Trotz der dominierenden Abwanderung ist in den peripheren Berggebieten der Schweiz auch ein BrainGain zu beobachten. Die Zuwanderinnen und Zuwanderer aus dem Unterland und den städtischen Gebieten – auch «New Highlander» genannt – sind in der Regel gut ausgebildet. Nebst beruflichem Fachwissen bringen sie oft eine hohe Bereitschaft mit, sich in der neuen Heimat gesellschaftlich zu engagieren. Viele lösen überdies unternehmerische Impulse aus, die den demografischen Abwärtstrend bestenfalls zu stoppen vermögen.
Mit «New Highlander» bezeichnen Geografen und Regionalentwicklerinnen und -entwickler eine bestimmte Kategorie neuer Bewohnerinnen und -bewohner des Berggebiets. Diese ziehen in die alpinen Räume, weil sie gerade dort die besten Perspektiven sehen, ihre beruflichen und privaten Lebensvorstellungen zu verwirklichen. Seit einigen Jahren profitieren auch die Schweizer Berggebiete von dieser Entwicklung. Begünstigt wird sie hier von der guten Erreichbarkeit vieler Bergregionen, durch Zweitwohnungen und neuerdings durch die Digitalisierung und die Etablierung neuer Arbeitsformen. Auch grössere Unternehmen tragen dazu bei, indem sie ihre Standorte in den alpinen Haupttälern massiv ausbauen. Firmen wie der Pharmazulieferer Lonza, die Bosch-Tochter Scintilla – beide im Oberwallis – oder die Ems-Chemie und der Medizintechnik-Hersteller Hamilton in Graubünden sind eigentliche Job- und Zuwanderungsmotoren. Die folgenden vier Porträts geben einen Eindruck von den jeweils sehr unterschiedlichen Motiven der einzelnen «Highlander».
Cyril Peter, Zeneggen VS
Nach dem Studium an der Technischen Universität in Aachen wollte der promovierte Bioverfahrenstechniker Cyril Peter weg vom akademischen Betrieb. Er suchte beim Pharmazulieferer Lonza in Visp eine neue Herausforderung in der Industrie. Dort ist er nun seit 14 Jahren tätig. Als «Commercial Solutions Integrator» bekleidet er eine wichtige Schnittstellenfunktion zwischen der Kundschaft, Verkaufsmanagerinnen und -managern und dem technischen Team.
«Das Unternehmen Lonza war mir zwar beim Umzug in die Schweiz bekannt, von Visp und vom Wallis wusste ich damals aber so gut wie gar nichts», erzählt Peter. «Zuerst wohnte ich mit meiner Familie am Arbeitsort in einer nicht gerade idyllischen Umgebung im Talboden. Als wir wenig später auf einem Wochenendausflug Zeneggen entdeckten, war dies Liebe auf den ersten Blick: ein romantisches Bergdorf mit der Natur direkt vor der Haustüre; der totale Gegensatz zu unserem früheren Leben in der Viertelmillionenstadt Aachen. Zeneggen wurde rasch zu unserer neuen Heimat. Mit seinen knapp dreihundert Einwohnerinnen und Einwohnern und rund zwei Dutzend Vereinen bietet der Ort ein überraschend vielfältiges gesellschaftliches Leben, an dem ich mich gerne beteilige. So bin ich seit einigen Jahren Präsident des Sportvereins und Mitglied der Freiwilligen-Feuerwehr, seit kurzem ausserdem Pfarreirat. Als Outdoor-Enthusiast schätze ich überdies die Freizeitmöglichkeiten ganz in der Nähe.
Ich bin längst nicht der Einzige, der aus dem Dorf zur Lonza nach Visp pendelt. Bedingt durch das Corona-Virus, habe ich in letzter Zeit auch öfter im Homeoffice gearbeitet – ein perfektes Gefühl, auf 1400 Meter über Meer mitten in der Bergwelt zu sitzen, mit Blick auf die umliegenden Drei- und Viertausender, und doch global vernetzt und verbunden zu sein mit Kunden und Kollegen auf der ganzen Welt. Vermissen tue ich als ehemaliger Städter überhaupt nichts, im Gegenteil: Ich bin immer wieder erstaunt, welch reichhaltiges Kulturleben das Oberwallis bietet, bis hin zur klassischen Musik. Und wenn wir einmal doch Lust nach mehr haben, sind wir schnell in Bern, Zürich oder Mailand.»
Martin Bienerth und Maria Meyer, Dorfsennerei Andeer GR
Martin Bienerth ist Allgäuer, seine Frau Maria Meyer stammt von der Mosel. Beide haben sie nach dem Abitur ökologische Landwirtschaft studiert und in den Semesterferien jeweils Kühe auf Bündner Alpen betreut. Da lernten sie sich auch kennen, und aus einem Alpsommer wurden schliesslich viele. Dazwischen arbeitete Bienerth als EU-Landwirtschaftsinspektor, derweil sich seine Frau in der Schweiz zur Käsemeisterin ausbilden liess. «Als sich uns vor knapp zwanzig Jahren die Chance bot, die von der Schliessung bedrohte Sennerei in Andeer GR zu übernehmen, griffen wir zu», verrät Bienerth. «Das war damals – noch ohne bilaterale Verträge – ziemlich kompliziert. Wir hatten kaum Geld, konnten nur auf wenig öffentliche Unterstützung zählen, und man begegnete uns, weil wir vieles anders als die Vorgänger machen wollten, vorerst mit Skepsis. Doch mit Herzblut, Leidenschaft, Engagement und Durchhaltewillen machten wir uns ans Werk. Wir verarbeiten heute jährlich 420 000 Liter Milch, die uns die fünf Biobauern anliefern. Wir produzieren Käse, Rahm, Sauerrahm und Butter, die wir zusammen mit einem zugekauften Öko-Sortiment im eigenen Laden verkaufen. Darüber hinaus vertreiben wir den Käse via Grosshändler in der ganzen Schweiz und ins Ausland. Die Selbstvermarktung haben wir von anfänglich 10 auf 100 Prozent gesteigert und entsprechend auch die Wertschöpfung. So können wir den Bauern bessere Milchpreise zahlen und der Abwanderung entgegenwirken. Dazu tragen auch die zehn Arbeitsplätze unserer Molkerei bei.
Die Übernahme der Sennerei war einer der besten Entscheide in unserem Leben, auch wenn das Wochenpensum von 60 bis 70 Stunden einem alles abverlangt. Eine Weile war ich zudem im Vorstand des Bündner ÄlplerInnenvereins (BÄV) und Mitglied in der Kommission für Alp- und Milchwirtschaft des Bündner Bauernverbandes. Denke ich zurück an unseren schwierigen Start vor bald zwanzig Jahren, so glaube ich, dass heute dank der politischen Veränderungen wohl einiges leichter wäre.»
Christina Fenk und Damian Gschwend, Sekundarlehrerin und -lehrer, Blitzingen VS
Für Christina Fenk und Damian Gschwend war schon länger klar, dass sie möglichst ruhig und im Grünen wohnen möchten. Im Rahmen ihres letzten Urlaubs schaute das Luzerner Sekundarlehrerpaar im Oberwallis, das Christina Fenk seit ihrer Kindheit als Feriendestination kennt, einige Immobilien etwas genauer an. Dabei stach ihnen ein Haus ins Auge, das wie auf sie zugeschnitten schien. «Es liegt am Dorfrand von Blitzingen VS, und es wurde vor vier Jahren gebaut», erzählt Christina Fenk. «Da wir beide sehr sportlich sind, lockte uns auch das Freizeitangebot. Die sportlichen Aktivitäten sind uns jedenfalls wichtiger als Kino, Theater und das ganze städtische Kultur- und Konsumangebot. Nach erstem Kontakt mit dem Hauseigentümer und dessen Immobilienmakler wurden wir rasch handelseinig.
Dass es uns mit unseren ‹Auswanderungsplänen› ernst sein würde, wollte uns zuerst niemand glauben. Nun, wo wir am Aufbrechen sind, heisst es in unserer bisherigen Heimat im Luzerner Hinterland: ‹Ihr habt nichts zu verlieren, ihr könnt ja jederzeit wieder zurückkommen.› Das ist für uns jedoch keine Option, im Gegenteil: Nach den Sommerferien werden wir beide mit dem Unterricht an der Orientierungsschule in Fiesch VS starten.
Das Goms fühlt sich bereits wie unsere neue Heimat an. Durch unseren Job, die Kontakte mit dem Schulteam, den Schülern sowie den Eltern werden wir bald schon mittendrin sein. Ich kann mir ausserdem vorstellen, dass wir uns auch bald gesellschaftlich – etwa in einem Sportverein – engagieren werden. Ein wenig sind wir auch stolz auf uns selbst, dass wir mutig sind und etwas Neues wagen.»
Thomas Lampert, Kunst- und Bauschmied, Guarda GR
Der Gründer der Schmiede «Fuschina da Guarda» stammt aus Basel. Der gelernte Metallbauschlosser bildete sich zum Eidg. dipl. Schmiedemeister und zum Kunstschmied weiter. Nach einem akademischen Abstecher mit Matur und abgebrochenem Physikstudium sowie einem Militäreinsatz in Kosovo zog es Lampert mit 29 Jahren zurück zu seinen beruflichen Wurzeln. «Ich wollte mich aber selbständig machen», erinnert sich Lampert. «Auf der Suche nach einer Lokalität stiess ich 2001 in Guarda auf eine renovierte Schmiede sowie ein ziemlich unberührtes Marktumfeld. Schrittweise baute ich zusammen mit meinen Mitarbeitern und den Lernenden die Kunst- und Bauschmiede auf, in der wir allgemeine Schmiede- und Metallgestaltung anbieten, aber auch Reparaturen und Restaurationen. Ausserdem haben wir einen Kulinarik-Bereich, wo wir Messer, Tafelbesteck und Pfannen für Private und die Gastronomie produzieren. Im Moment errichten wir eine neue Werkstatt, die wir am 5. September eröffnen werden. Sie verbessert nicht nur unsere Produktionsmöglichkeiten, sondern ist auch geplant als Schauschmiede mit Besucherzentrum, Ausstellung, Bistro und Workshop-Räumlichkeiten.
Der Entscheid, nach Guarda zu ziehen, hat sich bewährt. Die Peripherie hat, wenn sie auch Besucherinnen und Besucher anlockt, ihre Vorteile. Das Unterengadin lässt einem Zeit und Freiraum für neue Ideen und Innovationen wie eben den Neubau, mit dem wir den Leuten das Schmiedehandwerk wieder näherbringen möchten. Die Finanzierung bedeutete allerdings eine ziemliche Herausforderung. Mit Eigenkapital, einem Baukredit, einem Crowdfunding und einem Beitrag der Schweizer Berghilfe haben wir es schliesslich geschafft. Als Zuwanderer habe ich immer eine gewisse Narrenfreiheit genossen. Doch wer im Unterengadin arbeitsam, fleissig und einigermassen erfolgreich ist, hat schon halb gewonnen. Nebst allen menschlichen Qualitäten erwartet man auch ein gewisses öffentliches Engagement. Ich sass fünf Jahre im Gemeinderat und bin derzeit Präsident des Tourismusvereins. Meine Baselbieter Direktheit haben mir die eher zurückhaltenden Engadiner stets verziehen.»
Der regionalwirtschaftliche Gewinn
Welchen Beitrag die «New Highlander» für die Regionalentwicklung insgesamt leisten, ist nicht bekannt. Der Begriff taucht noch in keiner Statistik auf. Das Geografische Institut der Universität Bern hat in einer explorativen Fallstudie im Kanton Graubünden das Phänomen der «New Highlander» vor drei Jahren eingehender untersucht. Rahel Meili, die ihre Dissertation dazu geschrieben hat, sagt: «Der Zuzug der New Highlander bewirkt eine Verjüngung der Bevölkerung und stärkt das Humankapital.» Zudem würden die Zuwanderinnen und Zuwanderer aus dem Unterland über grosses Fachwissen, genügend Startkapital und überregionale Netzwerke verfügen. Sie bringen neue Ideen und Kontakte in die peripheren Räume und erschliessen neue Möglichkeiten einer exportorientierten Wertschöpfung, indem sie beispielsweise ihre städtischen Herkunftsgebiete als Absatzmarkt nutzen.
Nur spekulieren lässt sich darüber, wie sich das wirtschaftliche Potenzial der «New Highlander» in grösserem Massstab nutzen liesse. Ein Ansatz könnte der Aufbau eines «New-Highlander»-Netzwerks sein, damit die alpinen Zuwanderinnen und Zuwanderer ihre Ideen und Erfahrungen austauschen und, falls notwendig, spezifische Beratungsdienstleistungen abholen könnten. Einbeziehen könnte man in dieses Netzwerk auch die Generation 65+, die nach der Pensionierung ihre Zweitwohnung in den Bergen zum festen Wohnsitz wählt und interessiert daran ist, sich in der neuen Umgebung öffentlich zu engagieren.
Dissertation von Rahel Meili: regiosuisse.ch/PhDMeili