank relativ «günstiger Häuser» und der Pendlernähe zu Zürich (maximal eine Stunde Fahrzeit) mehr und mehr zu Pendlergemeinden. Noch günstiger lässt es sich in Basel arbeiten und im Jura wohnen, etwa in Haute-Sorne, Moutier oder Develier. Eine ähnliche Mobilitäts- und Siedlungsdynamik hat auch die Einzugsgebiete gewisser inneralpiner Zentren wie Visp oder St. Moritz erfasst. In der Hauptsaison sehen sich die grossen alpinen Tourismusdestinationen zudem mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Agglomerationen und Städte: mit Stau und überfüllten Parkplätzen. In den peripheren Berggebieten und abgelegenen Seitentälern wiederum ist die Herausforderung nochmals ganz anders: Sie kämpfen gegen die Abwanderung und um den Erhalt des ÖV-Anschlusses.

Nicht absehbar ist zum heutigen Zeitpunkt, welche künftigen politischen Weichenstellungen die Transformation der Mobilität in Richtung Nachhaltigkeit weiter beschleunigen werden. Der grösste Hebel ist zweifellos der Strassenverkehr, auf den derzeit rund ein Drittel des gesamten Energieverbrauchs entfällt. Der Motorisierungsgrad der Schweiz ist mit rund 550 Autos auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner hoch, die Energieeffizienz ausgesprochen schlecht. Hauptsächlich dafür verantwortlich sind die vielen PS-starken Fahrzeuge, in denen meistens nur eine Person sitzt. Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Neuwagen in der Schweiz gehören heute zu den höchsten in Europa. «Wir kommen nicht darum herum, den Strassenverkehr energieeffizienter und klimaschonender zu machen», ist Nicole A. Mathys überzeugt. Der Bund möchte mit der «Roadmap Elektromobilität» in einer ersten Etappe erreichen, dass bis 2025 rund die Hälfte der neu zugelassenen Autos mit Elektro- oder Hybridantrieb ausgerüstet sind. Ein weiteres, weitgehend unausgeschöpftes Potenzial ist das datenbasierte Verkehrsmanagement für eine effizientere Nutzung der Verkehrsmittel und -infrastrukturen. 

«Im Bereich des motorisierten Individualverkehrs (MIV), auf den derzeit 70 % der externen Kosten des Verkehrs oder jährlich rund 14 Milliarden Franken entfallen, liegt noch viel Optimierungspotenzial», gibt Nicole A. Mathys zu bedenken. Mit der angestrebten Elektrifizierung der Schweizer Fahrzeugflotte ist allerdings bestenfalls ein Teil des Problems gelöst. Schliesslich stehen auch Elektrofahrzeuge im Stau, benötigen Strassenraum und Strom, der längst nicht immer sauber produziert ist.

Innovative Mobilitätslösungen fördern

Die zentralen Instrumente der Mobilitätsinfrastruktur sind die Strategischen Entwicklungsprogramme Nationalstrassen (STEP-NS) und Bahn (STEP Bahn). Die Finanzierung erfolgt über den der Bahninfrastrukturfonds (BIF) mit einem Volumen von 19,3 Milliarden Franken für die beiden Ausbauschritte bis 2025 beziehungsweise 2035 sowie der Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) mit einem Volumen für die Nationalstrassen (STEP-NS) von 11,6 Milliarden Franken bis 2030 und für den Agglomerationsverkehr von bisher 7,18 Milliarden Franken (seit 2008) beziehungsweis rund 1,6 Milliarden Franken für die vierte Generation ab 2024. Diese Instrumente tragen auch wesentlich zur Erschliessung der Regionen bei. Sie unterstützen aber auch die Akteurinnen und Akteure dabei, den Prozess hin zu einer nachhaltigen Mobilität zu beschleunigen und die dazu erforderlichen innovativen Lösungen zu entwickeln.

Ergänzend zu den infrastrukturorientierten Instrumenten der Verkehrspolitik kommen Förderinstrumente und Programme, die diesen Prozess auf regionaler Ebene verfeinern und unterstützen. Diese regionalen, nachfolgend skizzierten Fördergefässe sind das eigentliche Thema dieser «regioS»-Ausgabe.

Programm Agglomerationsverkehr (PAV)

Über das PAV beteiligt sich der Bund an der Finanzierung von Verkehrsprojekten zur Verbesserung des Agglomerationsverkehrs. Die Schwerpunkte der Förderung liegen auf dem Kapazitätsausbau des ÖV, der Elektrifizierung der Verkehrsträger, der besseren Vernetzung über Verkehrsdrehscheiben sowie einer sicheren und attraktiven Fuss- und Veloverkehrsinfrastruktur. Bei MIV-Projekten spielen Verkehrs- und Quartierberuhigungsmassnahmen, Begegnungszonen und gezielte Zentrumsentlastungen eine entscheidende Rolle. Der Förderperimeter umfasst beitragsberechtigte Gemeinden, die in einer Trägerschaft organisiert sind, inklusive der inneralpinen Agglomerationsräume Chur, Davos, St. Moritz, Altdorf, Glarus, Oberwallis (Brig-Visp-Naters), Zentralwallis (Sitten) und Rhoneknie (Martigny) und Chablais (Monthey-Aigle-Bex) sowie der Interreg-Programmgebiete in den Grenzregionen.

Das PAV ist das finanzielle Schwergewicht unter den Förderprogrammen. In der Vernehmlassung zur vierten Programmperiode hat sich der Bund für die Finanzierung von 1,6 Milliarden Franken (37 % Mitfinanzierung) ausgesprochen. Kantone, Städte und Gemeinden steuern zusammen weitere 2,7 Milliarden Franken (63 %) bei. Das PAV entfaltet seine Wirkung primär in der urbanen Schweiz. Bei Mobilitätslösungen im Pendler- oder Freizeitverkehr strahlt das Programm jedoch weit in die ländlichen Räume und Berggebiete sowie ins grenznahe Ausland aus. Die PAV-Projekte verdeutlichen, dass sich die Wirkung von Verkehrsmassnahmen in der kleinräumigen Schweiz selten räumlich eingrenzen lässt.

➜ Projektbeispiele (der aktuellen Programmperiode):

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Neue Regionalpolitik (NRP)

Die NRP unter der Leitung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und in Zusammenarbeit mit den Kantonen unterstützt innerhalb ihres Förderrahmens Verkehrs- und Mobilitätsprojekte, die konkret zur Wettbewerbsfähigkeit der Regionen – etwa im Tourismus – beitragen. An den NRP-Projekten beteiligen sich der Bund und die Kantone je zur Hälfte. Viele Mobilitätsprojekte werden im Rahmen einer Verkehrserschliessungspolitik angestossen, die Teil der jeweiligen regionalen Entwicklungsstrategie ist.

➜ Projektbeispiele:

Interreg-Programme

Ähnliche Ziele wie die NRP verfolgt Interreg, an dem die Schweiz via NRP in grenzüberschreitenden Räumen teilnimmt. Verkehrs- und Mobilitätsprojekte bilden dabei einen klaren Förderschwerpunkt, dies besonders in den immer stärker kooperierenden vier Grenzregionen Nordwestschweiz / Deutschland / Frankreich, Genf / Westschweiz / Frankreich, Bodenseeraum / Deutschland / Österreich und Tessin / Graubünden / Wallis / Italien.

➜ Projektbeispiele:

Attila Kartal in der Werkstatt von Rent a Bike in Willisau LU. Dienstleistungen stärken das Velo als Verkehrsmittel sowohl im Alltag als auch in der Freizeit. © regiosuisse

Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung (MoVo)

Mit den MoVo fördern acht Bundesstellen unter der Leitung des ARE neue Ansätze und Methoden zur nachhaltigen Raumentwicklung. Dazu gehören auch neue Mobilitätslösungen. In der laufenden, vierten Programmperiode (2020–2024) unterstützt der Bund insgesamt 31 Vorhaben mit rund 3,9 Millionen Franken. Davon befassen sich acht Projekte explizit mit Mobilität. Sie zielen hauptsächlich darauf ab, «kurze Wege, Bewegung und Begegnung» zu fördern.

➜ Aktuelle oder kürzlich abgeschlossene Projektbeispiele:

Innotour

Der Bund unterstützt die aktuelle Programmperiode 2020–2023 zur Förderung von Innovation, Zusammenarbeit und Wissensaufbau im Tourismus (Innotour) mit 30 Millionen Franken. Schwerpunkte des vom SECO koordinierten Programms liegen nebst neuen touristischen Dienstleistungen auf der Beherbergung, Verpflegung und der Gästebetreuung sowie dem Transport und Verkehr. Schliesslich entlasten nachhaltige touristische Mobilitätslösungen das Gesamtverkehrssystem Schweiz, in dem der Freizeitverkehr bekanntlich eine dominante Rolle spielt.

➜ Projektbeispiele:

Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (KOMO)

Die KOMO ist beim Bundesamt für Energie angesiedelt. Sie unterstützt jährlich bis zu einem Dutzend Projekte für zukunftsfähige Mobilitätslösungen. Die finanziellen Mittel stammen aus dem Programm «EnergieSchweiz». KOMO-Projekte werden von den Bundesämtern ARE, Astra, BAV, BAFU und BAG mitfinanziert. Im Mittelpunkt der Förderung stehen Lösungen für umwelt-, ressourcenschonende und gesunde Fortbewegungsarten. Das Spektrum der Projekte reicht von der App für ein einfacheres Parkplatzmanagement bis hin zu Massnahmen zur Förderung des ÖV und des Langsamverkehrs.

➜ Aktuelle Projektbeispiele:

Weitere Projekte finden Sie in der regiosuisse-Datenbank: regiosuisse.ch/projektdatenbank

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Verkehrsperspektiven 2050

Die «Verkehrsperspektiven 2050» skizzieren vier mögliche Entwicklungsszenarien, wobei das Basisszenario im Zentrum der künftigen Planung steht. Demzufolge wird der Personenverkehr in der Schweiz über sämtliche Verkehrskategorien hinweg bis 2050 um 11 Prozent (gemessen in Personenkilometern) wachsen. Der Hauptgrund dafür: Auch die Bevölkerung wird im selben Zeitraum weiterwachsen, und zwar um über 20 Prozent auf 10,4 Millionen Menschen. Deutlich höhere Steigerungsraten erwartet das UVEK im Freizeitverkehr, der bereits heute für 44 Prozent aller Tagesdistanzen verantwortlich ist. Beim Einkaufsverkehr wird mit einem Plus von 15 Prozent gerechnet, derweilen der Arbeitsverkehr gegenüber heute um 13 Prozent schrumpfen soll. Treiber dieser Entwicklung sind die demografische Alterung beziehungsweise der sinkende Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung und vor allem weniger Pendlerverkehr dank mehr Homeoffice.

Veränderungen zeichnen sich auch beim Modalsplit ab: Die fortschreitende Urbanisierung und der weitere Ausbau des ÖV werden dazu führen, dass die Leute in den Städten künftig weniger mit dem eigenen Auto fahren. Bereits heute verfügt in den grössten Städten rund die Hälfte der Haushalte über kein eigenes Motorfahrzeug, während ein solches in ländlichen und peripheren Gebieten auch in Zukunft unentbehrlich scheint. Zwar dürfte der motorisierte Individualverkehr (MIV) bis 2050 laut VP 2050 um 5 Prozent zurückgehen, aber immer noch 68 Prozent des gesamten Personenverkehrs ausmachen. Der ÖV könnte unter dem Strich seinen Anteil bis 2050 um 3 auf 24 Prozent steigern. Deutliche Fortschritte, wenn auch auf tiefem Niveau, dürfte es beim Veloverkehr geben: Das Velo könnte seinen Anteil von 2 auf 4 Prozent verdoppeln.

Beim Güterverkehr rechnet das UVEK mit einem weiterhin starken Wachstum von 31 Prozent auf 36  Milliarden Tonnenkilometer. Die Schiene dürfte dabei bis 2050 im Modalsplit 2 Prozentpunkte zulegen und neu einen Anteil von 39 Prozent am gesamten Güterverkehr stellen. Der überwiegende Teil aller Tonnenkilometer dürfte aber auch im Jahr 2050 auf die Strassen fallen.

Mobilitätsverhalten der Schweizer Bevölkerung 2021

2021 entfielen rund 43 Prozent des inländischen Verkehrsaufkommens auf die Freizeitmobilität. Zweitwichtigster Mobilitätszweck war 2021 der Arbeitsverkehr, gefolgt vom Einkaufsverkehr. Insgesamt wurden im Inland pro Person und Tag 30,0 km zurückgelegt, 6,8 km weniger als sechs Jahre zuvor. Aufgrund der Pandemie war die Bevölkerung zum ersten Mal seit Jahrzehnten weniger mobil. Das E-Bike war das einzige Verkehrsmittel, das trotz Pandemie stärker genutzt wurde.

Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheiden sich in ihrem Mobilitätsverhalten zum Teil erheblich. Besonders mobil waren mit einer mittleren Tagesdistanz von 40,2 km pro Person junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren. Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gemeinden legten 2021 ein Viertel mehr Kilometer zurück als die Städterinnen und Städter.

Aus Sicht der Bevölkerung sind Verbesserungen im öffentlichen Verkehr und die Reduktion der Umweltauswirkungen des Verkehrs wichtiger als Verbesserungen im Velo-, Strassen- oder Fussverkehr.

Literatur

BSF/ARE (2023): Verkehrsverhalten der Bevölkerung 2021. Wichtigste Ergebnisse des Mikrozensus Mobilität und Verkehr. Neuchâtel.

Müller-Jentsch Daniel, Avenir Suisse (2020): Zentrumstäler: Die Haupttäler als Entwicklungsachsen des Berggebiets.

Wüest Partner (2021): Berggebiete: Sozioökonomische Analyse, eine empirische Grundlagenstudie im Auftrag des SECO.

Nachhaltige Freizeitmobilität braucht Infrastrukturen und Services

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Die Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität ist ein zentrales Ziel der nationalen Verkehrspolitik. Wie kann auch der Ausflugs- und Freizeitverkehr, der für viele ländliche Regionen und Berggebiete eine wesentliche Basis für die Wirtschaft darstellt, dieses Ziel erfüllen. Diese Frage diskutierten Emilie Moreau, bei Jura Tourisme verantwortlich für die Angebotsentwicklung und Mitglied der Geschäftsleitung, Vincent Kaufmann, Professor für Mobilitätsanalyse an der EPFL in Lausanne und wissenschaftlicher Direktor des «Forum Vies Mobiles» in Paris, sowie Stefan Maissen, Gründer und Geschäftsführer der Rent-a-bike AG.

regioS: Fast die Hälfte der heutigen Verkehrsleistung dient Aktivitäten in der Freizeit. Was muss sich ändern, damit der Freizeitverkehr, speziell auch der Ausflugs- und Ferienverkehr, nachhaltiger wird?

Vincent Kaufmann: Wir müssen verschiedene Arten von Freizeitmobilität auseinanderhalten. Der Tourismus in den Städten mit dem Besuch von Grossveranstaltungen, Ausstellungen und Sehenswürdigkeiten unterscheidet sich sehr stark vom Tourismus in den ländlichen Naherholungsregionen und in den alpinen Feriendestinationen. Wir müssen also genau unterscheiden, welche Freizeitaktivitäten damit abgedeckt werden. Zudem sind die unterschiedlichen Bedürfnisse der Erholungsuchenden zu beachten. Derzeit wächst die ältere Bevölkerung anteilsmässig sehr stark. Die Altersgruppe dieser über Sechzigjährigen verfügt über viel Freizeit und hat spezifische Bedürfnisse in Bezug auf Raum, Mobilität und Komfort. Hinzu kommt, dass neue Verkehrs- und Mobilitätslösungen in jedem Fall nachhaltig und CO2-neutral sein sollten – dies auch in ländlichen Gebieten, wo der Leidensdruck noch geringer ist und die Wirksamkeit nachhaltiger Massnahmen weniger offensichtlich scheint als in den urbanen Gebieten. Dort ist heute jedermann klar, dass wir um neue und kreative Mobilitätsangebote und -lösungen nicht herumkommen.

Welche Strategien und Angebote erweisen sich als erfolgversprechend?

Vincent Kaufmann: Die zwei wichtigsten Schlüsselbegriffe sind «Komfort» und «Service». In Bezug auf Komfort haben die SBB einiges in die Wege geleitet, etwa wenn es um den Gepäcktransport oder das Platzangebot für betagte Reisende oder Familien mit Kindern geht. Zum Komfort gehört auch die Möglichkeit der Direktfahrt mit dem ÖV in die Feriendestinationen. In der Schweiz selbst ist das ÖV-Angebot diesbezüglich schon recht gut. Was aber beim Reiseverkehr stark ins Gewicht fällt, ist der internationale Massstab. Es gibt leider immer weniger touristische Destinationen jenseits unserer Grenzen, die wir mit einem Zug aus der Schweiz direkt erreichen können. Wer heute mit dem Zug von Genf nach Marseille reist, muss mindestens zweimal umsteigen.

Vincent Kaufmann © regiosuisse

Was würde zu einem besseren Service gehören?

Vincent Kaufmann: Betreffend Service wünsche ich mir all jene Dienstleistungen, die einen Ausflug oder eine Ferienreise angenehm machen. Dazu gehören auch entsprechende Angebote am besuchten Ort. Vor Jahren konnte ich beim Langlaufen im Obergoms auf einen Wachsservice direkt an der Loipe zählen – ein Angebot, das es heute nicht mehr gibt. Es ist widersprüchlich, die nachhaltige Mobilität und den ÖV aus- und gleichzeitig die Dienstleistungen für den weiteren Reisebedarf abzubauen. Die Leute steigen nur dann auf den ÖV um, wenn sie die Gewissheit haben, während der ganzen Reise mit all ihren persönlichen Bedürfnissen und Komfortansprüchen gut versorgt zu sein. Die Möglichkeiten, den Reisenden einen guten Service zu bieten, sind längst nicht ausgeschöpft.

Der Jurabogen ist ein ländlich geprägter und teilweise peripherer Raum mit attraktiven Ausflugszielen, insbesondere für Tages- und Wochenendgäste aus den städtischen Zentren. Welche Probleme stellen sich konkret im Jurabogen?

Emilie Moreau: Wir haben etliche Unterkünfte, die ausserhalb gut erreichbarer Orte wie Saignelégier liegen, an Standorten ohne direkten ÖV-Anschluss. Diese Unterkünfte sind verkehrstechnisch ein grosses Problem. Für die Gäste ist es klar, dass sie besser mit dem Auto anreisen, um diesen letzten Streckenabschnitt komfortabel überbrücken zu können. Leider ist unser Angebot an Unterkünften und Aktivitäten über ein Gebiet verstreut, wo längst nicht jede Stelle gut erschlossen ist. Die zweite Herausforderung betrifft die Dienstleistungen. Nicht alle Züge und Busse sind beispielsweise so ausgestattet, dass sie Fahrräder transportieren können. Zudem gibt es für den Gepäcktransport, namentlich jenen der SBB, bis anhin keine guten Lösungen. Warum könnten nicht Einheimische, die gewisse Strecken regelmässig mit dem Auto zurücklegen, eine Art Transportservice anbieten? So müssten Touristinnen und Touristen, die mit dem ÖV anreisen, sich nicht zusätzlich um ihr Gepäck kümmern. Leider stecken diese Ideen noch in den Kinderschuhen, und es gibt noch viele offene Fragen bezüglich Preisen, Versicherungen, Verantwortung usw. Persönlich bin ich überzeugt, dass sich schnell gute Lösungen entwickeln liessen. Im Kanton Jura sind beispielsweise täglich 340 Spitex-Fahrzeuge unterwegs. Diese fahren jeweils nur zu den pflegebedürftigen Personen, hätten aber durchaus Transportkapazitäten für das Gepäck von Touristinnen und Touristen.

Stefan Maissen, wie sehen Sie als Geschäftsführer von Rent-a-bike Ihr eigenes Angebot: Trägt die Velovermietung an Bahnhöfen zu einer nachhaltigeren Entwicklung des Freizeitverkehrs bei? Oder verursacht sie einfach Mehrverkehr?

Stefan Maissen: Zentral an unserem Angebot ist die Einwegmiete von A nach B. Ich kann beispielsweise von Basel nach Lugano fahren oder von Lausanne nach Genf. Diese Einwegmiete ist für uns der eigentliche Grund, eng mit der Bahn zusammenzuarbeiten. Wer mit dem Velo an einem Punkt A startet und an einen Punkt B fährt, für den ist zur Komplettierung der Reise die Bahn das ideale Verkehrsmittel. Unsere Kundinnen und Kunden reisen daher zu einem sehr grossen Teil mit der Bahn an, einfach weil es am meisten Sinn macht. Vergleichen wir unseren Modalsplit mit dem sonstigen Freizeitverkehr in der Schweiz, schneiden wir je nach Angebot um den Faktor 2 bis 3 besser ab. Die Bahnhofsnähe ist für unseren Service entscheidend. Sobald wir einige Kilometer weg sind vom Bahnhof, wird das Auto wieder zum Anreisemittel erster Wahl. Ein weiterer Punkt ist, dass wir auch für Ferien im Jura, Tessin oder in Graubünden vor Ort den entsprechenden Service bieten. Im ganzen Jurabogen haben wir beispielsweise Mietstationen. Diese sind im Sommer sehr gut ausgelastet von Leuten, die bequem mit der Bahn angereist sind und ihre Sportferien geniessen. Die Einwegmiete von A nach B sowie die Vermietung am Ferienort sind die beiden Punkte, die dazu führen, dass die Leute aufs eigene Auto verzichten. Wichtig ist zudem, diese Services zu kommunizieren und ins Gesamtangebot der Hotels zu integrieren.

Stefan Maissen © regiosuisse

Das Fahrrad boomt derzeit, vor allem in der E-Bike-Version. Kann es eines Tages eine entscheidende Rolle im Freizeit- und vor allem auch im Tourismusbereich übernehmen? Oder bleibt es eine Nische?

Stefan Maissen: Grundsätzlich wächst mit dem Angebot auch die Nachfrage. Was in der Schweiz vielerorts fehlt, sind sichere Velowege. Das Problem stellt sich weniger im ländlichen Raum, wo es viele spannende und sichere Routen gibt, sondern vielmehr in den Städten und Kleinstädten. In Mailand oder Bozen kann ich auf einem vier Meter breiten Radweg mitten ins Zentrum fahren. Wollen wir das Fahrrad künftig im Tourismus besser nutzen, braucht es auch in der Schweiz eine bessere Infrastruktur mit besseren Radwegen, die vom motorisierten Verkehr getrennt sind.

Vincent Kaufmann: Wir sollten auch beim Fahrrad die ältere Bevölkerung nicht vergessen. Man kann nicht einfach die Siebzigjährigen aufs Fahrrad setzen ohne zusätzliche Infrastrukturen, die mehr Komfort und Sicherheit bieten. Die Leute aus meiner Generation und aus der Generation meiner Kinder mögen zwar bereits eingefleischte Fahrradfahrerinnen und -fahrer sein. Dabei dient das Fahrrad nicht nur als ideales Transportmittel, sondern auch als Fitnessgerät. Verbesserte Infrastrukturen könnten die Nutzung des Fahrrads fördern. In der Drei-Seen-Region, wo ich ursprünglich herkomme, war Radfahren geradezu gefährlich. Das ist heute immer noch so. Wir brauchen bessere Infrastrukturen, nationale Routen und Wege, die in einem dichten Netz miteinander verbunden sind.

Gibt es im Jura Projekte zur Verbesserung der Fahrradinfrastruktur?

Emilie Moreau: Im Jura gibt es aktuell ein Projekt auf Kantonsebene, in das verschiedene Akteurinnen und Akteure involviert sind. Grössere Orte wie Saignelégier oder St. Ursanne werden mit öffentlichen Fahrradstationen und Fahrrädern ausgestattet. Zudem werden Hotels unterstützt, die ein spezielles Angebot für Gäste mit Fahrrad bieten. Diese können sich dann als «Bike-Hotels» vermarkten. Auch verschiedene Gemeinden fördern den Fahrradtourismus. Beim Kanton fehlt jedoch das Geld, um in nächster Zeit in Velorouten zu investieren.

Emilie Moreau © regiosuisse

Auch nationale Instrumente und Förderprogramme unterstützen Projekte zur Entwicklung zukunftsweisender Verkehrs- und Mobilitätslösungen. Was tragen diese Förderinstrumente bei, die enormen Herausforderungen zu bewältigen?

Stefan Maissen: Wir haben, um nur ein Beispiel zu nennen, die «Herzschlaufe rund um den Napf» mit einem Projekt der Neuen Regionalpolitik (NRP) realisiert. Mit Innotour haben wir den «Bikepark Jura» im Val de Travers geschaffen und neue Routen auf den Creux du Van signalisiert. Geht es um lokale oder regionale Projekte, sind die Förderprogramme sehr wertvoll. Es fehlt jedoch die Übersicht. Man bekommt nicht immer mit, was alles läuft und was überhaupt möglich wäre. Ich würde mir eine bessere Koordination der verschiedenen Fördergefässe wünschen und in vielen Bereichen natürlich auch mehr finanzielle Mittel. Es ist leider immer wieder so, dass die regionalen Träger und die privaten Unternehmen grosse Teile des Budgets tragen müssen. Geht es um die Infrastruktur, ist dies nicht immer nachvollziehbar. Gerade für den besonders wichtigen Ausbau der Infrastruktur fehlen häufig die Mittel. Die Förderprogramme genügen nicht, wenn es gilt, Regionen rasch aufzurüsten, die heute über kein gutes Angebot verfügen. Die Kantone oder der Bund müssen die Führungsaufgabe übernehmen, die sie mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Veloweggesetz (VWG) gefasst haben.

Emilie Moreau: In den Bereichen des Transports und der Mobilität ist nach unseren Erfahrungen Innotour das wirksamste Förderinstrument. Im Rahmen der NRP stossen wir hingegen immer wieder an Grenzen, weil über dieses Instrument nur begrenzt Infrastrukturen finanziert werden.

Vincent Kaufmann: Alle Förderprogramme haben ihre Stärken und sind wichtige Instrumente, weil sie Experimente und Pilotprojekte zulassen. Was darüber hinaus jedoch fehlt, ist ein Denken in grösseren Massstäben und der Wille, wirklich eine nationale Politik zu machen. Zum Beispiel haben wir jetzt viel über nachhaltige Mobilität gesprochen, aber nicht übers Auto. Solange jedoch alle sich im Auto weiterhin günstig und frei fortbewegen können, bleibt es schwierig, nachhaltigen Alternativen zum Durchbruch zu verhelfen.

Das alte deutsche Wort für Tourismus ist «Fremdenverkehr»; Tourismus ohne Mobilität und Verkehr ist schlicht undenkbar. Oder doch?

Stefan Maissen: Was im Tourismus unter Nachhaltigkeit angeboten wird, wirkt oft ein bisschen hilflos. Natürlich kann man vor Ort lokale Produkte geniessen und den lokalen ÖV benutzen. Aber die ökologische Gesamtwirkung solchen Verhaltens ist gering, wenn ich von Asien anreise oder umgekehrt. Man kann hier also nur versuchen, das Nahe zu propagieren. Das heisst dann auch, dass wir als Schweizer Unternehmen die Leute motivieren, hier die Freizeit mit dem Bike zu verbringen und nicht beispielsweise nach Kanada zu fliegen. Der grosse Hebel in der Gesamtwirkung ist, dass die Leute auf Fernreisen verzichten und stattdessen in der Nähe bleiben. Wir als Dienstleister versuchen, unsere Angebote so attraktiv zu gestalten, dass die Leute wirklich auch Lust verspüren, in der Schweiz Fahrradferien zu machen.

Emilie Moreau: Der Jura kämpft – nicht ohne Grund – gegen das Image, schwer zugänglich und schlecht erschlossen zu sein. Er wirkt deshalb immer weiter entfernt, als er tatsächlich ist. Dieses Problem ist schwierig zu lösen. Das Auto ist deshalb immer noch das bevorzugte Verkehrsmittel, um in den Jura zu gelangen. Das dürfte sich auch nicht so schnell ändern, zumal seitens der Politik kein Willen für Veränderungen zu spüren ist.

Vincent Kaufmann: In ganz Europa beobachten wir zunehmend junge Leute zwischen 25 und 35, die gut gebildet sind, aus dem urbanen Raum kommen und entweder keinen Führerschein besitzen oder einfach keine Lust haben, sich in den Ferien mit dem Auto fortzubewegen. Diese Leute sind tendenziell recht gut situiert. Und sie wählen ihre Feriendestination anhand des Kriteriums, ob sie ohne Auto gut erreichbar ist. Es müsste das Ziel sein, dieser Gruppe von Leuten auch möglichst viele Feriendestinationen in der Schweiz leicht zugänglich zu machen.

Was wäre die wichtigste Massnahme im Hinblick auf eine nachhaltigere Mobilität im Freizeit- und Tourismusbereich?

Stefan Maissen: Infrastrukturen im Fahrradbereich ausbauen. Das kostet zwar viel Geld, angesichts der gesamten Investitionen in den Strassenbau müsste das aber eigentlich finanzierbar sein. Viel helfen würden auch gute ÖV-Direktverbindungen – nicht nur die klassischen Pendlerfahrpläne, sondern Direktzüge in die Tourismusregionen, und zwar mitsamt Gepäckservice und Velotransport.

Vincent Kaufmann: Abonnements und gute Angebotspakete sind entscheidend. Ganz wichtig ist auch die Koordination der Fahrpläne. Wenn man zum Beispiel am Wochenende ins Wallis reist, fährt das letzte Postauto in Sitten um 19 Uhr. Um dieses zu erreichen, muss man vor 18 Uhr in Lausanne und vor 17 Uhr in Genf abreisen, was für viele Berufstätige nicht möglich ist. Solch rücksichtlose Fahrpläne vermitteln den Leuten das Gefühl, dass sie nicht mit den ÖV anreisen sollen. Dichtere Fahrpläne bedeuten Zusatzkosten, die aber nicht zu vermeiden sind, wenn man die Gewohnheiten der Leute ändern will.

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Öffentliche Beschaffung – Hebelwirkung für die Kreislaufwirtschaft

Pirmin Schilliger

Mit einem Volumen von rund 40 Milliarden Franken ist der öffentliche Sektor der wichtigste Einkäufer auf dem Beschaffungsmarkt. Dies bietet einen mächtigen Hebel, die Kreislaufwirtschaft voranzubringen. Das Kompetenzzentrum Prozirkula wurde vor zwei Jahren gegründet mit dem Ziel, die Transformation von der Wegwerf- zur Kreislaufwirtschaft bei der öffentlichen und der privaten Beschaffung zu beschleunigen.

Die Niederlande setzen schon seit Jahren Milliardenbeträge ein, um die Kreislaufwirtschaft über das öffentliche Beschaffungswesen anzukurbeln. Vor vier Jahren starteten die Organisation Circular Economy Switzerland und das Beratungsunternehmen ecos mit dem Projekt «Circular Cities Switzerland» damit, das niederländische Know-how in der Schweiz fruchtbar zu machen. Aufgrund der Erfahrungen daraus entwickelten die beiden Kreislaufexperten Marco Grossmann (ecos) und Raphael Fasko (Beratungs- und Ingenieurbüro Rytec Circular) die Idee eines Kompetenzzentrums für kreislauffähige öffentliche Beschaffung, was schliesslich in die Gründung von Prozirkula mündete.

Mithilfe einer Anschubfinanzierung durch die MAVA-Stiftung starteten Rytec und ecos im Frühjahr 2020 mit dem Aufbau des Kompetenzzentrums. Nach zweijähriger Startphase firmiert Prozirkula seit April 2022 als schlanke GmbH mit Geschäftsführerin Antonia Stalder als einziger Angestellten. Zusätzlich sind Mitarbeitende von ecos und Rytec Circular auf Mandatsbasis regelmässig für Prozirkula tätig. Das Geschäftsmodell sieht vor, dass sich die junge Firma mit ihrem Dienstleistungsangebot spätestens ab 2024 selbst finanzieren sollte. Stalder gibt sich optimistisch: «Von Beginn weg hat sich gezeigt, dass das Interesse an unserem Angebot sehr gross ist und sich laufend vergrössert.»

Prozirkula © regiosuisse

Der sanfte Druck des Gesetzes

Ein wesentlicher Grund für das steigende Interesse ist das revidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB), das seit 2021 in Kraft ist. Die Verwaltungsangestellten und die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene stehen seither mehr oder weniger in der Pflicht, Kriterien der Nachhaltigkeit und spezifisch der Kreislaufwirtschaft bei der Beschaffung stärker zu gewichten. Nicht allein der Preis soll das entscheidende Zuschlagsargument sein. Kriterien wie Ressourcenschonung, Energieeffizienz, Klimaneutralität usw. sollen viel stärker einbezogen werden.

Nicht von ungefähr richtet sich der Fokus von Prozirkula primär auf die öffentliche Beschaffung: Mit einem Einkaufsvolumen von rund 40 Milliarden Franken ist der öffentliche Sektor der grösste Player auf dem Beschaffungsmarkt. Lässt er seine Muskeln spielen, verfügt er über den grössten Hebel zur Beschleunigung der Kreislaufwirtschaft. Mit seinen Entscheiden für kreislauffähige Beschaffungslösungen kann er die entscheidenden Weichen für eine nachhaltige Entwicklung stellen. Bedauerlich ist allerdings, dass das Gesetz es bei Empfehlungen bewenden lässt. Den Entscheidungstragenden bleibt dadurch weiterhin viel Spielraum, bei der Beschaffung zwischen der günstigsten und der ökologischsten Variante zu wählen.

Pionierarbeit und Pilotprojekte

Prozirkula startete unmittelbar nach der Gründung ein erstes Pilotprojekt, dem mittlerweile weitere Projekte folgten. Auf Basis des «Leitfadens für den Wiedereinsatz von Möbeln» hat das Amt für Umwelt und Energie Basel-Stadt (AUE) beispielsweise das alte Mobiliar im 2021 fertiggestellten Neubau im Zentrum von Basel wiederverwendet. Auch das Gebäude selbst, ein Hybrid aus Holz und Beton, mit Photovoltaikfassade und im Minergie-A-Eco-Standard gebaut, ist grösstenteils kreislaufkonform. Die Industriellen Werke Basel (IWB) hat Prozirkula unterstützt, Kreislaufwirtschaftsprinzipien in die Ausschreibung für Elektroladesäulen zu integrieren. Auch Armasuisse setzt neuerdings auf Ausschreibungskriterien von Prozirkula, wann immer sie elektronisches Gerät einkauft. Die SBB arbeiten mit einem von Prozirkula mitentwickelten Analysewerkzeug, um einzelne Warengruppen in Bezug auf ihre Kreislaufchancen und -risiken zu bewerten.

«Wann immer Kreislaufwirtschaft-Projekte angestossen werden, kommen die Beteiligten nicht darum herum, Pionierarbeit zu leisten», meint Stalder. Es gebe erst wenige Vorzeigebeispiele; Standardlösungen, die man einfach so übernehmen könne, seien noch kaum verfügbar. «Die Beschaffungsverantwortlichen können selten fertige Angebote und Produkte ab Stange einkaufen, sondern müssen zusammen mit den Lieferanten neue Lösungen entwickeln», skizziert Stalder die eigentliche Herausforderung. Der Wandel hin zur Kreislaufwirtschaft beginne dabei im Kopf, denn die zirkuläre Beschaffung basiere auf einer neuen Denkweise. Die Verwaltungsangestellten und Manager betreten in der Regel Neuland und werden mit ungewohnten Anforderungen konfrontiert, wenn sie sich für eine kreislauffähige Beschaffung interessieren. Prozirkula bietet ihnen in dieser Situation professionelle Unterstützung. «Wir begleiten die Beschaffungsprozesse und sorgen dafür, dass die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft bereits in die Ausschreibungen einfliessen», so Stalder. Das Kompetenzzentrum Prozirkula fördert die Transformation zu kreislauffähigen Produktions- und Konsumpraktiken mittels Beratung, Weiterbildung, Wissenstransfer, Vernetzung und durch eine Wissensdatenbank. «Über Leuchtturmprojekte und über unsere Erfahrungen berichten wir regelmässig an Veranstaltungen, unter anderem am ‹Anwenderforum Kreislaufwirtschaft› im September dieses Jahres», sagt Stalder.

Ökologischer und ökonomischer Mehrwert

Das Kompetenzzentrum spricht mit seinen Dienstleistungen zwar primär die öffentlichen Beschaffungsstellen an, doch auch die Procurement-Managerinnen und -Manager der Unternehmen liegen bei den Kreislaufwirtschaft-Spezialisten von Prozirkula grundsätzlich richtig. «Firmen, die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft strategisch in ihre Prozesse integrieren, können sich bessere Chancen ausrechnen, bei öffentlichen Aufträgen die Nase vorn zu haben», zeigt sich Stalder überzeugt. Gefragt sind immer häufiger Geschäftsmodelle, bei denen ökologischer und ökonomischer Mehrwert Hand in Hand gehen. Gute Karten hat in dieser Beziehung beispielsweise der Möbelhersteller Zesar in Tavannes JU, der kreislauffähige Schul- und Büromöbel entwickelt hat.

Nutzt die öffentliche Beschaffung konsequent ihre Nachfragemacht und setzt nur noch auf Anbietende mit kreislauftauglichen Geschäftsmodellen, bewirkt dies einen Schneeballeffekt. Die Transformation in Richtung Kreislaufwirtschaft wird so auch in der Industrie und im Gewerbe angekurbelt. Nicht zuletzt leisten damit alle Beteiligten einen entscheidenden Beitrag dazu, das Sustainable Development Goal (SDG) 12, «Verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster», und weitere SDG zu erreichen.

prozirkula.ch

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Kreislaufwirtschaft – die besonderen Chancen der Regionen

Pirmin Schilliger & Urs Steiger
Die Kreislaufwirtschaft (KLW) steht schon seit Jahrzehnten auf der ökologischen Agenda. Mittlerweile ist daraus ein ausgereiftes und umfassendes Konzept für nachhaltiges Wirtschaften entstanden. Es soll nun in der gesamten Wirtschaft umgesetzt werden und damit auch im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP) die regionale Entwicklung inspirieren.
Die Firma Basis 57 nachhaltige Wassernutzung AG nutzt in Erstfeld UR das warme und saubere Bergwasser aus dem NEAT- Gotthardtunnel für die Zander-Zucht. © regiosuisse

© regiosuisse

In der globalen Wirtschaft stammen 90 Prozent der Materialien aus neu gewonnenen Rohstoffen, 40 Prozent davon sind fossile Energieträger. Angesichts dessen ist eine ressourcenschonende Wirtschaftsform vonnöten. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft bietet einen Lösungsansatz, der auf einem System aus erneuerbaren Energien und geschlossenen Materialkreisläufen basiert. Alle bedenklichen Stoffe, die die Umwelt belasten und die Gesundheit gefährden, sollten durch unbedenkliche ersetzt werden.

Das Prinzip der Kreislaufwirtschaft

Als Begründer der Kreislaufwirtschaft (KLW) gilt der britische Wirtschaftswissenschafter David W. Pearce. Zu Beginn der 1990er-Jahre leitete er das Konzept der Kreislaufwirtschaft aus der industriellen Ökologie ab. Der Deutsche Michael Braungart, Professor für chemische Verfahrenstechnik, und der amerikanische Architekt William McDonough entwickelten diesen Ansatz um die Jahrtausendwende konsequent weiter. In ihrem Buch «Cradle to Cradle»1 («Von der Wiege zur Wiege») propagierten sie ein fundamental neues Produktionssystem: Keine Stoffe landen mehr auf der Deponie oder in der Verbrennungsanlage. Alle nicht natürlich abbaubaren Stoffe werden stattdessen zur Produktion neuer Güter wiederverwendet.

In der Kreislaufwirtschaft nach dem «Cradle-to-Cradle»-Prinzip unterscheiden sie drei
Kategorien von Stoffen:


➊ Verbrauchsgüter wie Reinigungsmittel, Shampoos oder Verpackungsmaterialien sind in der Kreislaufwirtschaft konsequent aus biologischen Nährstoffen zu fertigen, sodass sie schliesslich kompostiert und getrost wieder der Umwelt überlassen werden können.


➋ Gebrauchsgüter wie Autos, Waschmaschinen oder Fernsehgeräte, die aus «technischen Nährstoffen» bestehen, sind so zu gestalten, dass sie am Ende ihres Lebenszyklus restlos in wiederverwertbare Bestandteile zerlegt werden können. Die Stoffe dieser Gebrauchsgüter zirkulieren also im industriellen Produktionssystem in einem ewigen Kreislauf.


➌ Ausgedient hat in der Kreislaufwirtschaft die dritte Kategorie, alle jene Stoffe, die wir heute als Abfall verbrennen oder deponieren.

«Es geht in der Kreislaufwirtschaft nicht einfach darum, Abfälle zu reduzieren oder zu minimieren, sondern die Entstehung von Abfall zu vermeiden», betont Michael Braungart, einer der geistigen Väter des Konzepts. Lassen sich Stoffe in Gebrauchsgütern (noch) nicht durch kreislauffähige Alternativen ersetzen, gilt es, den Ressourcenverbrauch zumindest zu reduzieren und die Produkte länger zu gebrauchen.

Kreislaufwirtschaft ist ein ganzheitlicher Ansatz, der den gesamten Kreislauf von der Rohstoffgewinnung über die Design-, Produktions-, Distributions- und eine möglichst lange Nutzungsphase bis hin zum Recycling betrachtet. Gelingt es, Material- und Produktkreisläufe zu schliessen, können Rohstoffe immer wieder von neuem verwendet werden. © BAFU/regiosuisse

Ein globales interdisziplinäres Projekt

Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern bildet eine unabdingbare Voraussetzung für eine künftige Kreislaufwirtschaft. Mit der Energiewende ist die Schweiz diesbezüglich politisch auf Kurs, die Rück- beziehungsweise die Überführung sämtlicher Materialflüsse in einen Kreislauf bildet hingegen eine enorme Herausforderung. Damit die Transformation gelingt, bedarf es weiterer Weichenstellungen – auch auf politischer Ebene. «Es gibt für die Hersteller keine Notwendigkeit, freiwillig dem ‹Wiege-zur-Wiege›-Prinzip zu folgen, solange die Steuerzahlenden für die Entsorgung in den teuren Kehrichtverbrennungsanlagen aufkommen», bemängelt Braungart. Die Transformation der linearen in eine zirkuläre Wirtschaft ist ein globales interdisziplinäres Projekt, in das alle Akteurinnen und Akteure eingebunden werden müssen, von der Rohstoffgewinnung über die Entwicklung und das Design der Produkte, die Herstellung und Distribution/Logistik, den Konsum bis hin zum Abfallmanagement. Letzteres sorgt dafür, dass die Stoffe nicht länger «entsorgt» werden, sondern zwingend als Sekundärrohstoffe in den Kreislauf zurückfliessen. Doch betrifft die Kreislaufwirtschaft auch die Formen der Nutzung und damit der Geschäftsmodelle. Die Devise lautet: mieten (statt kaufen), teilen/sharing (statt besitzen), reparieren/wiederaufbereiten/erneuern (statt wegwerfen)! Die Konsumentinnen und Konsumenten können mit ihren Konsumgewohnheiten und Verhaltensmustern wesentlich zum Wandel beitragen.

Mit Kreislaufwirtschaft ökonomisch erfolgreich

Im Bereich der Produktion sind vor allem die Unternehmen gefordert. Verschiedene Pioniere
haben mit Produkten wie Stühlen, Turnschuhen oder Teppichböden bereits gezeigt, dass kreislaufähige Geschäftsmodelle wirtschaftlich erfolgreich sein können. Die Firma Forster Rohner in St.Gallen hat vor Jahren kompostierbare Polsterbezüge für Büro- und Flugzeugstühle entwickelt. Die strengen Vorgaben des Labels «Cradle to Cradle» erfüllen allerdings erst wenige Unternehmen. Vögeli Druck in Langnau im Emmental zum Beispiel hat 2016 als weltweit erste Druckerei die «Cradle-to-Cradle»-Goldzertifizierung (Cradle to Cradle Products Innovation Institute, c2ccertified.org) erhalten.

In der Metall- und Maschinenindustrie führt der Weg zur Kreislaufwirtschaft meist über einen mehrstufigen Optimierungsprozess. Der Schweizer Küchenhersteller Franke verbraucht für seine Edelstahlspülen dank Prozessverbesserungen heute drei Viertel weniger Energie als noch vor wenigen Jahren und bloss noch halb so viel Edelstahl. In der Industrie ist es heute Standard, dass viele Metalle, vor allem Platin, Gold und Palladium, rezykliert werden; einfach weil diese Stoffe zu wertvoll sind, um im Abfall zu landen, und sich viele Metalle ohne Qualitätseinbusse problemlos für einen nächsten Produktionszyklus aufbereiten lassen. Rund 1,6 Millionen Tonnen Eisen- und Stahlschrott werden so in der Schweiz jährlich zu Bau- und Edelstahl aufbereitet. Ausserdem gelangen 3,2 Millionen Tonnen separat gesammelte Siedlungsabfälle wieder in den Kreislauf. Im Hoch- und Tiefbau werden knapp 12 Millionen Tonnen oder zwei Drittel der Rückbaumaterialien wie Beton, Kies, Sand, Asphalt und Mauerwerk wiederverwertet. «Weitere 5 Millionen Tonnen Rückbaumaterialien sowie 2,8 Millionen Tonnen Siedlungsabfälle sind hingegen (noch) nicht im Kreislauf», sagt David Hiltbrunner von der Sektion Rohstoffkreisläufe des Bundesamtes für Umwelt (BAFU). Eine besondere Herausforderung bleiben vorderhand Textilfasern, Kunst- und Verbundstoffe, Elektroschrott, Chemikalien sowie gewisse biogene Abfälle. Es sind Stoffe, die sich – wenn überhaupt – nur mit enormem Aufwand zerlegen und wiederaufbereiten lassen. Allerdings wächst auch in diesen heiklen Bereichen die Zahl der Firmen, die nach Prinzipien der Kreislaufwirtschaft innovative Geschäftsmodelle entwickeln. So bietet etwa die Möbelhandelsfirma Pfister seit 2018 entsprechend zertifizierte Vorhänge an. Das Start-up trs (Tyre Recycling Solutions) in Yvonand VD macht alte Pneus wieder verkehrstüchtig, und die Firma Bauwerk in St. Margrethen SG bereitet alte Parkettböden auf.

© regiosuisse

Abschied von der Wegwerfgesellschaft

Damit auch komplexe Konsumgüter wie Waschmaschinen, Computer oder Autos kreislauffähig werden, sind griffige politische Rahmenbedingungen erforderlich. Die EU-Ökodesign- und Abfallrahmenrichtlinien verlangen ausdrücklich die Förderung nachhaltiger Produktions- und Konsummodelle, insbesondere eine Gestaltung, die auf Langlebigkeit ausgerichtet ist, sowie die Reparierbarkeit von Elektrogeräten, Massnahmen gegen Lebensmittelverschwendung und Informationskampagnen in der Bevölkerung. Einzelne Länder sind in der Umsetzung schon weit. Die Niederlande etwa setzen in der öffentlichen Beschaffung seit zehn Jahren gezielt auf Güter, die nach dem «Wiege-zur-Wiege»-Prinzip gefertigt sind, und geben für die öffentliche Beschaffung nach Kreislaufwirtschaft-Kriterien zweistellige Milliardenbeträge aus. Mit dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft («Circular Economy Action Plan») hat die EU ihre Bemühungen 2020 nochmals verstärkt. Derzeit wird darüber diskutiert, die Ökodesign-Richtlinien auf sämtliche Konsumgüter auszuweiten, denn die EU möchte sich dereinst definitiv vom System der Wegwerfgesellschaft verabschieden. Die EU-Richtlinien gelten auch für alle Schweizer Hersteller, die Produkte in die EU-Länder exportieren möchten.

Es ist kein Zufall, dass das Ökodesign im EU-Aktionsplan an erster Stelle steht: Bis zu 80 Prozent der späteren Umweltbelastung eines Produktes werden in der Design-Phase vorbestimmt, ebenso dessen Lebensdauer und Reparaturanfälligkeit. Zudem gilt die ökologische Faustregel: Suffizienz vor Kreislauf! Ein schonender Umgang mit Ressourcen, der sich auf das Notwendigste beschränkt, vermeidet Leerläufe und erspart viel späteren Aufwand. «Zur Kreislaufwirtschaft tragen alle Strategien bei, die helfen, die Stoffe und Materialien sparsamer, effizienter und länger zu verwenden», meint Hiltbrunner.

Die Agenda der Schweiz

Auch in der Schweiz steht die Kreislaufwirtschaft auf der politischen Agenda weit oben. Aus gutem Grund: In kaum einem anderen Land fällt – trotz hoher Recyclingquoten – pro Kopf der Bevölkerung so viel Siedlungsabfall an wie in der Schweiz.

Im Parlament sind mindestens acht Vorstösse hängig, die sich auf die Kreislaufwirtschaft beziehen, als wichtigste die parlamentarische Initiative 20.433 «Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken» und der Bericht der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrates vom 11. Oktober 2021. Eine aktuelle Standortbestimmung zur Kreislaufwirtschaft hat der Bundesrat in diesem Frühjahr vorgenommen. Relevante Potenziale für die Kreislaufwirtschaft gibt es demnach vor allem in den Bereichen «Bauen und Wohnen», «Land- und Ernährungswirtschaft», «Mobilität», «Maschinenbau» sowie «chemische Industrie».Die Bundesverwaltung hat eine ganze Reihe von Vorschriften und Normen identifiziert, die eine Kreislaufwirtschaft noch behindern. Wie sich diese Hürden beseitigen lassen, wird abgeklärt. Klar scheint, dass die Aspekte einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft künftig in die Sektoralpolitiken des Bundes einfliessen müssen. Laut Bundesrat geschieht dies am besten in Übereinstimmung mit der «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» (SNE 2030) des Bundes und mit den nationalen Langfriststrategien zur Klima-, Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik.

© regiosuisse

Weiterentwicklung der NRP

Die explizite Förderung der Kreislaufwirtschaft – bisher kein Programmpunkt der NRP – dürfte als ein Element in die nächste Programmperiode einfliessen. Dies deckt sich auch mit dem Anliegen von Romed Aschwanden, dem Geschäftsführer des Urner Instituts «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern, wonach die NRP radikal am Prinzip der Nachhaltigkeit auszurichten sei. «Denn die Lohnungleichheit ist nicht länger das eigentliche Problem in den Randregionen und Berggebieten, sondern der Klimawandel», argumentiert er.

Bei den zuständigen Ämtern, allen voran dem SECO und den kantonalen NRP-Fachstellen, laufen bereits die notwendigen Vorarbeiten. Den Rahmen für die Weichenstellung setzen die siebzehn Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDS) der Vereinten Nationen (UNO). Diese sogenannte «Agenda 2030» bildet für die Schweiz bereits heute den Orientierungsrahmen für die «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030». Entsprechend kann sich die Direktion für Standortförderung des SECO darauf stützen, wenn es gilt, die Ideen und Ziele der nachhaltigen Entwicklung in der NRP zu verankern. «Im Schwerpunktthema ‹nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion› wird die Kreislaufwirtschaft eine wichtige Rolle spielen», sagt Ueli Ramseier, der die Arbeiten für die Nachhaltigkeit in der NRP beim SECO koordiniert. Zudem fördert die NRP mit dem Schwerpunkt «Klima, Energie und Biodiversität» seit Jahren erneuerbare Energien und die Gestaltung nachhaltiger und resilienter Siedlungsräume.

Die Abstimmung der NRP auf die nachhaltige Entwicklung ist als Weiterentwicklung und Ergänzung der NRP zu verstehen, nicht als Systemwechsel. Die Beiträge zu den gesellschaftlichen und ökologischen Aspekten der nachhaltigen Entwicklung sollen in der Programmperiode 2024–2027 weiter ausgestaltet und stärker gewichtet werden. Die NRP wird jedoch auch in Zukunft ihren regionalwirtschaftlichen Fokus beibehalten, die kantonalen NRP-Fachstellen und das SECO sollen aber vermehrt NRP-Projekte mitfinanzieren, die die Kreislaufwirtschaft ins Zentrum stellen. «An den übergeordneten Zielen – die Wettbewerbsfähigkeit der Regionen zu stärken, Arbeitsplätze zu schaffen, eine dezentrale Besiedlung zu erhalten und regionale Disparitäten abzubauen – hält die NRP fest», betont Ramseier.

Stärken der Regionalpolitik nutzen

Bei der Förderung der Kreislaufwirtschaft spielen die Regionen eine wichtige Rolle, auch wenn sie sich nicht auf den ersten Blick erschliesst. Dieser Herausforderung hat sich im letzten Jahr regiosuisse – die Netzwerkstelle für Regionalentwicklung – angenommen. «Wir möchten Know-how aufbauen, das notwendige Wissen vermitteln und konkrete Hilfestellungen für Regionen entwickeln», erläutert Lorenz Kurtz, Projektleiter regiosuisse. Im Rahmen der regiosuisse-Wissensgemeinschaft «Kreislaufwirtschaft und Regionalentwicklung» wurde in den vergangenen Monaten relevantes Wissen in Form einer Praxistoolbox mitsamt inspirierenden Beispielen aufbereitet. Um das komplexe Thema für die Regionen umsetzungsreif weiterzuentwickeln, startete regiosuisse im März dieses Jahres mit dem «Kreislaufwirtschafts-RegioLab». Dessen Ziel ist es, aufzuzeigen, wie die Regionen die Kreislaufwirtschaft in ihre regionalen Strategien integrieren können.

Chancen eröffnen sich den Regionen mit der Kreislaufwirtschaft, wenn sie auf Themen und Bereiche fokussieren, die ohnehin bereits regional und weniger global strukturiert sind: Land- und Forstwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Holzverarbeitung, erneuerbare Energien, Infrastrukturen, regionale Dienstleistungen und damit auch der Tourismus. Eine systematische Analyse der Materialflüsse und Produktionsketten in diesen Bereichen zeigt, dass das regionale Potenzial für die Kreislaufwirtschaft riesig ist. Um die Kreislaufwirtschaft zu fördern, sind nebst der Bildungs- und Wissensvermittlung zusätzliche finanzielle Anreize notwendig. Geld braucht es für die Projekte an sich, aber auch für die professionelle Projektbegleitung und die Ausarbeitung regionaler Kreislaufwirtschaft-Entwicklungsstrategien. «Denkbar ist, für besonders anspruchsvolle Projekte der Kategorie ‹5-Sterne-Nachhaltigkeit› den Förderrahmen zu erweitern und dafür künftig mehr Bundesmittel zu sprechen», meint Ramseier.

Norman Quadroni, Leiter Regionalpolitik Arcjurassien, sieht in der Kreislaufwirtschaft eine grosse Chance, den natürlichen Reichtum der ländlichen Regionen, Grenz- und Berggebiete besser zu nutzen. Er ist überzeugt, dass sich damit Ressourcen in Wert setzen lassen, die unter einer rein exportorientierten Entwicklungsperspektive auf der Strecke bleiben würden. «Bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten, die heute international organisiert sind, könnten wieder in die Region zurückgeholt und in kurze Kreisläufe eingebunden werden», so Quadroni. Die Regionen sind dank ihrer Eigenschaften und Qualitäten wie Kleinräumigkeit, Überschaubarkeit und Nähe für die Initiierung von Kreislaufprozessen grundsätzlich prädestiniert. Denn die interdisziplinäre und überbetriebliche Zusammenarbeit in Netzwerken, wie sie die NRP seit Anbeginn praktiziert, ist in der Kreislaufwirtschaft besonders gefragt.

regiosuisse.ch/kreislaufwirtschaft

bafu.ch

Förderer der Kreislaufwirtschaft

Neben regiosuisse engagieren sich verschiedene Organisationen dafür, interessierten Akteurinnen und Akteuren Know-how, Empowerment und Coaching zur Kreislaufwirtschaft anzubieten:

Go for impact Der vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) mitinitiierte Verein «Go for impact» versteht sich als Impulsgeber für die Kreislaufwirtschaft in der Schweiz. Er setzt sich politisch und wirtschaftlich dafür ein, die Kreislaufzukunft der Schweizer Wirtschaft mitzugestalten.

Circular Economy Switzerland Das wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich breit abgestützte Netzwerk richtet sich mit seiner Plattform an alle an der Kreislaufwirtschaft interessierten Organisationen, Firmen und Personen. Es hat eine Charta zur KLW ausgearbeitet und unterstützt sämtliche Initiativen mit Wissen, Veranstaltungen und politischem Lobbying.

CircularHub Die Wissens- und Netzwerkplattform zur Kreislaufwirtschaft in der Schweiz adressiert innovative Unternehmen und Startups mit Ausbildungs-, Beratungs- und Projektbegleitungsangeboten.

Netzwerk Ressourceneffizienz Schweiz (Reffnet) Expertinnen und Experten des Reffnet beraten und begleiten Firmen bei der Erarbeitung eines Massnahmenplans für eine höhere Ressourceneffizienz.

Ressourcendruck-Designmethode Eine Forschungsgruppe an der Empa hat im Rahmen des NFP 73 «Nachhaltige Wirtschaft» die Ressourcendruck-Designmethode entwickelt. Der neue Ansatz soll beim Design von Produkten und Dienstleistungen zu nachhaltigeren Entscheidungen beitragen.

PRISMA Die Interessengemeinschaft von Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie und der Konsumgüterbranche sowie der Verpackungsindustrie strebt die Realisation der Kreislaufwirtschaft im Bereich der Verpackungen an.

Prozirkula Das Kompetenzzentrum engagiert sich für die Integration der KLW-Prinzipien in die öffentlichen und privaten Beschaffungsprozesse. Es bietet Beratung, Wissenstransfer und Networking (siehe auch Artikel Öffentliche Beschaffung – Hebelwirkung für die Kreislaufwirtschaft).

WÖB Wissensplattform des Bundes für nachhaltige öffentliche Beschaffung.

Kompass Nachhaltigkeit Vom SECO finanzierte und von der Stiftung Pusch zusammen mit dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften (öbu) betriebene Wissensplattform.

Die Ideenbörse – Initiativen und Projekte zur Kreislaufwirtschaft

Landwirtschaft/Lebensmittel

Star’Terre Regionale Produktion/regionale Vermarktung/kurze Kreisläufe, interkantonale Lebensmittel-Plattform in der Region Genfersee (vgl. Artikel Vernetzung von Landwirtschaft und Start-ups).

Gemüsebau Gebr. Meier Primanatura AG in Hinwil ZH CO2-freie Gewächshäuser mithilfe von Abwärme der Kehrichtverbrennungsanlage und aus der Luft gefiltertem CO2 – geschlossene Kreisläufe.

Bösiger Gemüsekulturen AG in Niederbipp BE zirkulärer Gemüsebau.

Aquaponik Verbindung von Fischzucht und bodenunabhängiger Landwirtschaft in einem Kreislauf. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW) forscht und lehrt auf diesem Gebiet und bietet Kurse für Einsteiger und Interessenten an.

Energie-Farming Tropenhaus Frutigen Aquakultur mit Fischzucht in Kreislaufanlage.

Food-Waste-Projekte: Start-up/App «Too good to go», Plattform «United against Waste».

«Kreislaufwirtschaft im Seeland» (NRP-Projekt 2021–2023): Restaurants, Bäckereien und Betriebe der Gemeinschaftsgastronomie versuchen zusammen mit weiteren Akteuren (Gemüseproduzenten, Konsumenten), die Kreisläufe der Wertschöpfungskette zu schliessen.

Centravo AG in Lyss BE Das Unternehmen verwertet seit 25 Jahren tierische Bestandteile, die von den Metzgereien nicht genutzt werden.

Fine Funghi AG Das Zürcher Unternehmen produziert Bio-Pilze aus dem Abfall (Weizenkleie) einer Getreidemühle.

RethinkResource Das Start-up hat den B2B-Marktplatz «Circado» aufgebaut, um industrielle Nebenprodukte der Lebensmittelproduktion zu verwerten.

Ricoter Erdaufbereitung AG Das 1981 gegründete Unternehmen produziert in Aarberg BE und Frauenfeld TG Gartenerde aus den organischen Abfällen der Zuckerraffinerien.

Brauerei Locher Appenzell AI agroindustrielles Projekt.

ortoloco – Hofkooperative in Dietikon ZH 500 Personen wirtschaften und entscheiden gemeinsam als Produzentinnen un Produzenten, Konsumentinnen und Konsumenten.

Einkaufsgemeinschaften, bei denen die Konsumenten direkt mit den Produzenten kooperieren: u.a. Tante Emmen, Koop Teiggi Kriens, Plattform Crowd Container, IG Foodcoops.

Qwstion Das Zürcher Taschenlabel hat ein neues textiles Material lanciert, das aus den Fasern der Bananenstaude «gewoben» wird.

Bauwirtschaft/Immobilien

Zirkuläres Bauen (Beat Bösiger, bluefactory), Rückbau, Recyclingbeton, Verwendung von lokalen, nachhaltigen, erneuerbaren Materialien usw., Ausbau Asphalt.

Eberhard Bau AG Das Unternehmen ist seit vier Jahrzehnten Pionier des Baurecyclings. Es verwandelt Bauschutt ohne Qualitätseinbusse in Sekundärrohstoffe.

Weitere Spezialisten des Baurecyclings Ronchi SA in Gland VD, Sotrag SA in Etoy VD, Kästli Bau AG in Rubigen BE,BOWA Recycling in Susten.

Neustark in Bern Die Berner Firma ist spezialisiert auf die Versteinerung von atmosphärischem CO2 in verwertetem Beton.

Integrierte Planung und gemeinsame Bewirtschaftung von Industrie- und Gewerbegebieten Projekte in Le Locle NE, St-Imier NE , im Val-de-Ruz NE, im Sensebezirk BE (Arbeitszonen), in Sierre VS (Ecoparc de Daval), Schattdorf UR usw.

enoki in Fribourg Das Freiburger Start-up entwirft und plant kreislauffähigere Quartiere und Städte.

Terrabloc in Genf Die Genfer Firma Terrabloc produziert Bau- und Dämmstoffe aus Lehm.

VADEME Das Interreg-Projekt zielt auf eine koordinierte Lösung für mineralische Bauabfälle in den Regionen Genf und Annecy ab (vgl. Artikel VADEME: mineralische Abfälle aufwerten).

ORRAP Interreg-Projekt (2016–2019) für das Recycling von Ausbauasphalt in der Region Basel.

Organisatorische und strategische Ansätze

AlpLinkBioEco Das im April 2021 abgeschlossene Interreg-Projekt hat einen Wertschöpfungskettengenerator und einen Masterplan entworfen für eine auf natürlichen lokalen Rohstoffen basierende Kreislaufwirtschaft im Alpenraum.

Sharely Das Start-up betreibt eine Miet- und Vermietungsplattform für Alltagsgegenstände.

Make furniture circular Eine Initiative der Stiftung Pusch und des Migros-Pionierfonds zur Förderung von «Kreislauf-Möbeln».

Reparatur- und Recyclingnetzwerke Verschiedene regionale Initiativen zur Förderung von Reparatur- und Recyclingstellen. Dazu zählen auch Secondhand-Days, Secondhand-Shops, Repair-Werkstätten, Up-Cycling-Stellen usw.

Kreislaufwirtschaft im Parc Naturel Régional Chasseral: Relokalisierung von Wertschöpfungsketten, Erhalt und Inwertsetzung von natürlichen lokalen Ressourcen.

Roadmap Kreislaufwirtschaft des Kantons Freiburg kantonale Strategie.

Plattform 1PEC Ideenbörse zur Förderung der Kreislaufwirtschaft im Wallis.

Kreislaufwirtschaft Oberwallis Kreislaufwirtschaft in einem ländlich abgeschlossenen Gebiet (gefördert durch das Programm «Nachhaltige Entwicklung», ARE, 2022).

Share Gallen Networking-Workshop und öffentlicher Markt in St. Gallen (Projekt aus Förderprogramm «Nachhaltige Entwicklung», ARE, 2018).

Erneuerbare Energien

Biogasanlagen: z.B. Kägiswil OW und Kompogasanlage Wauwil LU, beide durch die NRP gefördert, sowie BiogasTicino SA in der Magadino-Ebene.

Satom SA in Monthey VS Methanisierung von Bio-Abfällen.

Kantonales Programm «Wertschöpfungskette Holz» in der Waadt (NRP-Projekt): Holz wird als nachwachsender Energieträger vom Kanton direkt gefördert.

«Zirkulär in die Zukunft»

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Wie kann die Kreislaufwirtschaft in die Wirtschaft und die Gesellschaft integriert und als zukunftsweisendes Modell einer nachhaltigen Entwicklung gezielt gefördert werden? Welche besonderen Chancen eröffnen sich damit der regionalen Wirtschaft? Diese Fragen diskutierten im Gespräch mit «regioS» Marie-Amélie Dupraz-Ardiot, Sustainability-Managerin und Verantwortliche des Kantons Freiburg für die Strategie «Nachhaltige Entwicklung», Antonia Stalder, Geschäftsführerin von Prozirkula, sowie Ökonomieprofessor Tobias Stucki, Co-Leiter des Instituts Sustainable Business an der Berner Fachhochschule Wirtschaft.

regioS: Kreislaufwirtschaft ist ein älteres Konzept. In der Schweiz hat sich die Abfallkampagne des Bundes bereits in den 1990er-Jahren mit Aspekten davon auseinandergesetzt. Können wir folglich heute auf Bestehendem aufbauen, oder starten wir neu?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Das Konzept der Kreislaufwirtschaft ist heute relevanter als je zuvor. Wir können dabei zwar auf Bestehendem aufbauen, aber wir müssen deutlich mehr machen als bisher. Wir dürfen nicht nur das Recycling ansprechen, sondern müssen eine breitere Perspektive entwickeln, in der Themen wie «Abfall vermeiden», «Reparieren» und «Wiederverwenden» eine grosse Rolle spielen.

Tobias Stucki: Wir haben das Denken in Kreisläufen generell noch zu wenig verinnerlicht. Wir müssen dieses Denken auch bei uns wieder in die Köpfe reinkriegen, so wie das früher normal war und heute in ärmeren Ländern noch ganz normal ist. In einer Vorlesung hat ein Student aus Kuba gesagt: «Kreislaufwirtschaft ist, wie wir bei uns leben.»

Antonia Stalder: Einen – zumindest historischen – Anknüpfungspunkt gibt es auch bei uns. In unseren Schulungen erzählen die Teilnehmenden immer wieder, dass ihre Grosseltern noch auf diese Art und Weise gewirtschaftet hätten. Sie haben zum Beispiel ihre Möbel dreissig Jahre lang zweimal im Monat geölt, um sie möglichst lange nutzen zu können. Wir haben solch sorgfältiges Wirtschaften irgendwie verlernt. Wir sind nicht mehr interessiert daran, Dinge mit langlebiger Qualität zu bauen und sie entsprechend zu unterhalten und zu pflegen. Es geht bei der Kreislaufwirtschaft tatsächlich nicht einfach nur um Recycling, sondern um die richtigen Werte. Diese beruhen darauf, dass die Dinge nicht einfach neu und chic sein müssen, sondern dass sie von guter Qualität sind, sodass sie sich mehrmals aufbereiten und immer wieder reparieren lassen – und dabei noch edler aussehen als Neueinkäufe.

Wo stehen wir heute in der Umsetzung gemessen am Fernziel einer konsequent auf erneuerbare und wiederverwertbare Ressourcen ausgerichteten Kreislaufwirtschaft?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Wir sind vom Fernziel noch weit entfernt. Um die Kreislaufwirtschaft überhaupt umsetzen zu können, brauchen wir eine neue Denkweise. Solange in unseren Köpfen nichts passiert, nehmen die Materialflüsse in unserer Wirtschaft unentwegt zu. Wir müssen uns wieder an all das erinnern, was wir von unseren Grosseltern hätten lernen können. 

Antonia Stalder: In der Baubranche beispielsweise verbauen wir mengenmässig so viel, dass wir mit den eingesetzten Materialien jeden Monat New York City frisch aus dem Boden stampfen könnten. Laut Prognosen wird sich bis 2050 daran auch nichts Entscheidendes ändern.

Tobias Stucki: Wir haben erst kürzlich gemeinsam mit der ETH eine repräsentative Befragung bei Unternehmen in der Schweiz durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass lediglich bei rund zehn Prozent der Firmen die Kreislaufwirtschaft schon ernsthaft ein Thema ist. Rund vierzig Prozent der Unternehmen haben hingegen in den letzten Jahren keine Massnahmen zur Steigerung der ökologischen Nachhaltigkeit umgesetzt.

Lässt sich Kreislaufwirtschaft in der Schweiz, deren Wirtschaft bekanntlich extrem in globale Wertschöpfungsketten eingebettet ist, überhaupt umsetzen? Wie können sich die Betriebe organisieren, um zirkulär zu werden?

Tobias Stucki © regiosuisse

Tobias Stucki: Die zirkuläre Transformation setzt in den meisten Fällen voraus, dass man die gesamten Lieferketten überdenken und – zum Teil mit neuen Partnern – neu organisieren muss. Dabei ist nicht die Logistik das grösste Problem. Die eigentliche Herausforderung bilden die Produkte selbst. Zentral ist die Frage, welche Materialien und Stoffe in welchen Produkten überhaupt eingesetzt werden sollen.

Antonia Stalder: Ich glaube nicht, dass wir uns die globalen Wertschöpfungsketten mitsamt allem logistischen Aufwand in diesem Ausmass auch in Zukunft leisten können. Heute produzieren wir – das Wort sagt es – entlang von Ketten, sogenannten Wertschöpfungsketten, die per se linear und nicht zirkulär sind. Wir werden nicht darum herumkommen, in Zukunft viel mehr Produkte und Geräte aufzubereiten, zu reparieren und zu teilen, und zwar im regionalen und lokalen Rahmen. Wenn wir stattdessen unseren globalen Warenverkehr noch stärker ausweiten, sehe ich grosse Probleme auf uns zukommen.

Tobias Stucki: Letztendlich stehen wir bei der Umsetzung einer effizienten Kreislaufwirtschaft einem Trade-off gegenüber: Einerseits macht es natürlich Sinn, Kreisläufe möglichst lokal zu schliessen, andererseits wird dies technisch nicht immer möglich sein. Wir brauchen in Zukunft einen gewissen Mix aus lokalen, regionalen und globalen Wertschöpfungskreisläufen.

Wie beurteilen Sie, Frau Dupraz-Ardiot, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten, die Kreislaufwirtschaft in unserem System einzuführen?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Die Kreislaufwirtschaft wird über kurz oder lang ein wesentlicher Teil der Ökonomie, denn sie ist ein entscheidender Kostenreduktionsfaktor und auch ein Faktor der Wettbewerbsfähigkeit. Ausserdem trägt sie zur Resilienz bei in einer Zeit, in der die Rohstoffpreise rasant steigen und es Engpässe in den Lieferketten gibt. So betrachtet wird die Kreislaufwirtschaft immer mehr auch zum Faktor der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit einer Region.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot © regiosuisse

Gibt es dafür ein erfolgreiches Beispiel?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Im Kanton Freiburg haben wir eine Agrar- und Lebensmittelstrategie entwickelt, die sich stark auf die Umsetzung einer regionalen Kreislaufwirtschaft mitsamt der Vernetzung der Akteurinnen und Akteure konzentriert. Eine der Leitideen ist dabei, die sekundäre Biomasse wiederzuverwerten.

Wo liegen die eigentlichen Knackpunkte bei der Umsetzung?

Antonia Stalder: Der Knackpunkt in der öffentlichen Beschaffung zum Beispiel liegt in der Komplexität. In unserer Beratung versuchen wir, diese auf eine verständliche Ebene herunterzubrechen. Der Bedarf nach dieser Art von Beratung ist vor allem in kleineren Strukturen gross. Ein Kanton hat vielleicht noch die notwendigen Ressourcen, aber eine Gemeinde ist mit dem Thema schnell überfordert. Es fehlen allerdings praktische Instrumente zur Umsetzung. Ich denke an Checklisten, verbindliche Ausschreibungskriterien, Blueprints für klare Entscheidungsgrundlagen und Ähnliches. Dazu wollen wir von Prozirkula in der Beratung und mit unserem Kompetenzzentrum einen Beitrag leisten.

Tobias Stucki: Die Herausforderungen in der Privatwirtschaft sind ähnlich wie bei der öffentlichen Beschaffung: Das Konzept der Kreislaufwirtschaft ist den Verantwortlichen zwar einigermassen bekannt, aber die Umsetzung im eigenen Betrieb erweist sich als schwierig. Es gibt kaum Standardlösungen dafür. Gefragt ist ein individueller Ansatz, und diesen zu entwickeln, ist meistens nicht ganz einfach. Hinzu kommt, dass der Wandel zur Kreislaufwirtschaft mit Finanzierungskosten verbunden ist.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Auf Kantonsebene haben wir zwar die Ressourcen, um den strategischen Rahmen zu entwickeln, in der Umsetzung fehlen uns aber die Kenntnisse. Kreislaufwirtschaft ist eine interdisziplinäre Disziplin, bei der alle Beteiligten zusammenarbeiten müssen. Es funktioniert nur, wenn alle miteinander reden, die Akteure der Wirtschaftspolitik mit jenen der Agrarpolitik, die Akteurinnen der Agrarpolitik mit jenen der Abfallwirtschaft. Ein weiterer Knackpunkt ist rein technischer Art: Die meisten Materialien lassen sich nicht beliebig oft recyceln und wiederverwenden. Sie verlieren nach jedem Durchlauf an Qualität. Zirkularität ist eine Möglichkeit, den Ressourcenverbrauch zu verlangsamen und zu reduzieren, aber sie kann ihn nicht gänzlich aufhalten.

Wer ist in der Umsetzung besonders gefordert? Welche Akteure spielen die entscheidende Rolle?

Tobias Stucki: Entscheidend sind nicht nur die Produzenten, sondern auch die Konsumentinnen und Konsumenten. Auch sie müssen sensibilisiert werden, damit die Kreislaufwirtschaft wirklich funktionieren kann. Sie müssen bereit sein, Produkte länger und zirkulär zu nutzen. Eine Schlüsselrolle spielt das öffentliche Beschaffungswesen, etwa wenn es darum geht, Pilotprojekte zu finanzieren. Mitspielen muss auch der Finanzsektor. Und selbstverständlich ist die Politik gefordert, wenn es gilt, die entsprechenden Rahmenbedingungen festzulegen. Wie generell bei der Nachhaltigkeit bringt es nichts, sich bei der Kreislaufwirtschaft nur auf einzelne Punkte zu fokussieren. Als Bildungsanbieter stehen wir zudem in der Pflicht, die Leute zu schulen und das notwendige Wissen zu vermitteln.

Verfügt die Schweiz bereits über die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen?

Tobias Stucki: An unseren Zielen gemessen: Nein! Sieht man, was die EU im Moment macht, sind wir völlig im Rückstand – obwohl wir aufgrund unserer Ressourcenknappheit und unseres Innovationswissens prädestiniert wären, eine Vorreiterrolle einzunehmen. Beginnen wir nicht sofort und energisch, an unseren Rahmenbedingungen zu arbeiten, laufen wir Gefahr, gegenüber anderen Ländern in einen Wissensrückstand zu geraten, den wir nicht mehr so schnell werden aufholen können.

Antonia Stalder: Speziell in der öffentlichen Beschaffung hätten wir mit dem revidierten öffentlichen Beschaffungsgesetz seit Januar 2021 eigentlich genug Spielraum. Es wäre klug und nützlich, diesen Spielraum auszuschöpfen und die entsprechenden Projekte aus dem Boden zu stampfen. Natürlich müssen die Rahmenbedingungen noch weiter angepasst werden, aber man könnte bereits jetzt sehr viel mehr tun, als tatsächlich geschieht.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Wir hätten, wie es Herr Stucki erwähnt hat, in der Schweiz vor einigen Jahren eine Vorreiterrolle übernehmen können. Mittlerweile ist die EU schon viel weiter, und auch einzelne Länder wie Frankreich haben mehr gesetzliche Grundlagen als die Schweiz.

Wo könnte und sollte man in der Gesetzgebung Nägel mit Köpfen einschlagen?  

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: In der laufenden Revision des Umweltschutzgesetzes könnte man viel machen. Der Bund hat die Revision in die Vernehmlassung geschickt. Der Kanton Freiburg hat vorgeschlagen, in verschiedenen Punkten weiter zu gehen als vorgeschlagen. Wichtig sind gesetzliche Rahmenbedingungen, die wir dann auch tatsächlich umsetzen können. Ich habe Bedenken, ob wir bereits über genügend fähige Leute mit dem notwendigen Wissen und den erforderlichen Kompetenzen verfügen. Es gibt zweifellos noch grösseren Ausbildungs- und Schulungsbedarf.

Tobias Stucki: In der Schweiz setzen wir extrem stark auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Die EU geht da entschieden einen Schritt weiter und versucht, die Kreislaufwirtschaft gesetzlich klar zu regeln. Es gibt Vorschriften, die für Druck sorgen, sodass die Unternehmen sich wirklich bewegen müssen. Und wer nichts unternimmt, muss mit Sanktionen rechnen.

Antonia Stalder: Mehr Vorgaben und ein bisschen mehr Verbindlichkeit täten uns sicher gut. Wenn wir es nur bei der Freiwilligkeit belassen, bleiben wir Schweizerinnen und Schweizer in der Regel ziemlich träge.

Kreislaufwirtschaft ist als wesentliches Element einer nachhaltigen Entwicklung auf der Agenda der Neuen Regionalpolitik (NRP) weit nach oben gerückt. In welchen Bereichen sehen Sie besondere Chancen und Vorteile, in den Regionen die Kreislaufwirtschaft erfolgreich umzusetzen?

Antonia Stalder © regiosuisse

Antonia Stalder: Haben sich kreislauffähige Lösungen einmal etabliert, haben sie das Potenzial, ökonomisch und ökologisch grundsätzlich besser zu sein als lineare Lösungen. In der linearen Wirtschaft vernichtet man ja Werte, indem man Dinge wegwirft, die noch wertvoll wären. Rückt man von dieser Praxis ab und stellt stattdessen den Werterhalt in den Vordergrund, gewinnt man auf der ganzen Linie, egal, ob in der Stadt oder in einer ländlich geprägten Region. Hinzu kommen weitere Vorteile wie Liefersicherheit und Resilienz. Kürzlich hatten wir den Fall eines Kaffeeautomatenherstellers, der uns in grosser Verzweiflung gesagt hat: «Nennt mir die grösste Deponie in Deutschland, ich schicke zehn meiner Mitarbeiter dorthin, damit sie unsere Geräte raussuchen und die Chips ausbauen. So können wir weitere drei Monate produzieren und überleben.» Die Region kann also in der Kreislaufwirtschaft zur entscheidenden Drehscheibe werden.

Frau Dupraz-Ardiot, wie bringen Sie die Kreislaufwirtschaft gezielt in die Regionen des Kantons Freiburg?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Meine Hauptaufgabe ist es, das Bewusstsein über die Herausforderungen der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Sektoralpolitiken des Kantons einzubringen. Notwendig ist dafür eine Kultur der Interdisziplinarität. Wer in der Wirtschaftspolitik tätig ist, muss also auch an die ökologischen und sozialen Aspekte denken und umgekehrt. Wir versuchen, mit Beteiligten aus allen Bereichen der Verwaltung verschiedene Projekte zu lancieren, die diese Kultur der Interdisziplinarität leben.

Herr Stucki, wird die Kreislaufwirtschaft bei den Unternehmen als Chance begriffen oder als mühsame Last?

Tobias Stucki: Es gibt Unternehmen, die sich bereits um Kreislaufwirtschaft bemühen und entsprechend handeln, gerade weil sie da Chancen sehen. Die vielen anderen wittern in der Kreislaufwirtschaft vor allem Risiken und Gefahren. Mittlerweile gibt es aber in allen Branchen «Leuchttürme», die zeigen, dass es funktioniert. Um die Berührungsängste abzubauen, müsste man diese noch stärker ins Schaufenster stellen. Dabei geht es nicht um den sorgfältigen und effizienten Umgang mit Ressourcen, die immer knapper werden. Eine Wirtschaft, die das nicht begreift und nicht bereit ist, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, wird eines Tages nicht mehr wettbewerbsfähig sein.

Benötigen wir zusätzliche Signale von der Politik, um die Kreislaufwirtschaft bei uns zu etablieren?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Die aktuelle Situation mit Engpässen in den Lieferketten trägt dazu bei, dass sich viele Unternehmen der Bedeutung einer effizienten Ressourcenbewirtschaftung erstmals so richtig bewusst werden. Die Mangellage löst wohl mehr aus als manches politische Druckmittel. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Änderung des Umweltschutzgesetzes etwas bringen wird, auch den Regionen. Im Kanton Freiburg versuchen wir mit dieser neuen Perspektive einen Plan für die Abfallbewirtschaftung zu erarbeiten, der ganzheitlich ist und weit über das Recycling hinaus die gesamte Kreislaufwirtschaft ansprechen wird.

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Suche nach neuem touristischem Gleichgewicht

Pirmin Schilliger

Trotz Beschränkungen der Parahotellerie durch das Zweitwohnungsgesetz (ZWG) vermochte sich die Region Prättigau/Davos in den letzten Jahren wirtschaftlich gut zu behaupten. Das neue Gesetz verursacht im Immobilienmarkt aus der Optik der betroffenen Gemeinden einerseits unerwünschte Nebenwirkungen, andererseits hat es auch fruchtbare Initiativen, vielversprechende Projekte und innovative Prozesse in der Parahotellerie ausgelöst. Die Vermietungsquote der Zweitwohnungen zu steigern und bezahlbaren Wohnraum für die Einheimischen zu schaffen, bleibt aber die grosse Herausforderung.

Die Region Prättigau/Davos umfasst elf Gemeinden. Zehn von ihnen weisen einen Zweitwohnungsanteil über 20 Prozent auf und sind somit vom Zweitwohnungsgesetz (ZWG) direkt betroffen. Die Zweit- oder Ferienwohnungen (FeWo) umfassen in der Region Prättigau/Davos mehr als die Hälfte des gesamten Wohnungsbestandes. Die eigentlichen touristischen Zentren sind Davos und Klosters mit zusammen knapp 11 000 Zweitwohnungen; in Davos liegt ihr Anteil bei 57 Prozent, in Klosters bei 63 Prozent. Die Region reagierte auf das ZWG mit verschiedenen Anpassungsprozessen, die allerdings nicht im Rahmen einer regionalwirtschaftlichen Gesamtstrategie umgesetzt werden. «Vielmehr versuchen die einzelnen Gemeinden, primär für sich eine Lösung zu finden», erklärt Georg Fromm, Geschäftsleiter der Region Prättigau/Davos. Dieses Vorgehen liegt in Davos und Klosters geradezu auf der Hand, haben beide Orte doch schon vor dem ZWG mit kommunalen Gesetzen und Lenkungsabgaben versucht, den Zweitwohnungsbau zumindest zu steuern.

Lediglich ein leichter Dämpfer

Wirtschaftlich verzeichnete die Region infolge des ZWG keinen wesentlichen Einbruch, weder im Tourismus noch im Baugewerbe. In der Parahotellerie nahm die Zahl der Logiernächte in etwas gemässigtem Masse weiter zu. Davos als grösster Tourismusort der Region steigerte die Zahl der Logiernächte in diesem Segment in den letzten 15 Jahren kontinuierlich von rund 628 000 in der Saison 2006/2007 auf 874 000 in der Saison 2020/2021. Klosters verzeichnete eine ähnliche Entwicklung auf einem leicht tieferen Level. In der Bauwirtschaft hielten sich die Unternehmen vorerst schadlos, indem sie den Überhang an bereits bewilligten Projekten abarbeiteten. Zudem verlagerte sich die Bautätigkeit vom Neubau mehr und mehr in Richtung Erneuerungsbau und Renovationen. Das Bauvolumen hat sich auf einem etwas tieferen Niveau als in den Jahren vor dem ZWG eingependelt. Der Zweitwohnungsneubau ist zwar praktisch überall zum Erliegen gekommen, Aufträge für die leicht redimensionierte Baubranche gibt es aber weiterhin mehr als genug.

Explodierende Preise

Drastisch entwickelt haben sich die Immobilienpreise. Für Zweitwohnungen wird heute zum Teil doppelt so viel bezahlt wie für vergleichbare Erstwohnungen. Im Soge der allgemeinen Entwicklung sind allerdings auch diese markant teurer geworden. «Immer mehr Normalverdiener können es sich kaum mehr leisten, in unserer Region zu wohnen», sorgt sich Fromm. Michael Fischer, der Gemeindeschreiber von Klosters, befürchtet eine gefährliche Abwärtsspirale: «Wenn immer mehr Leute mangels erschwinglicher Wohnangebote abwandern, fehlen uns zusehends die Steuereinnahmen, die Schülerzahlen sinken und es drohen weitere negative Begleiterscheinungen.»

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Um dieses Szenario abzuwenden, versuchen Klosters und Davos den Erstwohnungsbau gezielt zu fördern, etwa durch die Abgabe gemeindeeigener Parzellen im Baurecht oder die Beteiligung an genossenschaftlichen Wohnbauprojekten. Um unerwünschte Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt frühzeitig zu erkennen, hat Davos überdies eine Anzeigepflicht eingeführt. So etwa müssen altrechtliche Wohnungen, die als Erstwohnung genutzt wurden und nun als Zweitwohnung verkauft oder vermietet werden, gemeldet werden. «Die Missachtung dieser Anzeigepflicht ist strafbar», betont Landammann Philipp Wilhelm. Sie ist ein wichtiges neues Instrument, mit dem sich die Gemeinden im Sinne eines Monitorings einen Überblick verschaffen und Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen können.

Resorts und Renovationen

Die neuen Rahmenbedingungen haben die Gemeinden überdies dazu bewogen, touristische Projekte für neue Hotels und bewirtschaftete Zweitwohnungen zu unterstützen, etwa über vorteilhafte Baurechtsverträge oder die Finanzierung von raumplanerischen Massnahmen wie Hotelzonen, Erstwohnanteilplänen usw. Ein erster Erfolg dieser Bemühungen ist das Parsenn Resort der Davos Klosters Bergbahnen. Die mit dreissig bewirtschafteten Wohnungen sowie drei Attika Zweitwohnungen vergleichsweise kleine Ferienanlage wurde im Dezember 2018 eröffnet. Grössere Pläne verfolgt die Baulink AG in Klosters. Die Generalunternehmung möchte auf dem Parkplatzareal der Klosters-Madrisa Bergbahnen ein Resort mit über 500 Betten realisieren. «Das Projekt wird leider durch mehrere Einsprachen verzögert», erklärt Urs Hoffmann, ceo der Baulink AG, die ihren Hauptsitz in Davos hat und an sechs weiteren Standorten in der Schweiz präsent ist. Ein weiteres Grossprojekt in Klosters – der Bau eines Luxushotels – ist in jüngster Zeit an der Urne gescheitert.

Dank der neuen Rahmenbedingungen sind auch innovative Ansätze entwickelt worden. Am weitesten fortgeschritten ist das Projekt «Alles-aus-einer-Hand» des Jungunternehmens Reno Rent AG. Das Vorhaben wurde in der Startphase mit Fördermitteln der Neuen Regionalpolitik (NRP) unterstützt. Die Reno Rent AG renoviert Ferienwohnungen, die sie von den Eigentümerinnen und Eigentümern kostenlos zur Nutzniessung übernommen hat, und vermietet sie an Feriengäste. Die Eigentümerinnen und Eigentümer partizipieren an den Mieteinnahmen und profitieren von einer bequemen Abwicklung sämtlicher Geschäfte aus einer Hand, inklusive Finanzierung. Das Portfolio der Reno Rent AG umfasst im zweiten Geschäftsjahr rund ein Dutzend abgeschlossene Umbauprojekte. Die Firma konzentriert sich vorderhand auf die Region Prättigau/Davos, hegt aber Ausbaupläne. «Früher oder später möchten wir uns auf den gesamten Kanton Graubünden ausbreiten», sagt Mitgründer und Firmensprecher Marc Kunz. Auch soll das Geschäftsmodell demnächst um weitere Dienstleistungen in den Bereichen Promotion und Facility-Management ergänzt werden.

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Auszeit – oder gar Wohnsitz – in den Bergen

Noch in der Pilotphase befindet sich in den Regionen Surselva und Prättigau das Modellvorhaben «Alpine Sabbatical». Es möchte Leute, die in den Bergen eine längere Auszeit von ihrem beruflichen Alltag nehmen, für ein neues touristisches Angebot gewinnen. Das mitten in der Pandemiezeit gestartete Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung befindet sich in der Aufbauphase. «Die Nachfrage ist bereits rege, was uns nicht sonderlich erstaunt, fehlten doch bisher entsprechende professionelle Angebote», erklärt Projektleiterin Gerlinde Zuber. Sie ist zuversichtlich, dass die Buchungen stärker ansteigen werden, sobald Covid-19 kein Thema mehr sein wird. Das Angebot im Prättigau umfasst inzwischen zwanzig Unterkünfte sowie die beiden thematischen Sabbatical- Packages «Mindfulness Prättigau» und «Handwerk & Kunst». Das von einem Verein initiierte «Alpine Sabbatical» wird in der Pilotphase zur Hälfte mit öffentlichen Geldern finanziert. Beteiligt sind die Innotour-Förderung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), das Amt für Wirtschaft und Tourismus Graubünden (awt), die Region Prättigau/Davos, die Regiun Surselva sowie die Gemeinden Klosters und Davos.

In einem weiteren Modellvorhaben – «Wohnraumstrategie für Senioren und andere Neustarter» – suchen die Regionen Prättigau/Davos und Albula gemeinsam nach Mitteln und Wegen, die Ferienwohnungsbesitzenden stärker ins Gemeindeleben einzubinden. Eine im Frühjahr 2021 durchgeführte Befragung von 2600 Eigentümerinnen und Eigentümern in den beiden Regionen hat gezeigt, dass sich viele von ihnen grundsätzlich für die Gemeindeentwicklung interessieren. «Es besteht eine hohe Bereitschaft, sich in irgendeiner Form zu engagieren und zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen», sagt Co-Projektleiterin Joëlle Zimmerli. Im Rahmen von «Kaminfeuergesprächen» soll nun über konkrete Massnahmen diskutiert werden, wie sich «Zweitheimische» besser in die lokale Entwicklung integrieren lassen. Die Idealvorstellung wäre, dass aus ihnen früher oder später Einheimische werden.

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Sofern sich in diesen verschiedenen Initiativen und Projekten ein gemeinsamer Nenner finden lässt, liegt er beim Versuch, die bestehende touristische Infrastruktur besser auszulasten. Das Potenzial bei den Zweitwohnungen ist tatsächlich noch gross, werden doch derzeit lediglich rund 10 Prozent von ihnen an Dritte vermietet. Allerdings kämpft man hier gegen ein tief verankertes Verhaltensmuster. «Schon lange vor dem ZWG gab es immer wieder Bestrebungen, diese magere Zehnprozentmarke zu steigern, doch der Erfolg blieb jeweils bescheiden», erinnert sich Fromm. Fast scheint es, dass letztlich jeder, der es sich irgendwie leisten kann, seine Ferienwohnung doch am liebsten ganz für sich alleine nutzt.

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