Öffentliche Beschaffung – Hebelwirkung für die Kreislaufwirtschaft

Pirmin Schilliger

Mit einem Volumen von rund 40 Milliarden Franken ist der öffentliche Sektor der wichtigste Einkäufer auf dem Beschaffungsmarkt. Dies bietet einen mächtigen Hebel, die Kreislaufwirtschaft voranzubringen. Das Kompetenzzentrum Prozirkula wurde vor zwei Jahren gegründet mit dem Ziel, die Transformation von der Wegwerf- zur Kreislaufwirtschaft bei der öffentlichen und der privaten Beschaffung zu beschleunigen.

Die Niederlande setzen schon seit Jahren Milliardenbeträge ein, um die Kreislaufwirtschaft über das öffentliche Beschaffungswesen anzukurbeln. Vor vier Jahren starteten die Organisation Circular Economy Switzerland und das Beratungsunternehmen ecos mit dem Projekt «Circular Cities Switzerland» damit, das niederländische Know-how in der Schweiz fruchtbar zu machen. Aufgrund der Erfahrungen daraus entwickelten die beiden Kreislaufexperten Marco Grossmann (ecos) und Raphael Fasko (Beratungs- und Ingenieurbüro Rytec Circular) die Idee eines Kompetenzzentrums für kreislauffähige öffentliche Beschaffung, was schliesslich in die Gründung von Prozirkula mündete.

Mithilfe einer Anschubfinanzierung durch die MAVA-Stiftung starteten Rytec und ecos im Frühjahr 2020 mit dem Aufbau des Kompetenzzentrums. Nach zweijähriger Startphase firmiert Prozirkula seit April 2022 als schlanke GmbH mit Geschäftsführerin Antonia Stalder als einziger Angestellten. Zusätzlich sind Mitarbeitende von ecos und Rytec Circular auf Mandatsbasis regelmässig für Prozirkula tätig. Das Geschäftsmodell sieht vor, dass sich die junge Firma mit ihrem Dienstleistungsangebot spätestens ab 2024 selbst finanzieren sollte. Stalder gibt sich optimistisch: «Von Beginn weg hat sich gezeigt, dass das Interesse an unserem Angebot sehr gross ist und sich laufend vergrössert.»

Prozirkula © regiosuisse

Der sanfte Druck des Gesetzes

Ein wesentlicher Grund für das steigende Interesse ist das revidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB), das seit 2021 in Kraft ist. Die Verwaltungsangestellten und die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene stehen seither mehr oder weniger in der Pflicht, Kriterien der Nachhaltigkeit und spezifisch der Kreislaufwirtschaft bei der Beschaffung stärker zu gewichten. Nicht allein der Preis soll das entscheidende Zuschlagsargument sein. Kriterien wie Ressourcenschonung, Energieeffizienz, Klimaneutralität usw. sollen viel stärker einbezogen werden.

Nicht von ungefähr richtet sich der Fokus von Prozirkula primär auf die öffentliche Beschaffung: Mit einem Einkaufsvolumen von rund 40 Milliarden Franken ist der öffentliche Sektor der grösste Player auf dem Beschaffungsmarkt. Lässt er seine Muskeln spielen, verfügt er über den grössten Hebel zur Beschleunigung der Kreislaufwirtschaft. Mit seinen Entscheiden für kreislauffähige Beschaffungslösungen kann er die entscheidenden Weichen für eine nachhaltige Entwicklung stellen. Bedauerlich ist allerdings, dass das Gesetz es bei Empfehlungen bewenden lässt. Den Entscheidungstragenden bleibt dadurch weiterhin viel Spielraum, bei der Beschaffung zwischen der günstigsten und der ökologischsten Variante zu wählen.

Pionierarbeit und Pilotprojekte

Prozirkula startete unmittelbar nach der Gründung ein erstes Pilotprojekt, dem mittlerweile weitere Projekte folgten. Auf Basis des «Leitfadens für den Wiedereinsatz von Möbeln» hat das Amt für Umwelt und Energie Basel-Stadt (AUE) beispielsweise das alte Mobiliar im 2021 fertiggestellten Neubau im Zentrum von Basel wiederverwendet. Auch das Gebäude selbst, ein Hybrid aus Holz und Beton, mit Photovoltaikfassade und im Minergie-A-Eco-Standard gebaut, ist grösstenteils kreislaufkonform. Die Industriellen Werke Basel (IWB) hat Prozirkula unterstützt, Kreislaufwirtschaftsprinzipien in die Ausschreibung für Elektroladesäulen zu integrieren. Auch Armasuisse setzt neuerdings auf Ausschreibungskriterien von Prozirkula, wann immer sie elektronisches Gerät einkauft. Die SBB arbeiten mit einem von Prozirkula mitentwickelten Analysewerkzeug, um einzelne Warengruppen in Bezug auf ihre Kreislaufchancen und -risiken zu bewerten.

«Wann immer Kreislaufwirtschaft-Projekte angestossen werden, kommen die Beteiligten nicht darum herum, Pionierarbeit zu leisten», meint Stalder. Es gebe erst wenige Vorzeigebeispiele; Standardlösungen, die man einfach so übernehmen könne, seien noch kaum verfügbar. «Die Beschaffungsverantwortlichen können selten fertige Angebote und Produkte ab Stange einkaufen, sondern müssen zusammen mit den Lieferanten neue Lösungen entwickeln», skizziert Stalder die eigentliche Herausforderung. Der Wandel hin zur Kreislaufwirtschaft beginne dabei im Kopf, denn die zirkuläre Beschaffung basiere auf einer neuen Denkweise. Die Verwaltungsangestellten und Manager betreten in der Regel Neuland und werden mit ungewohnten Anforderungen konfrontiert, wenn sie sich für eine kreislauffähige Beschaffung interessieren. Prozirkula bietet ihnen in dieser Situation professionelle Unterstützung. «Wir begleiten die Beschaffungsprozesse und sorgen dafür, dass die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft bereits in die Ausschreibungen einfliessen», so Stalder. Das Kompetenzzentrum Prozirkula fördert die Transformation zu kreislauffähigen Produktions- und Konsumpraktiken mittels Beratung, Weiterbildung, Wissenstransfer, Vernetzung und durch eine Wissensdatenbank. «Über Leuchtturmprojekte und über unsere Erfahrungen berichten wir regelmässig an Veranstaltungen, unter anderem am ‹Anwenderforum Kreislaufwirtschaft› im September dieses Jahres», sagt Stalder.

Ökologischer und ökonomischer Mehrwert

Das Kompetenzzentrum spricht mit seinen Dienstleistungen zwar primär die öffentlichen Beschaffungsstellen an, doch auch die Procurement-Managerinnen und -Manager der Unternehmen liegen bei den Kreislaufwirtschaft-Spezialisten von Prozirkula grundsätzlich richtig. «Firmen, die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft strategisch in ihre Prozesse integrieren, können sich bessere Chancen ausrechnen, bei öffentlichen Aufträgen die Nase vorn zu haben», zeigt sich Stalder überzeugt. Gefragt sind immer häufiger Geschäftsmodelle, bei denen ökologischer und ökonomischer Mehrwert Hand in Hand gehen. Gute Karten hat in dieser Beziehung beispielsweise der Möbelhersteller Zesar in Tavannes JU, der kreislauffähige Schul- und Büromöbel entwickelt hat.

Nutzt die öffentliche Beschaffung konsequent ihre Nachfragemacht und setzt nur noch auf Anbietende mit kreislauftauglichen Geschäftsmodellen, bewirkt dies einen Schneeballeffekt. Die Transformation in Richtung Kreislaufwirtschaft wird so auch in der Industrie und im Gewerbe angekurbelt. Nicht zuletzt leisten damit alle Beteiligten einen entscheidenden Beitrag dazu, das Sustainable Development Goal (SDG) 12, «Verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster», und weitere SDG zu erreichen.

prozirkula.ch

Weitere Artikel

Vernetzung von Landwirtschaft und Start-ups

Patricia Michaud

Star’Terre ist die Fortsetzung eines vom Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) unterstützten Pilotprojekts, das landwirtschaftliche und unternehmerische Kreise in den Kantonen Waadt, Genf, Freiburg und Wallis vernetzt. Es legt den Fokus auf den lokalen Konsum, kurze Wege und die Rückführung der Wertschöpfung in die Region auf Basis der Kreislaufwirtschaft.

Dies ist die – ebenso banale wie fiktive – Geschichte einer Familie, die in einer Wohnung im Zentrum von Nyon VD lebt. Die älter werdenden Kinder interessieren sich immer stärker für den Boden und die Nahrungsmittel. Der schmale Balkon des Familienhauses ist bereits mit einem Tisch und einer
Mini-Entsorgungsstelle vollgestopft. Für das Pflanzen von Gemüse bleibt kein Platz. Es reicht gerade für ein paar Töpfe mit aromatischen Kräutern. Jeden Sonntag macht sich die kleine Truppe deshalb auf den Weg zu ihrer Parzelle in einem lokalen Gemeinschaftsgarten des Vereins «Au-Potager». Unter fachkundiger Anleitung widmen sich Eltern und Kinder gemeinsam dem Giessen, Jäten und – als Belohnung – dem Ernten.

© regiosuisse

Der Verein «Au-Potager» hat sich zum Ziel gesetzt, die Vertragslandwirtschaft als neuen Weg des Lebensmittelkonsums zu ermöglichen. Im Kanton Waadt betreibt der Verein bereits drei Standorte. Er bietet Dienstleistungen an, um diese Art von Gärten in der Westschweiz zu verbreiten. «Au-Potager» gehört seinerseits zu den vier Projekten, die 2022 eine Star’Terre-Begleitung erhalten haben. Die weiteren sind «Local Impact» in Freiburg, Entwickler der digitalen Plattform «Cuisinons notre région», «L’Ortie», ein gemeinsam geführtes Gemüseanbauprojekt im Kanton Genf, und «Lupi Food», das eine neue Wertschöpfungskette für pflanzliche Proteine auf Basis von Schweizer Lupinen im Kanton Waadt entwickeln will.

Die Begleitung durch Star’Terre im Umfang von rund 12 000 Franken pro Projekt erstreckt sich über drei Jahre. Die Projekte erhalten dabei thematische Beratung durch Fachleute, beispielsweise in Bezug auf die Wertschöpfungskette, rechtliche Aspekte, das Öko-Design oder die Wirtschaftsstrategie. Darüber hinaus haben sie Zugang zu einer Informationsdatenbank und spezifischen Instrumenten. Sie können sich zudem auf das starke Akteurnetzwerk im Umfeld von Landwirtschafts-, Unternehmens-, Innovations- und akademischen Kreisen stützen, an deren Schnittstelle Star’Terre sich aktiv positioniert.

© regiosuisse

Förderung des lokalen Konsums

Der Name Star’Terre sagt viel über die Natur und die Ziele dieser Organisation aus, die sich unter anderem als Bindeglied zwischen der Welt der Start-ups und der Welt der Bodenbewirtschaftung versteht. «Unser Ziel ist es, die Bereiche Landwirtschaft, Lebensmittel, Innovation und Unternehmertum im Kontext des lokalen Konsums zusammenzubringen», erklärt Magali Estève, Mitglied des Koordinationsteams. Mit «lokal» ist hier der Metropolitanraum rund um den Genfersee gemeint, der die Kantone Waadt, Genf, Freiburg und Wallis einschliesst, in denen Star’Terre aktiv ist.

Star’Terre ist eine sehr junge Organisation, die in ihrer jetzigen Form erst seit März 2020 besteht. Es handelt sich dabei um eine Fortsetzung des interkantonalen Projekts «Lokaler Konsum in der Genferseemetropole», das im Rahmen des vom seco entwickelten «Pilotprogramms Aktionsgebiet Wirtschaft» durchgeführt wurde. Dieses nationale Programm umfasste sechs Projekte und dauerte von 2017 bis 2019. Aufgrund der gesammelten Erfahrungen beschlossen die in der Region Genfersee Beteiligten, die Organisation zu verstetigen. Zum einen, weil sich dadurch Mängel beheben liessen – insbesondere die mangelnde Unterstützung an der Schnittstelle zwischen landwirtschaftlichem und nichtlandwirtschaftlichem Unternehmertum sowie fehlende Synergien zwischen den verschiedenen Förderprogrammen – und zum anderen, weil die Fortführung ermöglichte, das Potenzial der Metropole am Genfersee in Wert zu setzen.

«Star’Terre zielt auf einen echten Modellwechsel ab», betont Magali Estève. «Wir unterstützen die lokalen Akteure in ihrem Bestreben, innovativ zu sein, Know-how aus der Landwirtschaft und der Lebensmittelbranche zu teilen und besser zu verwerten.» Dies alles mit dem Ziel, «die Wertschöpfung zu den Produzenten und in die Region zurückzubringen.» Star’Terre war von Anfang an eine interkantonale Initiative und wird getragen von den Landwirtschaftsämtern der vier beteiligten Kantone sowie von agridea, der landwirtschaftlichen Beratungszentrale der kantonalen Landwirtschaftsfachstellen, der Magali Estève angehört.

Return on Investment

Über diese Funktion als Anlaufstelle hinaus versteht sich Star’Terre auch als Ort der Vernetzung von Kompetenzen oder Ressourcen sowie als Wissensdatenbank. «Wir veröffentlichen Dokumentationen, etwa einen Leitfaden für die Gründung eines partizipativen Lebensmittelladens.» Nicht zu vergessen ist die Organisation von Veranstaltungen. In einem kostenlosen Webinar wurden innovative Instrumente mit Fokus auf kurze Kreisläufe für Landwirte, Start-ups und kmu vorgestellt. Im Rahmen thematischer Treffen konnten die Teilnehmenden die Fortschritte bei den Techniken zur Verwertung von Nebenprodukten und Abfällen aus der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie kennenlernen. «Wir stellen ein immer stärkeres Interesse an den Konzepten der Lebenszyklusanalyse und der Kreislaufwirtschaft fest; das ist ein Pfeiler, den wir weiter
stärken werden.»

Dennoch: Das Kerngeschäft von Star’Terre besteht weiterhin in der Begleitung von Projekten in der Startphase. «Es muss sich um Projekte handeln, die weniger als drei Jahre alt sind und sich auf die Produktion, die Verarbeitung, den Vertrieb oder die Verwertung beziehen», erläutert die Leiterin. Selbstverständlich muss, wer einen Antrag auf Unterstützung stellt, im Aktivitätsperimeter von Star’Terre tätig sein. Zudem muss das Projekt «auf die eine oder andere Weise zu einer Erhöhung des Verbrauchsvolumens an lokalen Produkten beitragen und einen Mehrwert für die lokale Landwirtschaft aufweisen.» Schliesslich müssen die dem Auswahlkomitee vorgelegten Initiativen innovativ sein, Erfolgsaussichten haben, «leicht in einem anderen Kanton umsetzbar sein und potenziell einen Markt erreichen, der über die Metropole am Genfersee hinausgeht».

© regiosuisse

Nachahmer erwünscht

Seit dem Start des Pilotprojekts im Jahr 2017 wurden 26 Projekte von Star’Terre begleitet. Zu ihnen gehört auch eines von «Les Fruits de Martigny», einer Aktiengesellschaft, die seit über zwanzig Jahren in der Vermarktung von Walliser Obst und Gemüse tätig ist. «Sie wollte innovativ sein und eine Reihe von Frucht- und Gemüsesäften herstellen, deren Nährwerte dank ‹Pascalization› – eines Verfahrens der Kaltpasteurisierung unter hohem Druck – erhalten bleiben», berichtet Georg Bregy, der stellvertretende Leiter der Walliser Dienststelle für Landwirtschaft und Mitglied des Star’Terre Steuerungsausschusses. Dieses seit 2020 unterstützte Projekt sei ein schönes Beispiel für den Beitrag von Star’Terre zur regionalen Wirtschaft. «In einem Alpen- und Tourismuskanton wie dem Wallis ist es besonders interessant, Innovation zu nutzen, um den Konsum der lokalen Produktion zu fördern», fährt er fort.

Anderer Kanton, gleicher Ton. Jean-Marc Sermet ist Leiter des Sektors «Beiträge und Strukturen» im Genfer Amt für Landwirtschaft und Natur. Auch er ist Mitglied des Star’Terre- Lenkungsausschusses. «Früher neigten wir dazu, uns auf die Landwirtschaft zu konzentrieren. Wenn wir aber darüber hinausgehen und innovative Wege finden, um Produzenten und Konsumenten über Start-ups zusammenzubringen, schaffen wir einen echten Mehrwert für die Landwirtschaft und die Wirtschaft des Kantons.» Er nennt als Beispiel die «Manufacture de Terroir», ein 2021 unterstütztes Genfer Projekt. «Dabei handelt es sich um eine gemeinsam genutzte Werkstatt zur Verarbeitung kleiner Mengen an Obst und Gemüse. Sie stellt lokalen Produzenten die Infrastruktur und die Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sie Säfte, Suppen usw. herstellen können.»

Die beiden Kantonsverantwortlichen begrüssen unisono, dass die Vision von Star’Terre nicht bei der Parzelle endet. «Nur weil man in der Landwirtschaft tätig ist, heisst das nicht, dass man nicht über das eigene Feld, die eigene Gemeinde und den eigenen Kanton hinausschauen sollte», betont Jean-Marc Sermet. «Während der Pilotphase unseres Projekts haben wir festgestellt, dass der Genfer Metropolitanraum hinsichtlich der Konsumströme eine Tatsache ist», ergänzt Magali Estève. «Es ist ein Raum, in dem lange und kurze Kreisläufe harmonisch koexistieren und zusammenfliessen können.» Dieses Modell stösst auch anderswo in der Schweiz auf Begeisterung. Es wäre daher nicht überraschend, wenn Star’Terre auch jenseits der Saane Nachahmer finden würde.

starterre.ch

Weitere Artikel

«Zirkulär in die Zukunft»

Pirmin Schilliger & Urs Steiger

Wie kann die Kreislaufwirtschaft in die Wirtschaft und die Gesellschaft integriert und als zukunftsweisendes Modell einer nachhaltigen Entwicklung gezielt gefördert werden? Welche besonderen Chancen eröffnen sich damit der regionalen Wirtschaft? Diese Fragen diskutierten im Gespräch mit «regioS» Marie-Amélie Dupraz-Ardiot, Sustainability-Managerin und Verantwortliche des Kantons Freiburg für die Strategie «Nachhaltige Entwicklung», Antonia Stalder, Geschäftsführerin von Prozirkula, sowie Ökonomieprofessor Tobias Stucki, Co-Leiter des Instituts Sustainable Business an der Berner Fachhochschule Wirtschaft.

regioS: Kreislaufwirtschaft ist ein älteres Konzept. In der Schweiz hat sich die Abfallkampagne des Bundes bereits in den 1990er-Jahren mit Aspekten davon auseinandergesetzt. Können wir folglich heute auf Bestehendem aufbauen, oder starten wir neu?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Das Konzept der Kreislaufwirtschaft ist heute relevanter als je zuvor. Wir können dabei zwar auf Bestehendem aufbauen, aber wir müssen deutlich mehr machen als bisher. Wir dürfen nicht nur das Recycling ansprechen, sondern müssen eine breitere Perspektive entwickeln, in der Themen wie «Abfall vermeiden», «Reparieren» und «Wiederverwenden» eine grosse Rolle spielen.

Tobias Stucki: Wir haben das Denken in Kreisläufen generell noch zu wenig verinnerlicht. Wir müssen dieses Denken auch bei uns wieder in die Köpfe reinkriegen, so wie das früher normal war und heute in ärmeren Ländern noch ganz normal ist. In einer Vorlesung hat ein Student aus Kuba gesagt: «Kreislaufwirtschaft ist, wie wir bei uns leben.»

Antonia Stalder: Einen – zumindest historischen – Anknüpfungspunkt gibt es auch bei uns. In unseren Schulungen erzählen die Teilnehmenden immer wieder, dass ihre Grosseltern noch auf diese Art und Weise gewirtschaftet hätten. Sie haben zum Beispiel ihre Möbel dreissig Jahre lang zweimal im Monat geölt, um sie möglichst lange nutzen zu können. Wir haben solch sorgfältiges Wirtschaften irgendwie verlernt. Wir sind nicht mehr interessiert daran, Dinge mit langlebiger Qualität zu bauen und sie entsprechend zu unterhalten und zu pflegen. Es geht bei der Kreislaufwirtschaft tatsächlich nicht einfach nur um Recycling, sondern um die richtigen Werte. Diese beruhen darauf, dass die Dinge nicht einfach neu und chic sein müssen, sondern dass sie von guter Qualität sind, sodass sie sich mehrmals aufbereiten und immer wieder reparieren lassen – und dabei noch edler aussehen als Neueinkäufe.

Wo stehen wir heute in der Umsetzung gemessen am Fernziel einer konsequent auf erneuerbare und wiederverwertbare Ressourcen ausgerichteten Kreislaufwirtschaft?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Wir sind vom Fernziel noch weit entfernt. Um die Kreislaufwirtschaft überhaupt umsetzen zu können, brauchen wir eine neue Denkweise. Solange in unseren Köpfen nichts passiert, nehmen die Materialflüsse in unserer Wirtschaft unentwegt zu. Wir müssen uns wieder an all das erinnern, was wir von unseren Grosseltern hätten lernen können. 

Antonia Stalder: In der Baubranche beispielsweise verbauen wir mengenmässig so viel, dass wir mit den eingesetzten Materialien jeden Monat New York City frisch aus dem Boden stampfen könnten. Laut Prognosen wird sich bis 2050 daran auch nichts Entscheidendes ändern.

Tobias Stucki: Wir haben erst kürzlich gemeinsam mit der ETH eine repräsentative Befragung bei Unternehmen in der Schweiz durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass lediglich bei rund zehn Prozent der Firmen die Kreislaufwirtschaft schon ernsthaft ein Thema ist. Rund vierzig Prozent der Unternehmen haben hingegen in den letzten Jahren keine Massnahmen zur Steigerung der ökologischen Nachhaltigkeit umgesetzt.

Lässt sich Kreislaufwirtschaft in der Schweiz, deren Wirtschaft bekanntlich extrem in globale Wertschöpfungsketten eingebettet ist, überhaupt umsetzen? Wie können sich die Betriebe organisieren, um zirkulär zu werden?

Tobias Stucki © regiosuisse

Tobias Stucki: Die zirkuläre Transformation setzt in den meisten Fällen voraus, dass man die gesamten Lieferketten überdenken und – zum Teil mit neuen Partnern – neu organisieren muss. Dabei ist nicht die Logistik das grösste Problem. Die eigentliche Herausforderung bilden die Produkte selbst. Zentral ist die Frage, welche Materialien und Stoffe in welchen Produkten überhaupt eingesetzt werden sollen.

Antonia Stalder: Ich glaube nicht, dass wir uns die globalen Wertschöpfungsketten mitsamt allem logistischen Aufwand in diesem Ausmass auch in Zukunft leisten können. Heute produzieren wir – das Wort sagt es – entlang von Ketten, sogenannten Wertschöpfungsketten, die per se linear und nicht zirkulär sind. Wir werden nicht darum herumkommen, in Zukunft viel mehr Produkte und Geräte aufzubereiten, zu reparieren und zu teilen, und zwar im regionalen und lokalen Rahmen. Wenn wir stattdessen unseren globalen Warenverkehr noch stärker ausweiten, sehe ich grosse Probleme auf uns zukommen.

Tobias Stucki: Letztendlich stehen wir bei der Umsetzung einer effizienten Kreislaufwirtschaft einem Trade-off gegenüber: Einerseits macht es natürlich Sinn, Kreisläufe möglichst lokal zu schliessen, andererseits wird dies technisch nicht immer möglich sein. Wir brauchen in Zukunft einen gewissen Mix aus lokalen, regionalen und globalen Wertschöpfungskreisläufen.

Wie beurteilen Sie, Frau Dupraz-Ardiot, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten, die Kreislaufwirtschaft in unserem System einzuführen?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Die Kreislaufwirtschaft wird über kurz oder lang ein wesentlicher Teil der Ökonomie, denn sie ist ein entscheidender Kostenreduktionsfaktor und auch ein Faktor der Wettbewerbsfähigkeit. Ausserdem trägt sie zur Resilienz bei in einer Zeit, in der die Rohstoffpreise rasant steigen und es Engpässe in den Lieferketten gibt. So betrachtet wird die Kreislaufwirtschaft immer mehr auch zum Faktor der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit einer Region.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot © regiosuisse

Gibt es dafür ein erfolgreiches Beispiel?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Im Kanton Freiburg haben wir eine Agrar- und Lebensmittelstrategie entwickelt, die sich stark auf die Umsetzung einer regionalen Kreislaufwirtschaft mitsamt der Vernetzung der Akteurinnen und Akteure konzentriert. Eine der Leitideen ist dabei, die sekundäre Biomasse wiederzuverwerten.

Wo liegen die eigentlichen Knackpunkte bei der Umsetzung?

Antonia Stalder: Der Knackpunkt in der öffentlichen Beschaffung zum Beispiel liegt in der Komplexität. In unserer Beratung versuchen wir, diese auf eine verständliche Ebene herunterzubrechen. Der Bedarf nach dieser Art von Beratung ist vor allem in kleineren Strukturen gross. Ein Kanton hat vielleicht noch die notwendigen Ressourcen, aber eine Gemeinde ist mit dem Thema schnell überfordert. Es fehlen allerdings praktische Instrumente zur Umsetzung. Ich denke an Checklisten, verbindliche Ausschreibungskriterien, Blueprints für klare Entscheidungsgrundlagen und Ähnliches. Dazu wollen wir von Prozirkula in der Beratung und mit unserem Kompetenzzentrum einen Beitrag leisten.

Tobias Stucki: Die Herausforderungen in der Privatwirtschaft sind ähnlich wie bei der öffentlichen Beschaffung: Das Konzept der Kreislaufwirtschaft ist den Verantwortlichen zwar einigermassen bekannt, aber die Umsetzung im eigenen Betrieb erweist sich als schwierig. Es gibt kaum Standardlösungen dafür. Gefragt ist ein individueller Ansatz, und diesen zu entwickeln, ist meistens nicht ganz einfach. Hinzu kommt, dass der Wandel zur Kreislaufwirtschaft mit Finanzierungskosten verbunden ist.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Auf Kantonsebene haben wir zwar die Ressourcen, um den strategischen Rahmen zu entwickeln, in der Umsetzung fehlen uns aber die Kenntnisse. Kreislaufwirtschaft ist eine interdisziplinäre Disziplin, bei der alle Beteiligten zusammenarbeiten müssen. Es funktioniert nur, wenn alle miteinander reden, die Akteure der Wirtschaftspolitik mit jenen der Agrarpolitik, die Akteurinnen der Agrarpolitik mit jenen der Abfallwirtschaft. Ein weiterer Knackpunkt ist rein technischer Art: Die meisten Materialien lassen sich nicht beliebig oft recyceln und wiederverwenden. Sie verlieren nach jedem Durchlauf an Qualität. Zirkularität ist eine Möglichkeit, den Ressourcenverbrauch zu verlangsamen und zu reduzieren, aber sie kann ihn nicht gänzlich aufhalten.

Wer ist in der Umsetzung besonders gefordert? Welche Akteure spielen die entscheidende Rolle?

Tobias Stucki: Entscheidend sind nicht nur die Produzenten, sondern auch die Konsumentinnen und Konsumenten. Auch sie müssen sensibilisiert werden, damit die Kreislaufwirtschaft wirklich funktionieren kann. Sie müssen bereit sein, Produkte länger und zirkulär zu nutzen. Eine Schlüsselrolle spielt das öffentliche Beschaffungswesen, etwa wenn es darum geht, Pilotprojekte zu finanzieren. Mitspielen muss auch der Finanzsektor. Und selbstverständlich ist die Politik gefordert, wenn es gilt, die entsprechenden Rahmenbedingungen festzulegen. Wie generell bei der Nachhaltigkeit bringt es nichts, sich bei der Kreislaufwirtschaft nur auf einzelne Punkte zu fokussieren. Als Bildungsanbieter stehen wir zudem in der Pflicht, die Leute zu schulen und das notwendige Wissen zu vermitteln.

Verfügt die Schweiz bereits über die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen?

Tobias Stucki: An unseren Zielen gemessen: Nein! Sieht man, was die EU im Moment macht, sind wir völlig im Rückstand – obwohl wir aufgrund unserer Ressourcenknappheit und unseres Innovationswissens prädestiniert wären, eine Vorreiterrolle einzunehmen. Beginnen wir nicht sofort und energisch, an unseren Rahmenbedingungen zu arbeiten, laufen wir Gefahr, gegenüber anderen Ländern in einen Wissensrückstand zu geraten, den wir nicht mehr so schnell werden aufholen können.

Antonia Stalder: Speziell in der öffentlichen Beschaffung hätten wir mit dem revidierten öffentlichen Beschaffungsgesetz seit Januar 2021 eigentlich genug Spielraum. Es wäre klug und nützlich, diesen Spielraum auszuschöpfen und die entsprechenden Projekte aus dem Boden zu stampfen. Natürlich müssen die Rahmenbedingungen noch weiter angepasst werden, aber man könnte bereits jetzt sehr viel mehr tun, als tatsächlich geschieht.

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Wir hätten, wie es Herr Stucki erwähnt hat, in der Schweiz vor einigen Jahren eine Vorreiterrolle übernehmen können. Mittlerweile ist die EU schon viel weiter, und auch einzelne Länder wie Frankreich haben mehr gesetzliche Grundlagen als die Schweiz.

Wo könnte und sollte man in der Gesetzgebung Nägel mit Köpfen einschlagen?  

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: In der laufenden Revision des Umweltschutzgesetzes könnte man viel machen. Der Bund hat die Revision in die Vernehmlassung geschickt. Der Kanton Freiburg hat vorgeschlagen, in verschiedenen Punkten weiter zu gehen als vorgeschlagen. Wichtig sind gesetzliche Rahmenbedingungen, die wir dann auch tatsächlich umsetzen können. Ich habe Bedenken, ob wir bereits über genügend fähige Leute mit dem notwendigen Wissen und den erforderlichen Kompetenzen verfügen. Es gibt zweifellos noch grösseren Ausbildungs- und Schulungsbedarf.

Tobias Stucki: In der Schweiz setzen wir extrem stark auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Die EU geht da entschieden einen Schritt weiter und versucht, die Kreislaufwirtschaft gesetzlich klar zu regeln. Es gibt Vorschriften, die für Druck sorgen, sodass die Unternehmen sich wirklich bewegen müssen. Und wer nichts unternimmt, muss mit Sanktionen rechnen.

Antonia Stalder: Mehr Vorgaben und ein bisschen mehr Verbindlichkeit täten uns sicher gut. Wenn wir es nur bei der Freiwilligkeit belassen, bleiben wir Schweizerinnen und Schweizer in der Regel ziemlich träge.

Kreislaufwirtschaft ist als wesentliches Element einer nachhaltigen Entwicklung auf der Agenda der Neuen Regionalpolitik (NRP) weit nach oben gerückt. In welchen Bereichen sehen Sie besondere Chancen und Vorteile, in den Regionen die Kreislaufwirtschaft erfolgreich umzusetzen?

Antonia Stalder © regiosuisse

Antonia Stalder: Haben sich kreislauffähige Lösungen einmal etabliert, haben sie das Potenzial, ökonomisch und ökologisch grundsätzlich besser zu sein als lineare Lösungen. In der linearen Wirtschaft vernichtet man ja Werte, indem man Dinge wegwirft, die noch wertvoll wären. Rückt man von dieser Praxis ab und stellt stattdessen den Werterhalt in den Vordergrund, gewinnt man auf der ganzen Linie, egal, ob in der Stadt oder in einer ländlich geprägten Region. Hinzu kommen weitere Vorteile wie Liefersicherheit und Resilienz. Kürzlich hatten wir den Fall eines Kaffeeautomatenherstellers, der uns in grosser Verzweiflung gesagt hat: «Nennt mir die grösste Deponie in Deutschland, ich schicke zehn meiner Mitarbeiter dorthin, damit sie unsere Geräte raussuchen und die Chips ausbauen. So können wir weitere drei Monate produzieren und überleben.» Die Region kann also in der Kreislaufwirtschaft zur entscheidenden Drehscheibe werden.

Frau Dupraz-Ardiot, wie bringen Sie die Kreislaufwirtschaft gezielt in die Regionen des Kantons Freiburg?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Meine Hauptaufgabe ist es, das Bewusstsein über die Herausforderungen der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Sektoralpolitiken des Kantons einzubringen. Notwendig ist dafür eine Kultur der Interdisziplinarität. Wer in der Wirtschaftspolitik tätig ist, muss also auch an die ökologischen und sozialen Aspekte denken und umgekehrt. Wir versuchen, mit Beteiligten aus allen Bereichen der Verwaltung verschiedene Projekte zu lancieren, die diese Kultur der Interdisziplinarität leben.

Herr Stucki, wird die Kreislaufwirtschaft bei den Unternehmen als Chance begriffen oder als mühsame Last?

Tobias Stucki: Es gibt Unternehmen, die sich bereits um Kreislaufwirtschaft bemühen und entsprechend handeln, gerade weil sie da Chancen sehen. Die vielen anderen wittern in der Kreislaufwirtschaft vor allem Risiken und Gefahren. Mittlerweile gibt es aber in allen Branchen «Leuchttürme», die zeigen, dass es funktioniert. Um die Berührungsängste abzubauen, müsste man diese noch stärker ins Schaufenster stellen. Dabei geht es nicht um den sorgfältigen und effizienten Umgang mit Ressourcen, die immer knapper werden. Eine Wirtschaft, die das nicht begreift und nicht bereit ist, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, wird eines Tages nicht mehr wettbewerbsfähig sein.

Benötigen wir zusätzliche Signale von der Politik, um die Kreislaufwirtschaft bei uns zu etablieren?

Marie-Amélie Dupraz-Ardiot: Die aktuelle Situation mit Engpässen in den Lieferketten trägt dazu bei, dass sich viele Unternehmen der Bedeutung einer effizienten Ressourcenbewirtschaftung erstmals so richtig bewusst werden. Die Mangellage löst wohl mehr aus als manches politische Druckmittel. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Änderung des Umweltschutzgesetzes etwas bringen wird, auch den Regionen. Im Kanton Freiburg versuchen wir mit dieser neuen Perspektive einen Plan für die Abfallbewirtschaftung zu erarbeiten, der ganzheitlich ist und weit über das Recycling hinaus die gesamte Kreislaufwirtschaft ansprechen wird.

Weitere Artikel