Wie präsentiert sich die wirtschaftliche Situation in den Zielgebieten der Neuen Regionalpolitik (NRP) nach mehr als einem halben Jahr Corona-Krise? Haben sich die Massnahmen der NRP auch in der Krise bewährt? Welche Konsequenzen ergeben sich für eine in Zukunft möglichst krisenresistente und resiliente Regionalpolitik? Im schriftlich geführten Interview mit «regioS» äussert sich Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, SECO-Direktorin, zur aktuellen Situation und zu den Perspektiven für die Weiterentwicklung der NRP.
Frau Staatssekretärin, wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Entwicklung in den Zielgebieten der NRP in diesem Jahr?
Die Corona-Krise hat in diesem Jahr in den NRP-Regionen, insbesondere in vielen Bergregionen, negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung gehabt. Das liegt daran, dass die Branchenstruktur in den Berggebieten oftmals nicht sehr diversifiziert ist. Die Abhängigkeit vom weltweit arg gebeutelten Tourismus war hier besonders problematisch.
Gilt das generell für die Tourismusregionen im Berggebiet oder gibt es da auch Unterschiede?
Es gibt auf jeden Fall Unterschiede. Ferienregionen, die traditionell stärker auf den Schweizer Markt ausgerichtet sind, wie Graubünden oder der Jura und das Drei-Seen-Land, konnten mit einem «Sommerhoch» die Einbussen aus dem ersten Halbjahr teilweise kompensieren. Gerade Destinationen, die in den letzten Jahren auf internationale Gäste gebaut hatten und davon zweifellos auch profitierten, erlebten hingegen zum Teil massive Einbussen.
Wie sieht es in anderen Regionen aus, die weniger vom Tourismus abhängig sind?
Vergleichsweise hart von der Krise getroffen wurden auch Regionen mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil von Grenzgängern an der Gesamtbeschäftigung wie der Jura und das Tessin oder NRP-Regionen, die stark von der Industrie abhängig sind. Im Kanton Jura leiden vor allem die Uhrenindustrie und die Metallindustrie unter dem Einbruch der Exportnachfrage.
Wie gut haben sich die Regionen in den Zielgebieten der NRP geschlagen in Anbetracht dessen, dass wir eine ausgesprochene Ausnahmesituation erlebten?
Bestmöglich. Erfreulich sind die Beispiele, in denen die Bevölkerung und die Unternehmen in der Krise mit neuen Ideen aufgewartet haben. Ich denke da an die Tourismusdestinationen, die ihre Angebote nach Möglichkeit ausgebaut und auf eine andere Klientel ausgerichtet haben. Für diejenigen Bevölkerungsgruppen, die ihre Arbeit vor allem im Homeoffice erledigten und dies vermehrt auch vom Feriendomizil im Berggebiet aus taten, waren neue Angebote wie zum Beispiel Co-Working-Spaces oder digitale Plattformen sehr willkommen. Als Beispiel für Letzteres kommt mir die Plattform «mehr-uri.ch» in den Sinn, die auch über die NRP finanziert wurde. Sie bietet Urner Geschäften die Möglichkeit, allfällige Kunden auf ihre Angebote aufmerksam zu machen.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung für die unmittelbare Zukunft?
Die wirtschaftliche Lage ist für alle herausfordernd und der Ausblick äusserst ungewiss. Die im Herbst angebrochene zweite Infektionswelle lässt die vom Tourismus geprägten Bergregionen, die einen Grossteil ihrer Einkünfte in den Wintermonaten generieren, erneut zittern. Wirtschaftlich steht uns ein schwieriger Winter bevor, nicht nur in den NRP-Regionen.
Waren Sie selbst dieses Jahr öfter in den Berggebieten, und was ist Ihnen dabei spontan aufgefallen? Was war anders als in früheren Jahren?
Ich war diesen Sommer viel in den Bergen unterwegs und habe viele Gäste aus anderen Landesteilen getroffen; ich denke, dass viele Schweizer ihre eigene Bergwelt entdeckt haben. Das könnte auch in Zukunft Ansporn sein, vermehrt Ferien in den hiesigen Bergen zu verbringen. Ich war auch beeindruckt von der Art und Weise, wie Berghütten ihre Schutzkonzepte umsetzten; hoffentlich bleibt weniger Gedränge in den Hütten auch in Zukunft ein Erfolgsrezept.
Wie weit haben nach Ihrer Einschätzung die Bemühungen der NRP in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass es in diesem schwierigen Jahr den Regionen nicht noch schlechter ergangen ist?
Die NRP setzt alles daran, die Regionen darin zu unterstützen, den Strukturwandel zu meistern. Sie stärkt gezielt die Innovation in ihren Zielgebieten und verbessert die Rahmenbedingungen für die Unternehmen. Die Neue Regionalpolitik hat durch die Unterstützung von Projekten massgeblich dazu beigetragen, dass zum Beispiel die Digitalisierung auch in den Berggebieten und im ländlichen Raum vorangetrieben wird.
Können Sie hier ein konkretes Beispiel nennen?
Zum Beispiel wurde über die NRP das Projekt «miaEngiadina» teilweise mitfinanziert, mit dem Ziel, im Unterengadin einen bevorzugten Rückzugs-, Inspirations- und Vernetzungsort aufzubauen, der Wissensarbeitende in die Region lockt. Dessen Grundpfeiler sind heute eine ausgezeichnete digitale Infrastruktur, verschiedene Co-Working-Spaces, Weiterbildungsangebote und eine Umgebung, die mit einem attraktiven Erholungs- und Freizeitangebot punktet.
Wurden im Rahmen der NRP aufgrund der Krise auch kurzfristige Massnahmen umgesetzt?
Die NRP ist nicht als Kriseninstrument konzipiert; gleichwohl konnte sie auch mit kurzfristigen Massnahmen zur Stärkung der regionalen Wirtschaft in der Krise beitragen. So haben zum Beispiel unsere Partner, die über die NRP unterstützten Regionalen Innovationssysteme (RIS), kurzfristig ihre etablierten Innovationscoachings in Krisencoachings umfunktioniert.
Wo hat die Corona-Krise Defizite in der Neuen Regionalpolitik offengelegt?
Die Neue Regionalpolitik ist, wie gesagt, nicht als Kriseninstrument konzipiert. Die Fördermittel wurden daher auch nur in Einzelfällen zur Bewältigung der Krise eingesetzt. So hat das Angebot, die Amortisation der NRP-Darlehen während der Krise zu stunden, den Projektträgern dringend benötigte Liquidität verschafft. In Krisenzeiten sind auch Instrumente, die auf eine mittel- bis langfristige Wirkung ausgelegt sind, sehr wichtig, weil sie Perspektiven skizzieren. Dabei werden die längerfristigen Herausforderungen aufgenommen und die aktuelle Projektförderung wird konsequent darauf ausgerichtet. Ich bin überzeugt, dass die NRP hinsichtlich der aktuellen Herausforderungen und wichtiger Themen wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit gut positioniert ist.
Muss das Kriterium der Krisenresistenz, das heute nicht explizit in der Regionalpolitik verankert ist, in Zukunft stärker gewichtet werden? Und wenn ja, wie?
Sie sagen richtig, «nicht explizit in der Regionalpolitik verankert ist», denn implizit spielt die Krisenresistenz bei den langfristig ausgerichteten NRP-Zielen natürlich mit. Durch Anstrengungen zur Stärkung und Diversifizierung der Wirtschaft und zur Qualifizierung der regionalen Akteure wird auch in den Zielgebieten der NRP die Voraussetzung zur erhöhten Krisenresistenz geschaffen. Bund und Kantone verfügen neben der NRP ausserdem über ein breit gefächertes Instrumentarium, das sich wesentlich besser eignet, um die Wirtschaft in Krisenzeiten gezielt zu unterstützen.
Die NRP baut ihre Förderhilfe auf dem Exportbasisansatz auf. Hat sich dieser Grundsatz in der Corona-Krise nicht als ein allzu einschränkender Faktor erwiesen?
Diese Einschätzung teile ich nicht. Der Exportbasisansatz, der einen Grundsatz der NRP bildet, geht davon aus, dass der Wohlstand und das Entwicklungspotenzial einer Region von denjenigen wirtschaftlichen Aktivitäten bestimmt werden, die Wertschöpfung durch die Exporte von Gütern und Dienstleistungen aus diesen Regionen in andere Regionen, Kantone oder auch ins Ausland generieren. So betrachtet, ist beispielsweise der Tourismus per se exportorientiert, ob es sich nun um inländische oder ausländische Gäste handelt. Er bildet deshalb auch einen der Förderschwerpunkte in der NRP. Es gibt aber durchaus auch Förderbereiche in der NRP, in denen der Exportbasisansatz als limitierender Faktor bei der Projektunterstützung wirkt.
Heisst das, der Exportbasisansatz als Grundsatz der NRP wird auf Seiten Bund hinterfragt?
Im Hinblick auf das nächste Mehrjahresprogramm 2024–2031 soll der Exportbasisansatz überprüft werden. Wir gehen diese Analyse ergebnisoffen an.
Auch die monostrukturelle Ausrichtung vieler Regionen auf den Tourismus erweist sich nun in vielen Destinationen als Klumpenrisiko: Was wäre in diesem Bereich das Rezept für die Zukunft?
Das Zauberwort heisst Diversifizierung, nur ist das leichter gesagt als getan. Der Tourismus wird in vielen Regionen in den Zielgebieten der NRP auch künftig der wichtigste Wirtschaftsfaktor bleiben. Aufgrund der Erfahrungen in diesem Jahr wird sich aber die eine oder andere Destination zum Beispiel Gedanken zur Gästestruktur machen und versuchen, diese zu diversifizieren.
Sie haben vorhin auch die Digitalisierung angesprochen. Ist sie für Regionen in den Zielgebieten der NRP eine Chance?
Eine in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen geförderte Digitalisierung könnte das Arbeiten und Wohnen im ländlichen Raum und in den Berggebieten wieder attraktiver machen. Das würde deren Wirtschaftskraft sicherlich stärken. Die «Flucht» aus den Städten während der ersten Covid-Welle hat aufgezeigt, dass die Peripherie durchaus ihren Reiz haben kann. Wie nachhaltig dieser Corona-Effekt ist, ist jedoch schwer abzuschätzen.
Wo sehen Sie weitere Alternativen und Möglichkeiten, die NRP und die damit erfassten Regionen krisenresistenter zu machen?
Wie bereits erwähnt, kann eine Region mit möglichst diversifizierter Wirtschaft die Herausforderungen einer Krise tendenziell besser bewältigen als eine Region mit einseitig strukturierter Wirtschaft. Wobei natürlich auch eine Diversifizierung innerhalb einer Branche eine grosse Wirkung haben kann, Stichwort «vom Wintertourismus zum Ganzjahrestourismus». Die NRP unterstützt dies unter anderem durch die Beratung und das Coaching von Unternehmerinnen und Unternehmern, die Innovationen in ihren Betrieben umsetzen und neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln wollen.