Lichtensteig – Zentrum für Macherinnen und Macher

Lukas Denzler

In den ehemaligen Räumen der Post in Lichtensteig SG etablierte sich in den letzten drei Jahren das «Macherzentrum Toggenburg» als Co-Working-Space. Dieser entwickelt sich seither zu einem Knotenpunkt für Jungunternehmerinnen und Selbständige aus der Region. Moderne Kommunikation und Digitalisierung schaffen neue Möglichkeiten – gerade auch unter dem Eindruck der Corona-Krise. Der «Ort für Macher*innen», eine regionale Initiative, bildet schliesslich eine Klammer um verschiedene Aktivitäten in der Region Toggenburg.

Einst Postbüro, heute Co-Working-Space: Seit der offiziellen Eröffnung im August 2018 stehen im stattlichen Gebäude mitten in Lichtensteig SG flexibel nutzbare Arbeitsplätze und Sitzungszimmer zur Verfügung – ein Angebot, das inzwischen zehn Personen regelmässig nutzen. Der Austausch von Ideen und Erfahrungen in einem inspirierenden Umfeld ist ein wichtiger Teil des Konzepts. Wie im ganzen Land läuft der Betrieb Ende März 2020 jedoch auf Sparflamme. Den Erfordernissen der Corona-Krise entsprechend erfolgte die Recherche für diesen Artikel nicht vor Ort, sondern per Telefon und Videogespräch. Sie zeigte: Es ist kein Zufall, dass eine solche Initiative für neue Arbeitsformen gerade in Lichtensteig entstanden ist.

Lichtensteig im Toggenburg: Ein kleines Städtchen mit stolzer Vergangenheit. Während Jahrhunderten war der Ort mit Stadt- und Marktrecht Verwaltungszentrum des Toggenburgs. In den letzten Jahrzehnten haben sich jedoch die regionalen Verwaltungsaktivitäten und der Detailhandel immer mehr ins benachbarte Wattwil verschoben. Infolge stetiger Abwanderung ist die Bevölkerungszahl auf unter 2000 Einwohnerinnen und Einwohner gefallen. Die Textilindustrie, einst wirtschaftliche Stütze im Tal, hat ihre Tore geschlossen. Leere Fabriken und Gebäude warten auf neue Nutzungen.

Aufbruchstimmung dank kommunaler Strategie

Die Gemeindebehörden erkannten das Problem der fatalen Abwärtsspirale bereits vor Jahren. Sichtbar war der Niedergang vor allem in der Altstadt, in der einst das Leben pulsierte. Um Gegensteuer zu geben, suchten die Lichtensteiger den Kontakt zum «Netzwerk Altstadt», einem Beratungsangebot von EspaceSuisse. Nach einer tiefgreifenden Analyse erarbeitete der Gemeinderat zusammen mit der Bevölkerung 2013 die kommunale Strategie «Mini.Stadt 2025». «140 interessierte Bürgerinnen und Bürger brachten sich in den Prozess ein», erinnert sich Mathias Müller, der kurz zuvor als Stadtpräsident gewählt worden war. Der Prozess löste zahlreiche Aktivitäten aus: Das Rathaus wandelte sich – nach dem Umzug der Gemeindeverwaltung ins ehemalige UBS-Gebäude – zu einem Ort der Kultur. Die Kalberhalle, in der bis 2005 Kälber zum Verkauf standen, wurde zusammen mit den Vereinen zu einem Veranstaltungsort umfunktioniert.

2016 schloss die Post. Die Gemeinde packte die Gelegenheit beim Schopf und erwarb die Räumlichkeiten. «An dieser zentralen Lage wollten wir unbedingt neue Publikumsnutzungen ermöglichen», erklärt Stadtpräsident Müller. In jener Zeit las er in einer Gratiszeitung einen Artikel über «VillageOffice», eine junge Organisation, die neue Arbeitsformen wie Co-Working auch im ländlichen Raum voranbringen will (vgl. Hintergrundartikel). Kontakte wurden geknüpft – der Funke zündete, Ideen wurden entwickelt. In den Räumen sollte ein inspirierender Ort entstehen für Menschen mit neuen Ideen, für Leute, die eigene Projekte realisieren wollen.

Thomas Kobelt und Céline Rolli (Mitarbeiterin des Co-Working-Spaces) bei der Arbeit im «Macherzentrum Toggenburg» © regiosuisse

Weil die Idee sehr gut zur kommunalen Strategie passte, suchte Müller Leute, die mitziehen würden. Er fand Tobias Kobelt, der im Begriff stand, sich im Bereich der betriebswirtschaftlichen Beratung und Unternehmensentwicklung selbständig zu machen. «Als ich gefragt wurde, realisierte ich, dass genau so ein Angebot fehlt», erinnert sich Kobelt. Im Oktober 2017 habe man klein angefangen. Allmählich formte sich ein Kernteam. «In der ersten Phase mussten wir immer wieder erklären, um was es geht beim Co-Working.» Eineinhalb Jahre später ist da «Macherzentrum Toggenburg» weit über Lichtensteig hinaus bekannt. Durch die Vermietung der Arbeitsplätze erwirtschaftet die Genossenschaft inzwischen genügend, um den ortsüblichen Mietzins und die Nebenkosten bezahlen zu können.

Co-Working und Digitalisierung

In normalen Zeiten geht das Angebot des «Macherzentrums Toggenburg» weit über die gemeinsame Nutzung der Infrastruktur hinaus. Kontakte und eine inspirierende Atmosphäre sind für Jungunternehmerinnen und -unternehmer wichtig. Dazu beitragen soll auch der monatliche «Macher-Treff», für den jeweils Persönlichkeiten eingeladen werden, die über Themen aus dem Bereich «Unternehmertum und Innovation» sprechen. «Wir möchten noch stärker mit Firmen kooperieren», erläutert Kobelt. Sie könnten beispielsweise im «Macherzentrum Toggenburg» Arbeitsplätze «sponsern» und ihren Angestellten tageweise zur Verfügung stellen.

Verschiedene Jungunternehmerinnen und Jungunternehmer haben sich in den ehemaligen Räumlickeiten der Post einen festen Arbeitsplatz eingerichtet. © regiosuisse

«In letzter Zeit melden sich vermehrt auch Leute aus den kleinen Dörfern des Tals, die wissen wollen, wie der Co-Working-Space funktioniert», stellt Kobelt fest. «Das ist ein gutes Zeichen. In den Köpfen im Toggenburg beginnt sich etwas zu ändern.» Der Aufbruch könnte gelingen. Nach dem Vorbild des «Macherzentrums Toggenburg» entstehen nun ähnliche Angebote in den Toggenburger Gemeinden Kirchberg, Nesslau und Degersheim.

Die Niederschwelligkeit des Angebots sei zentral, ist Mathias Müller überzeugt. In der ersten Phase brauche es zudem eine gewisse Unterstützung und einen Vertrauensvorschuss seitens der Behörden. «Stellt man Räume zur Verfügung und schafft man für die Menschen neue Möglichkeiten, so investiert man immer auch in diese Menschen.»

Lokal starten – regional entwickeln

Gelder der Neuen Regionalpolitik (NRP) erhielt das «Macherzentrum Toggenburg» nicht. Der Kanton St. Gallen entschied, Co-Working-Initiativen grundsätzlich nicht über die NRP zu unterstützen. Anders verhält es sich bei der übergeordneten Initiative «Ort für Macher*innen». Diese hat zwar ihren Ursprung in Lichtensteig, ist aber regional auf das ganze Toggenburg ausgerichtet und bildet eine Klammer um verschiedene Aktivitäten. Unter ihrem Dach findet das «Macherzentrum Toggenburg» ebenso Platz wie das «Rathaus für Kultur», Gesellschaftsprojekte wie die «Familienzentren Toggenburg», die Nachbarschaftshilfe und Freiwilligenarbeit unter dem Namen «Zeitgut Toggenburg» sowie ein «Zukunftsbüro».

Das Rathaus für Kultur in Lichtensteig © regiosuisse

Im Jahr 2019 bewarb man sich für ein «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung», die der Bund unterstützt. Da aber ein solches nicht zustande kam, stellte der Kanton St. Gallen eine Unterstützung im Rahmen der NRP in Aussicht. In der Diskussion dazu habe man sich schliesslich auf zwei Themenfelder fokussiert, sagt Markus Schmid von der Standortförderung im Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons St. Gallen: zum einen auf den Fach- und Arbeitskräftemangel – besonders auf neue Arbeitsformen («NewWork»), Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Wiedereinstieg, Teilzeit) und das Arbeitskräftepotenzial 50+ (neue Arbeitsmodelle, innovative Ansätze) – und zum anderen auf die Arealentwicklung. In Lichtensteig gebe es dafür geeignete Areale, etwa eine leerstehende Fabrik. Zudem schmiedet man Pläne für eine Gewerbe- und Kreativwerkstatt als Ergänzung zum «Macherzentrum Toggenburg». Die lokalen Initiativen, ausgelöst primär durch die kommunale Strategie, gewinnen an Dynamik und strahlen immer stärker regional aus.

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Weniger Pendlerverkehr dank Co-Working-Spaces

Raphaël Chabloz

Mit dem Projekt «GE-NetWork» sollen in der Agglomeration Genf bis 2025 in Co-Working-Spaces dezentrale Arbeitsplätze für rund 35 000 Nutzerinnen und Nutzer entstehen. So könnten die Pendlerströme in dr Agglomeration reduziert und die Gebiete belebt werden. Beim Aufbau dieses Netzes sollen sich insbesondere die grossen Arbeitgeber engagieren, die von Effizienzsteigerungen ihrer dezentral tätigen Mitarbeitenden profitieren. Das Projekt wurde bis 2018 von Interreg finanziert, seither engagieren sich das Amt für Umwelt und das Amt für Verkehr des Kantons Genf. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Co-Working-Spaces und die Telearbeit in der Agglomeration Genf im Aufwind sind. Bisher profitieren davon aber vor allem die Innenstädte.

Bis 2025 ein Netzwerk von 150 bis 200 Standorten mit fast 7000 Arbeitsplätzen schaffen, das den gesamten Grossraum Genf abdeckt und von rund 35 000 Personen genutzt wird: Das ist das erklärte Ziel von «GE-NetWork», der zweiten Etappe eines mit Unterstützung durch Interreg lancierten Projekts zur Förderung von Telearbeit und Co-Working am Zipfel des Genfersees. Das Projekt wird seit 2018 vom Amt für Umwelt und jenem für Verkehr des Kantons Genf und von der kantonalen Abteilung für nachhaltige Entwicklung finanziert und konzentriert sich vor allem auf die Auswirkungen der flexiblen Arbeitsform auf Mobilität und Umwelt. Das Ziel der 150 bis 200 Standorte dürfte tatsächlich erreicht werden: «Wir waren in unseren Szenarien eher vorsichtig», erklärt Projektleiter Luc Jaquet von der Sofies-Gruppe. 2014 waren rund zwanzig Co-Working-Spaces Teil des Netzes, 2018 waren es bereits über fünfzig.

12 Millionen weniger Pendlerfahrten pro Jahr

Studien aus der ersten Projektphase zeigen, dass durch «GE-NetWork» der Pendlerverkehr in der Agglomeration um 6 Prozent verringert werden konnte. Dies entspricht einer Reduktion von fast 12 Millionen Pendlerfahrten pro Jahr. Ein weiteres Ziel des französisch-schweizerischen Netzwerks ist die Belebung der umliegenden Gemeinden. Damit dies gelingt, muss ein anderes Publikum angesprochen werden als jenes, das bereits an solchen «dritten Orten» – neben dem Unternehmen und dem Homeoffice – tätig ist. Co-Working-Spaces werden bisher nämlich mehrheitlich von Start-up-Unternehmen genutzt, die die damit verbundenen Vernetzungsmöglichkeiten schätzen, aber meist nach Lokalitäten in der Innenstadt Ausschau halten. Eine Studie, die 2018 nach Abschluss der Interreg-Finanzierung durchgeführt wurde, hat dies bestätigt und gezeigt, dass die entstandenen Co-Working-Spaces noch sehr stark im Schweizer Teil des Grossraums Genf und im Zentrum der Agglomeration konzentriert sind.

La Conciergerie — eine Servicestelle im Co-Working-Space in La Roche-sur-Foron (F) © regiosuisse

Effizienz steigern dank flexibler Arbeitsformen

Die Arbeit am dezentralen Arbeitsplatz kann jedoch auch für das Personal grosser Unternehmen zum Thema werden, wie die Corona-Krise deutlich gemacht hat. Ein Aspekt, der die Träger des «GE-NetWork»-Projekts besonders interessiert, ist die Effizienz. «Die Mitarbeitenden sparen dank dieser flexiblen Arbeitsform Zeit und Energie und gewinnen an Produktivität. Dies haben viele Studien belegt», so Jaquet, «vorausgesetzt allerdings, die Leute arbeiten nicht Vollzeit am dezentralen Arbeitsplatz, da dies demotivierend wirkt.»

Insbesondere im Rahmen des verwaltungsinternen Programms «EquiLibre» haben die Initianten eng mit den industriellen Werken Genfs (Services industriels genevois, SIG) zusammengearbeitet. Ziel dieses Programms ist es, den Mitarbeitenden mehr Wohlbefinden bei der Arbeit und eine ausgewogenere Balance zwischen Berufs- und Privatleben zu bieten, indem Vertrauensarbeitszeit eingeführt und flexibles Arbeiten breit gefördert wird. «Egal, ob Sie im Büro, zu Hause oder in einem Zug sitzen, der durch den Jura tuckert: Was zählt, ist, dass Sie erreichbar sind und die Arbeit erledigt wird», erklärt SIG-Sprecherin Isabelle Dupont Zamperini. Für Luc Jaquet sind es genau solche Ansätze, die einen Arbeitgeber attraktiver machen und den Unternehmen die Möglichkeit bieten, ökologisch und gesellschaftlich Einfluss zu nehmen. Pragmatischer betrachtet können durch eine Neugestaltung der Arbeitsorganisation zudem die Ressourcen im Bereich Immobilien optimiert werden. «Das ist zwar nicht das prioritäre Ziel, aber wir haben zweifellos viel Platz gewonnen», stellt Isabelle Dupont Zamperini fest.

«La Conciergerie» © regiosuisse

Vorteile für alle Beteiligten

Für den Projektleiter bieten Arbeitsplätze in Co-Working-Spaces viele Vorteile gegenüber dem Homeoffice: «Sie ermöglichen eine klare Trennung zwischen Privat- und Berufsleben; sie vermitteln das Gefühl eines ‹echten› Arbeitsplatzes und ermöglichen die wichtigen sozialen Kontakte. All das steigert die Motivation.»

Mehrere Lösungen sind angedacht, um neue Co-Working-Spaces vermehrt auch in Umlandgemeinden zu initiieren und tragfähig zu machen: öffentlich-private Partnerschaften oder auch Modelle, die nicht nur dezentrale Arbeitsplätze, sondern auch andere Dienstleistungen umfassen. Ein Beispiel dafür ist «La Conciergerie» in La Roche-sur-Foron in Frankreich, wo zusätzlich verschiedene Alltagsdienstleistungen angeboten werden – von der Kinderbetreuung über Veloreparaturen bis hin zu Lieferservices.

Die Co-Working-Spaces von Voisins bieten auch Sitzungszimmer. Zwei der Gründer von Voisins (Vater und Sohn, Gérald und Renaud Langel) nutzen eines davon für ihre Besprechung. © regiosuisse

Für Städte und Gemeinden, die sich für die Lancierung von Co-Working-Spaces auf ihrem Gebiet interessieren, gibt es mehrere Handlungsoptionen. «Grosse Arbeitgeber können eine Vorreiterrolle übernehmen und von den Behörden motiviert und unterstützt werden, Pilotprojekte durchzuführen», erklärt Jaquet und verweist auf das Beispiel Amsterdam, wo der Verkehrsstau dank der Bereitschaft der Behörden, Co-Working-Spaces zu fördern, innert fünf Jahren um 20 Prozent abgenommen hat. Ein zweites Instrument ist die Bereitstellung entsprechender Nutzflächen. Der dritte Ansatz sind eigentliche Pilotprojekte: Die Gemeinden könnten, so Jaquet, in Co-Working-Spaces investieren, um das Startrisiko zu vermindern; letztlich sollten diese aber finanziell selbsttragend werden.

Bereits in der Interreg-Phase des Projekts wurden die Gemeinden im Grossraum Genf einbezogen. Nun wollen die Initianten sie an einen Tisch bringen – auch wenn unterschiedliche Ansichten und divergierende Governance-Strukturen im Kanton Genf, in der Region Nyon und im benachbarten Frankreich dieses Vorhaben schwierig machen dürften.

Die Krise als Chance nutzen

Im März 2020 mussten viele Unternehmen in aller Eile Lösungen für die dezentralisierte Arbeit finden. Gleichzeitig waren Angestellte oft dazu gezwungen, ihr Lebensumfeld und ihr Familienleben neu zu organisieren – ein Notstand, der sich aus der Krise ergab, der aber langfristig positive Auswirkungen haben könnte. «Die neuen Arbeitsformen, die in der Krise entwickelt wurden, müssen auch in normalen Zeiten erhalten bleiben. Diese Chance gilt es zu nutzen», bekräftigt Luc Jaquet.

interreg.ch teletravail-geneve.com«GE-NetWork» in der Projektdatenbank auf regiosuisse.ch

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«Plattform Haslital» – mehr als ein Co-Working-Space

Pirmin Schilliger

Die «Plattform Haslital» wurde von einem kleinen privaten Team aus acht Personen, die zu diesem Zweck einen Verein gründeten, lanciert. Nach einer rund anderthalbjährigen Vorbereitungs- und Testphase, die von der Neuen Regionalpolitik (NRP) unterstützt wurde, ging der Co-Working-Space am 30. März 2019 in Betrieb. Mit seinem Angebot für ortsunabhängiges Arbeiten und mit verschiedenen öffentlichen Anlässen hat er sich rasch etabliert. In den nächsten Jahren soll er sich weiter zur Drehscheibe für regionale Innovation und zum kulturellen und gesellschaftlichen Treffpunkt im Haslital entwickeln.

David Risi ist seit Jahren Ferienhausbesitzer in Meiringen BE. Ab diesem Sommer wird der Ort im Berner Oberland nun auch zu seinem Wohnsitz. Dass der Stadtzürcher mit seiner Familie umzieht, hängt nicht zuletzt mit dem neuen Co-Working-Space «Plattform Haslital» zusammen. Diesen wollte Risi eigentlich erst nach dem Umzug wirklich nutzen. Mit dem Ausbruch der Corona-Krise änderte sich die Situation aber schlagartig. Mit dem Lockdown Mitte März zog er sich – vorerst provisorisch – mitsamt seiner ganzen Familie ins Haslital zurück. Im Co-Working-Space erledigte er in den folgenden Wochen mehr als vier Fünftel seines Arbeitspensums. An seinen Arbeitsort, die Stadtgärtnerei Luzern, pendelte der Umweltingenieur während dieser Zeit nur noch sporadisch. Auch in Zukunft möchte er möglichst oft in der «Plattform Haslital» arbeiten, denn mittlerweile ist sie für ihn mehr als nur ein Arbeitsort. «Es ergeben sich laufend inspirierende Kontakte zu interessanten Menschen, und die Ideen spriessen», lässt er schon fast geheimnisvoll verlauten.

Docking-Station

Barbara Willener, in Guttannen zu Hause, schätzt die «Plattform Haslital» als eine von mehreren Stationen im Rahmen ihrer Tätigkeit als Co-Geschäftsleiterin von Qualifutura (vgl. «regioS» Nr. 10, S. 27). Die Institution unterstützt Jugendliche im ganzen Kanton Bern bei der sozialen und beruflichen Integration. Willener ist viel unterwegs zwischen Biel, Bern, Interlaken und Meiringen. In der «Plattform», bei der sie sich als Mitglied der Betriebsgruppe engagiert, hält sie unter anderem Coachings und Sitzungen ab. «Ich erspare mir damit einige Wege», resümiert Willener.

In den Räumlichkeiten, die sich in einem ehemaligen Architekturbüro befinden, bildet der Co-Working-Space das Grundangebot. Zur Verfügung stehen zehn Arbeitsplätze, die tageweise gemietet werden können. An der modernen Büroinfrastruktur kann sich jeder umstandslos mit seinem Laptop andocken zum Preis von 25 Franken pro Tag oder 300 Franken pro Monat. Zur weiteren Ausstattung gehören eine Kaffee-Ecke, ein Sitzungs- und Seminarraum, ein Schaufenster für Wechselausstellungen sowie eine Tauschboutique. «Man kann bei uns Arbeitsplätze, Besprechungszimmer oder Anlässe buchen, man kann aber auch einfach für einen Kaffee vorbeikommen und auf dem Sofa gemütlich die Zeitung lesen», erklärt Daniel Studer. Der Geograf, der als Projektleiter bei IC Infraconsult in Bern arbeitet und für seinen Arbeitsweg mit dem Zug zwei Stunden benötigt, arbeitet regelmässig zwei bis drei Tage pro Woche in der «Plattform».

Daniel Studer (links) und Urs Zuberbühler installieren im Schaufenster der «Plattform Haslital» Werbung für eine energieautarke Wohneinheit. © regiosuisse

Arbeitsort und Treffpunkt des öffentlichen Lebens

 «Für die rund 190 Langstreckenpendler, die wir in Meiringen zählen, könnte der Co-Working-Arbeitsplatz vor Ort eine interessante Alternative sein», glaubt Studer, der auch öfter in seiner Funktion als Präsident der Trägergenossenschaft «Plattform Haslital» im Co-Working-Space anzutreffen ist. Seine Präsenz ist unter anderem gefragt bei den zahlreichen Anlässen, die hier über die Bühne gehen. Die «Plattform» dient zwar primär Selbständigen sowie Angestellten von Jungunternehmen, etablierten Firmen und der öffentlichen Verwaltung als Arbeitsort. Sie soll sich darüber hinaus aber zu einer innovativen Keimzelle und zu einem kulturellen und gesellschaftlichen Treffpunkt in der Region entwickeln. Im ersten Jahr fanden etwa ein Konzert, eine Buchvernissage und verschiedene Workshops statt. Die «Plattform» machte mit am Strassenfest und an der 5. «Work Smart Week», einer nationalen Arbeitswoche zur Zukunft der Arbeit. Eine Berner IT-Firma führte in der «Plattform Haslital» ausserdem ein Weiterbildungscamp durch. Ein grosser Publikumserfolg war das erste Repair-Café Haslital im Oktober 2019. Studer, der auch Gemeinderat ist, meint: «Wir setzen uns als Trägergenossenschaft der ‹Plattform› für ein bisschen mehr Urbanität im Alpenraum ein, ohne jedoch die Stadt kopieren zu wollen. Vielmehr fragen wir uns, was bei uns im Haslital zum Erhalt einer hohen Arbeits-, Wohn- und Lebensqualität alles notwendig ist.»

Breite Abstützung und enge Vernetzung

Im Umfeld der «Plattform Haslital» ist ein erstaunlich vielseitiges, innovatives «Biotop» entstanden. Das Startup-Unternehmen Innovenergy hat mit drei Mitarbeitenden den Firmensitz im selben Haus eingerichtet. Es entwickelt und produziert Salzbatterie-Speichersysteme. Auf die Unterstützung der «Plattform» zählte auch Guggers Garden Greens, ein Startup-Unternehmen, das Hochbeete mit seltenen Blumen- und Gemüsearten produziert. Ausserdem wirkt die «Plattform» mit bei einem Projekt für eine energetisch nachhaltige Käseproduktion. Weiter gibt es hier den «Plattformdschungel», einen saisonalen Ausstellungs- und Experimentierraum für Büropflanzen. Aus der Partnerschaft mit dem UNESCO-Weltkulturerbe Swiss Alps Jungfrau Aletsch (SAJA) könnte sich überdies bald eine Drehscheibe für das SAJA-Welterbe entwickeln.

Max Ursin, Geschäftsführer des Start-ups Innovenergy, nutzt die «Plattform Haslital» in Meiringen. © regiosuisse

«Wir sind eine klassische Bottom-up-Bewegung», stellt Studer fest. Unterstützer, Partner oder Sponsoren der Trägergenossenschaft sind die Regionalkonferenz Oberland Ost, das UNESCO-Weltkulturerbe SAJA, regionale Unternehmen und Gewerbebetriebe, die Universität Bern, das Amt für Wirtschaft des Kantons Bern, die Stelle für Standortmarketing und Regionalentwicklung Haslital Brienz sowie die fünf Haslitaler Gemeinden. Die NRP hat das Projekt «Plattform Haslital» mit einer Anschubfinanzierung von 93 000 Franken unterstützt. Ziel sei es nun, möglichst bald schwarze Zahlen zu schreiben, betont Studer. Er gibt sich zuversichtlich: «Inzwischen arbeiten bei uns regelmässig rund ein Dutzend Abonnenten, sogenannte ‹Plattformer*innen›, plus etliche Tagesgäste – deutlich mehr, als wir bei der Eröffnung erwartet haben. Und die Resonanz wird stetig grösser.»

regiosuisse.ch/nrpplattformhaslital.ch«Plattform Haslital» in der Projektdatenbank auf regiosuisse.ch

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